Christoph Martin Wieland

Aristipp und einige seiner Zeitgenossen

Politisch-philosophischer Roman: Eine Geschichte „aus dem antiken Griechenland"

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musaicumbooks@okpublishing.info
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-2543-9

Inhaltsverzeichnis

Erster Band
1. Aristipp an Kleonidas in Cyrene
2. An Aritades, seinen Vater
3. An Kleonidas
4. An Demokles von Cyrene
5. An Kleonidas
6. An Kleonidas
7. An Ebendenselben
8. An Kleonidas
9. An Kleonidas
10. An Kleonidas
11. An Demokles
12. An Ebendenselben
13. An Kleonidas
14. An Ebendenselben
15. An Kleonidas
16. An Kleombrotus von Ambracien
17. An Antisthenes zu Athen
18. Antwort des Antisthenes
19. Aristipp an Ebendenselben
20. An Kleonidas
21. An Kritobulus
22. Lais an Aristipp
23. Lais an Ebendenselben
24. Aristipp an Lais
25. Lais an Aristipp
26. Aristipp an Lais
27. Demokles an Aristipp
28. Kleonidas an Aristipp
29. Aristipp an Ariston
30. Aristipp an Lais
31. Lais an Aristipp
32. An Lais
33. Lais an Aristipp
34. Aristipp an Lais
35. An Ebendieselbe
36. Lais an Aristipp
37. Aristipp an Lais
38. An Learchus zu Korinth
39. An Ebendenselben
40. Aristagoras an Aristipp
41. Aristipp an Lais
42. Aristipp an Learchus zu Korinth
43. An Ebendenselben
44. Lais an Aristipp
45. An Lais
46. Lais an Aristipp
47. Eurybates an Aristipp
48. An Eurybates
49. An Lais
50. An Hippias
51. Hippias an Aristipp
52. An Hippias
53. Kleombrotus an Aristipp
54. An Lais
55. Lais an Aristipp
56. An Lais
57. An Kleonidas
58. Lais an Aristipp
59. Kleonidas an Aristipp
60. Hippias an Aristipp
61. Aristipp an Lais
62. Lais an Aristipp
63. Aristipp an Lais
64. Kleonidas an Aristipp
65. Aristipp an Lais
66. Lais an Aristipp
67. Aristipp an Lais
68. Lais an Aristipp
69. Aristipp an Lais
Anmerkungen zum ersten Band
Zweiter Band
1. Kleonidas an Aristipp
2. Aristipp an Kleonidas
3. Lais an Aristipp
4. Kleonidas an Aristipp
5. Aristipp an Lais
6. Aristipp an Hippias
7. Hippias an Aristipp
8. Aristipp an Kleonidas
9. Lais an Aristipp
10. Aristipp an Lais
11. Lais an Aristipp
12. Lais an Aristipp
13. Aristipp an Kleonidas
14. Kleonidas an Aristipp
15. An Kleonidas
16. Learchus an Aristipp
17. Lais an Aristipp
18. Aristipp an Lais
19. An Eurybates
20. An Kleonidas
21. Kleonidas an Aristipp
22. Aristipp an Kleonidas
23. An Lais
24. Lais an Aristipp
25. Kleonidas an Aristipp
26. Aristipp an Lais
27. An Kleonidas
28. Hippias an Aristipp
29. Aristipp an Hippias
30. Lais an Aristipp
31. Aristipp an Lais
32. Aristipp an Kleonidas
33. Aristipp an Eurybates
34. Antipater an Kleonidas
35. Lais an Aristipp
36. Learchus von Korinth an Aristipp
37. Kleonidas an Aristipp
38. Aristipp an Learchus
39. Learchus an Aristipp
40. Aristipp an Kleonidas
41. Kleonidas an Aristipp
42. Antipater an Diogenes
43. Diogenes von Sinope an Antipater
44. Lais an Diogenes von Sinope
45. Kleonidas an Antipater
46. Musarion an Lais
47. Lais an Musarion
48. Aristipp an Eurybates
49. Lais an Aristipp
50. Aristipp an Lais
51. Antipater an Aristipp
52. Aristipp an Antipater
53. Learch an Aristipp
54. Learch an Aristipp
55. Aristipp an Learch
56. Aristipp an Lais
57. Lais an Aristipp
Anmerkungen zum zweiten Band
Dritter Band
1. Aristipp an Eurybates
2. Eurybates an Aristipp
3. Aristipp an Eurybates
4. An Ebendenselben
5. An Ebendenselben
6. Fortsetzung des Vorigen
7. Fortsetzung des Vorigen
8. Fortsetzung und Beschluß des Vorigen
9. Eurybates an Aristipp
10. Speusippus an Aristipp
11. Aristipp an Speusippus
12. Aristipp an Eurybates
13. Lysanias von Athen an Droso, seine Mutter
14. Aristipp an Learchus von Korinth
15. Learch an Aristipp
16. Antipater an Diogenes
17. Diogenes an Antipater
18. Aristipp an Learchus
Anmerkungen zum dritten Band

Erster Band

Inhaltsverzeichnis

1. Aristipp an Kleonidas in Cyrene 1

Inhaltsverzeichnis

Alle Götter der beiden Elemente, denen du bei unserm Abschied mein Leben so dringend empfahlst, schienen es miteinander abgeredet zu haben, die Ueberfahrt deines Freundes nach Kreta zu begünstigen. Wir hatten, was in diesen Meeresgegenden selten ist, das schönste Wetter, den heitersten Himmel, die freundlichsten Winde; und da ich dem alten Vater Oceanus den schuldigen Tribut schon bei einer frühern Seereise bezahlt hatte, genoß ich dießmal der herrlichsten aller Anschauungen so rein und ungestört, daß mir die Stunden des ersten Tages und der ersten Hälfte einer lieblichen mondhellen Nacht zu einzelnen Augenblicken wurden.

Gleichwohl – darf ich dir's gestehen, Kleonidas? – däuchte mich's schon am Abend des zweiten Tages, als ob mir das majestätische, unendliche Einerlei unvermerkt – lange Weile zu machen anfange. Himmel und Meer, in Einen unermeßlichen Blick vereinigt, ist vielleicht das größte und erhabenste Bild, das unsre Seele fassen kann; aber nichts als Himmel und Meer, und Meer und Himmel, ist, wenigstens in die Länge, keine Sache für deinen Freund Aristipp; und ich glaube wirklich, daß mir ein kleiner Sturm, mit Donner und Blitz und übrigem Zubehör, bloß der Abwechslung wegen, willkommen gewesen wäre. Du weißt, daß außer dem nah an Kreta liegenden Inselchen Gaudos, kein einziges Eiland zwischen Cyrene und Gortyna2 zu sehen ist; überdieß wollte auch der Zufall, daß uns auf der ganzen Reise, außer drei oder vier Cyprischen Kornschiffen, und einer für Korinth befrachteten Tyrischen Pinasse, die sich so nah als möglich an der Küste hielten, kein einziges Fahrzeug begegnete, womit wir uns auf eine oder andre Art hätten unterhalten können. Es fehlte mir also, wie du siehest, nicht an Muße, so viele Grillen zu fangen als ich wollte; und wie weit es endlich mit mir gekommen seyn müsse, kannst du daraus abnehmen, daß ich stundenlang vom Verdeck in die See hinab schaute, ob nicht irgend einer von den Fischgöttern oder Götterfischen, womit ihr Dichter den Ocean bevölkert habt, aus der Tiefe herauffahren, bei unsrer Erblickung in sein krummes Horn stoßen, und die übrigen Meerwunder, seine Gespielen, zusammenrufen werde, um unsre auf den Wellen leicht dahin gleitende Barke zu umkreisen, und durch muthwillige Spiele und Neckereien aufzuhalten. Das Schauspiel, das wir ihnen gaben, ist freilich seit der Zeit, da das erste von Pallas Athene selbst erbaute Schiff3 eine Schaar kühner Göttersöhne nach Kolchis trug, um – ein goldnes Widderfell zu erobern, etwas so Alltägliches für diese Meerbewohner geworden, daß ein unbedeutendes Fahrzeug, wie das unsrige, sich nicht schmeicheln durfte großes Aufsehen bei ihnen zu erregen: aber daß in drei langen Tagen auch nicht ein einziges rosenarmiges Meermädchen mit grünen Locken und milchweißem Busen auftauchen wollte, um meine des Herumschwebens zwischen Luft und Wasser müden Blicke auf ihrer reizenden Gestalt ausruhen zu lassen, das war doch wirklich zu grausam, und bewies mir den großen Unterschied, den die Götter zwischen euch Dichtern und uns andern prosaischen Menschen machen, zu meiner nicht geringen Demüthigung. Wäre mein Freund Kleonidas hier, dacht' ich, was würd' er nicht, kraft des Vorrechts, das die Natur den Musolepten4, ihren Günstlingen, zugestanden hat, in diesen, für mich Unbegeisterten so leeren, Elementen sehen und hören? Könnt' er gleich den Nebel, der mir die unsichtbare Welt verbirgt, nicht von meinen Augen treiben, so würde ich mich doch an seinen Visionen und Entzückungen ergötzen: und im Grunde könnte mir's ja gleichviel seyn, ob ich das alles unmittelbar mit meinen eigenen Augen, oder im Zauberspiegel der seinigen sähe. Sage dir nun selbst, ob ich nicht auf dich zürnen sollte, daß du dich nicht erbitten ließest, mich auf meiner Reise wenigstens nur bis nach Olympia zu begleiten, wo dich ein Schauspiel erwartete, das auf dem ganzen Erdboden einzig in seiner Art ist, und durch kein anderes ersetzt werden kann, wenn es auch ein Triumphsaufzug Poseidons und Amphitritens mit allen ihren Tritonen und Nereiden wäre. Im ganzen Ernste, Kleonidas, ich kann dir das Unrecht kaum verzeihen, das du durch deine Unerbittlichkeit noch viel mehr an dir selbst, als an deinem Aristipp begangen hast. Wer weiß ob dir die versäumte Gelegenheit in deinem ganzen Leben wieder aufstoßen wird? und aus der Welt zu gehen, ohne die Olympischen Spiele und den Jupiter des Phidias gesehen zu haben, wahrlich, da verlohnte sich's kaum der Mühe da gewesen zu seyn! – Doch, wem sag' ich das? und wie kann ich einen Augenblick vergessen, daß du von einem Zauber gebunden bist, der dir weder Gewalt über dich selbst läßt, noch Augen für einen andern Gegenstand, als die schöne Unerbittliche, deren Blicke die Nahrung deines Lebens sind? Was ist im Himmel und auf Erden und im Reich des Oceanus, das einen von Amorn verwundeten Dichter von der süßen Quelle seiner Schmerzen entfernen könnte? Was ist dir die schimmernde Panegyris5 alles dessen was die ganze Hellas Edles, Großes und Schönes hat, ihrer auserlesensten Jünglinge, ihrer berühmtesten Männer, ihrer reizendsten Weiber, ihrer Künstler, Weisen, Staatsmänner, Feldherren und Fürsten? dir, der das alles unbemerkt bei dir vorbeiziehen lassen würde, um deine Augen auf den bloßen Schatten der schönen Lycänion zu heften, wenn du sie selbst nicht erblicken könntest?

Wundre dich nicht, Kleonidas, daß ich so viel von dem Geheimniß deines Herzens weiß, wiewohl du es, ich weiß nicht warum, so sorgfältig vor mir verborgen hast. Ein Verliebter ist so leicht zu entdecken, wie gut er sich auch zu verstecken glaubt, und die Freundschaft ist scharfsichtig. Befürchte indessen nichts von der meinigen: sie soll dir nie durch Zudringlichkeit beschwerlich fallen, aber auch nie entstehen, wenn du dich aus eigenem Drange nach ihr umsiehst. Alles was ich mir dermalen von der deinigen verspreche, ist, daß du deinen trautesten Jugendfreund nicht ganz vergessen, und ihm gern erlauben werdest, sich während einer Abwesenheit, deren Dauer noch unbestimmbar ist, von Zeit zu Zeit durch Briefe bei dir in Erinnerung zu bringen.

Widrige Winde zwingen mich einige Tage länger in Kreta zu verweilen, als meiner Geschäfte wegen nöthig war. Ich werde diese Zeit zu einem Ausflug nach Gnossus6 anwenden, wo, wie man sagt, die vorzüglichsten Merkwürdigkeiten dieser fabelhaften Insel beisammen sind. Wie dürft' ich mich auch jemals wieder in Cyrene blicken lassen, wenn ich in Kreta gewesen wäre, ohne den berüchtigten Labyrinth und – das Grab des unsterblichen Königs der Götter und Menschen gesehen zu haben?

2. An Aritades, seinen Vater

Inhaltsverzeichnis

Nach einer glücklichen und größtentheils angenehmen Reise befinde ich mich seit zehn Tagen in dem reichen, gewerbevollen, prächtigen und wollüstigen Korinth, wo ich von dem Eupatriden7 Learchus, vermöge der alten Gastfreundschaft, die seit Perianders Zeiten zwischen unsern Familien besteht, mit der gefälligsten Freundlichkeit aufgenommen wurde. Meine erste Sorge war, mich der Aufträge zu erledigen, womit mein Oheim Alketas mich an seine hiesigen Freunde beladen hatte; die zweite, die mir zum Behuf meines Aufenthalts in Griechenland mitgegebenen Waaren auf die vortheilhafteste Art zu Gelde zu machen. Die Nähe des großen Marktes zu Olympia kam mir zu dieser Absicht sehr zu Statten, und der Gewinn, den ich dabei gemacht, ist so beträchtlich, daß ich – außer der Summe, die ich für das nächste Jahr nöthig haben mag, um deinem Willen gemäß meiner Vaterstadt und der Würde, die du in unsrer Republik bekleidest, durch einen anständigen Aufwand Ehre zu machen – fünfhundert Attische Minen8 in Golde bei meinem Wirthe hinterlegt habe, über welche ich deine Befehle erwarte.

Korinth hat sich seit den vierzig Jahren, da du den Vater des Learchus besuchtest, sehr verändert. Großer und täglich zunehmender Reichthum in einem oligarchischen, äußerst mild regierten und vielleicht nur zu wenig gezügelten kleinen Freistaat, zumal in der glücklichen Lage von Korinth, die es zum Mittelpunkt des Asiatischen und Europäischen Handels bestimmt, muß, wie mich däucht, alle Vorzüge, worauf es stolz ist, und alle Uebel, die seinen Verfall ankündigen, nothwendig hervorbringen. Ich gestehe, daß die Wehklagen, die ich hier, sogar in den reichsten Häusern und von verständigen alten Männern, über die immer zunehmende Ueppigkeit, Verschwendung, Habsucht und Sittenverderbniß führen höre, mir keine hohe Meinung von der Weisheit der Korinther geben. Wo großer Reichthum ist, muß nothwendig auch große Armuth seyn, und von beiden ist sittliche Verdorbenheit die unausbleibliche Frucht. Der Reiche erlaubt sich alles, um gränzenlos genießen zu können, ohne die Quelle seines Genusses zu erschöpfen; der Arme thut, wagt und duldet alles, um reich zu werden. Daß es so und nicht anders ist, überzeugte mich schon was ich in Cyrene sah, und Korinth hat mich darin bestätiget. Alle Gesetzgeber, Philosophen und Moralisten in der Welt können den Korinthern nicht helfen: es gibt nur Ein Mittel, das sie und ihres gleichen retten könnte, und das ist gerade das einzige, wozu sie keine Lust zu haben scheinen. Sie müßten wieder so arm werden als sie vor dreihundert Jahren waren. Wer weiß aber auch, ob dieß einzige Mittel nicht schon zu spät käme?

Doch wohin versteige ich mich? Ich bin noch zu neu in der Welt, um tiefe Blicke in den Zusammenhang der Dinge gethan zu haben, und zu jung, um mich in so verwickelte Speculationen einzulassen.

Die Zeit der Olympischen Spiele naht heran, und ich rüste mich ungesäumt nach Pisa9 abzugehen, um, wo möglich, noch auf eine leidliche Art unterzukommen; denn der Zusammenfluß von Fremden soll schon unbeschreiblich groß seyn. Meine Ungeduld nach dem herrlichen Schauspiel, das mich dort erwartet, nimmt mit jedem Tage zu; auch hoffe ich bei dieser in ihrer Art einzigen Gelegenheit interessante Bekanntschaften zu machen; was am Ende doch wohl der einzige wahre Vortheil ist, den ich von Olympia zurückbringen werde.

3. An Kleonidas

Inhaltsverzeichnis

Kaum bin ich einige Tage in Korinth, und schon hat mir meine leichtsinnige Unbefangenheit ein Abenteuer zugezogen, welches vielleicht Folgen von Bedeutung hätte haben können, wenn mir der Zweck meiner Reise einen längern Aufenthalt erlaubte.

Indem ich nach Vollendung einiger Geschäfte in den Straßen dieser großen und prächtigen Stadt umher irre, fällt mir eines von den vielen öffentlichen Bädern, womit sie versehen ist, in die Augen, dessen zierliche Bauart mir Lust macht, mich darin abzuwaschen. Ich gehe hinein, und da sich nicht gleich ein Aufwärter zeigt, öffne ich auf Gerathewohl eine der Badekammern und treffe gerade den Augenblick, da eine junge Frauensperson, die sich ganz allein darin befand, im Begriff war aus dem Bade zu steigen. Dieß war das erstemal in meinem Leben, daß ich vor einem schönen Anblick zusammenfuhr; gleichwohl weiß ich nicht wie es kam, daß ich, anstatt zurückzutreten, und die Thür, die ich noch in der Hand hatte, vor mir wieder zuzuziehen, sie hinter mir zumachte und meine Verlegenheit dadurch vermehrte. Die Dame, die bei meiner Erblickung plötzlich wieder untertauchte, schien sich an meiner Bestürzung zu ergötzen. »Wie? (sagte sie lachend, mit einer Stimme, deren Silberton meine Bezauberung vollendete) fürchtest du das Schicksal Aktäons10, daß du vor Schrecken sogar zu fliehen vergissest? Da ich weder so schön wie Artemis noch eine Göttin bin, darf ich auch weder so stolz noch so unbarmherzig seyn wie sie. Du bist ein Fremder, wie ich sehe, und hast vermuthlich die Ueberschrift über der Pforte dieser Thermen11 nicht gelesen.«

Während sie dieß sprach, hatte ich, was du mein unverschämtes Gesicht zu nennen pflegst, wieder gefunden, und erwiederte ihr, von einer so zuvorkommenden Anrede aufgemuntert: da ich das Glück dieses Augenblicks bloß meiner Unwissenheit und dem Zufall zu danken habe, so wär' es in der That grausam, schöne Unbekannte, mich dafür zu bestrafen, nicht daß ich, wie Aktäon, zu viel, sondern daß ich gesehen habe was man nie genug sehen kann. Nur ein längeres Verweilen, versetzte sie mit einem einladenden Lächeln, würde dich strafbar machen; denn es ist Zeit daß ich das Bad verlasse.

Indem sie dieses sagte, traten zwei junge Sklavinnen herein, die in zierlichen Körben alles, was zum Dienste des Bades erforderlich ist, auf ihren Köpfen trugen. Sie schienen verwundert einen Unbekannten zu finden, und hefteten ungewisse fragende Blicke bald auf mich, bald auf ihre Gebieterin. Was für eine Strafe, sagte die Dame, hat dieser junge Mensch verdient, für die Verwegenheit sich in ein fräuliches Bad einzudringen, das gewiß noch von keinem männlichen Fuße betreten worden ist? – Die gelindeste wäre wohl, ihn anzuspritzen und in einen – Hasen zu verwandeln, sagte die jüngere. Das wäre eine zu milde Strafe für ein so schweres Verbrechen, versetzte die ältere; ich weiß eine andere, die dem Verbrechen angemess'ner ist. Ich würde ihn dazu verdammen, so lange bis wir unsern Dienst verrichtet haben, hier zu bleiben, und dann die Thür hinter uns zuzuschließen. Meinst du? sagte die Dame, indem sie sich erhob, und, ihre in einen dicken Wulst über der Scheitel zusammengebundenen Locken auflösend, von einer Fülle bis unter die Knie herabfallender gelber Haare, wie von einem goldenen Mantel, umflossen, aus dem Wasser stieg, und sich, eben so unbefangen als ob sie mit ihren Mägden allein wäre, abtrocknen und mit wohlriechenden Oelen einreiben ließ. Und mich, schöne Gebieterin, sagte dein unverschämter Freund mit der ganzen edeln Dreistigkeit, die du an ihm beneidest, mich, den du in Einem Augenblick zu deinem Sklaven gemacht hast, wolltest du hier müßig stehen lassen? Erlaube mir, deinen Nymphen zu zeigen, daß ich geschickter bin als sie mir zutrauen; und indem ich dieß sagte, machte ich eine Bewegung, als ob ich einer der Mägde ein Tuch von der schneeweißesten Wolle, womit sie ihre Gebieterin abzureiben begriffen war, aus der Hand ziehen wollte. Aber die Dame warf mich mit einem zürnenden Blick auf einmal wieder in die Schranken der Ehrfurcht zurück, die der Schönheit und dem Stande, von dem sie zu seyn schien, gebühren. Wenn du mein Sklave bist, sagte sie wieder lächelnd, sobald sie mich in gehöriger Entfernung sah, so erwarte schweigend meine Befehle und rühre dich nicht! Ich gehorchte wie einem wohlerzogenen sittsamen Jüngling zusteht, und erhielt dafür die zweideutige Belohnung, daß man die Mysterien des Bades mit der größten Gelassenheit vollendete, ohne sich um meine Gegenwart, oder wie mir dabei zu Muthe seyn möchte, im geringsten zu bekümmern.

Als sie wieder angekleidet war, heftete die Dame im Weggehen einen ernsten Blick auf mich und sagte: vergiß nicht, daß es dem Ixion12 übel bekam, sich kleiner Gunstbezeugungen der Götterkönigin zu rühmen! – und ohne meine Antwort zu erwarten, stieg sie in eine prächtige Sänfte, die von vier Sklaven schnell davon getragen wurde. Mir war, als ob ich aus einem Traum erwachte. Natürlich durft' ich es nicht wagen, ihr sogleich zu folgen; und wie ich mich wieder aus dem Badhause unbemerkt wegschleichen wollte, wurde ich von einem Aufwärter angehalten, der sich, nicht ohne Mühe, durch eine Handvoll neugeprägter Drachmen endlich überzeugen ließ, daß ich ein Fremder, und bloß aus Unwissenheit seit wenig Augenblicken hierher gerathen sey. Als ich mich wieder frei sah, war es zu spät, der Spur meiner Unbekannten nachzugehen, und ich kehrte, ungewiß was ich von meinem Abenteuer denken sollte, nach Hause. Die Dame schien nicht über achtzehn Jahre alt zu seyn, und ihre Gestalt hätte das Glück eines Alkamenes13 machen können, wenn ihn der Zufall so wie mich begünstigt hätte. War sie eine Hetäre14 von der ersten Classe, die zu Korinth unter Aphroditens Schutz einer Freiheit und Achtung genießen, welche ihnen in keiner andern Griechischen Stadt zugestanden werden? Oder war es eine junge Frau von Stande, die im Bewußtseyn ihrer Reizungen sich eine muthwillige Lust daraus machte, einen Unbekannten für seinen jugendlichen Uebermuth auf eine neue, wollüstig peinliche Art büßen zu lassen? Das letztere schien mir, allen Umständen nach, das Wahrscheinlichste. Indessen trieb mich doch, ich weiß nicht welche Unruhe, an diesem Abend in allen öffentlichen Spaziergängen herum, wo die Hetären der höhern Ordnung sich gewöhnlich, von ihren Liebhabern umschwärmt, oder von einem Zuge geputzter Mägde und Eunuchen begleitet, mit vielem Prunke zu zeigen pflegen. Aber ich sah mich vergebens unter ihnen nach meiner Anadyomene15 um, und eine schlaflose Nacht war alles, was ich von meinen Nachforschungen davon trug. Am folgenden Morgen, wie ich vom Lechäischen Hafen zurückkehrte, glaubte ich eine von den beiden Sklavinnen aus einem kleinen Myrtengehölz am Wege auf mich zukommen zu sehen.

Wir erkannten einander ersten Blicks; nur zeigte sich's, daß die Korintherin meinen Namen besser ausgekundschaftet hatte als ich den ihrigen. Sie grüßte mich beim Namen, und erkundigte sich lachend, wie dem unbefugten Epopten16 der Vorwitz, zu sehen was er nicht sollte, bekommen sey? Wir wissen, wie du siehest, alle deine Gänge, fuhr sie fort, und meine Gebieterin, welcher nicht unbekannt ist, daß du morgen abzureisen gedenkest, schickt mich zu dir, ein kleines Denkzeichen des gestrigen Zufalls von ihr anzunehmen. Es war ein zierlich geflochtnes Deckelkörbchen von Silberdrath, worin eine ihrer goldgelben Haarlocken, mit einer Schnur von kleinen Perlen umwunden, lag. Du kannst dir leicht vorstellen, Kleonidas, daß ich alle meine Wohlredenheit aufgeboten haben werde, den Stand und Namen der Dame zu erfahren, und die dienstbare Iris17 zu gewinnen, daß sie mir eine Gelegenheit auswirken möchte, ihr meinen Dank in eigner Person zu Füßen zu legen. Ich ging so weit, daß ich bei allen Liebesgöttern betheuerte, meine Reise nach Olympia einzustellen, wenn ich hoffen könnte, einer so großen Gnade gewürdiget zu werden. Aber die lose Dirne spottete meiner vorgeblichen Leidenschaft, mit der Versicherung, daß man sich nur desto mehr vor mir hüten würde, wenn sie ungeheuchelt wäre, und daß alle meine Bemühungen, ihre Gebieterin wieder zu sehen, vergeblich seyn würden. Alles was ich mit vielem Bitten und einem kleinen Beutel voll Dariken18 von ihr erhielt, war ein Versprechen, daß sie sich diesen Abend an einem gewissen Orte einfinden wollte, um eine unbedeutende Kleinigkeit für ihre Dame in Empfang zu nehmen, wodurch ich auch mein Andenken bei ihr lebendig zu erhalten wünschte. Sie sagte mir's zu, aber ich erwartete sie vergebens.

Was dünkt dich von dieser närrischen Begebenheit, Kleonidas? – Für mich ist sie denn doch nicht ganz so unbedeutend als sie scheint; und da ein weiser Mann alles in seinen Nutzen zu verwandeln wissen soll, so denke ich einen zweifachen Vortheil aus ihr zu ziehen. Der erste ist, daß ich mich vor der Hand ziemlich sicher halten kann, daß die Erinnerung an meine reizende Unbekannte nur sehr wenigen Schönen gestatten wird, einigen Eindruck auf mich zu machen; der zweite, daß ich, vorausgesetzt ich könne das, was ich bei dieser Gelegenheit erfahren habe, als einen Maßstab meiner Empfänglichkeit für leidenschaftliche Liebe annehmen, große Ursache habe zu hoffen, daß ich weder meinen Verstand noch meine Freiheit jemals durch ein schönes Weib verlieren werde.

4. An Demokles von Cyrene

Inhaltsverzeichnis

Griechenland zählt nun seit dem ersten Neumond nach der letzten Sommer-Sonnenwende das erste Jahr seiner vierundneunzigsten Olympiade; die Spiele sind geendigt, und ich habe gesehen – was zu sehen war. In der That große, auffallende, prachtvolle, und, nach der gewöhnlichen Schätzung der menschlichen Dinge, sehenswürdige Schauspiele! Aber, soll ich dir davon sprechen wie ich denke, Demokles? – Du hast oft mit mir über meine (wie ich immer mehr zu glauben Ursache finde) angeborne Maxime »nichts zu bewundern«19 gestritten; und wenn wir am Ende, wie gewöhnlich, jeder mit seiner eigenen Meinung davon gingen, söhntest du dich immer durch ein wohlwollendes Mitleiden mit mir aus, mich durch eine so gleichgültige Gemüthsstimmung des hohen Grades von Vergnügen entbehren zu sehen, welches, wie du sagtest, den gefühlvollen Seelen zu Theil werde, die gerade durch den Affect der Bewunderung zu erkennen geben, daß sie bei großen und schönen Gegenständen ungleich mehr empfinden, als derjenige, der sie ansehen kann, ohne aus seiner gewöhnlichen Fassung gesetzt zu werden. Es mag seyn, daß meine Maxime mich öfters eines lebhaftern Genusses beraubt: aber dafür gewährt sie mir auch den Vortheil, mich selten in meiner Erwartung getäuscht zu finden. Auch begegnet mir öfters, daß ich anstatt mit der Menge zu bewundern, mich (mit deiner Erlaubniß) nicht wenig verwundere, wie die Leute so gutmüthig seyn mögen, über Dinge in Entzückung zu gerathen, die, bei kaltem Blute aufs gelindeste beurtheilt, nur lächerlich sind, und bei strengerer Prüfung leicht in einem noch ungünstigern Licht erscheinen könnten.

Nach dieser Vorrede bist du vermuthlich schon auf das Geständniß gefaßt, daß dieß beim Anschauen der weltberühmten Kampfspiele zu Olympia ganz eigentlich mein Fall war, und daß ich, während alles um mich her in Entzückung zerfloß, mich in aller Stille nicht genug verwundern konnte, wie ein Volk, das sich selbst für das sittigste und aufgeklärteste des ganzen Erdbodens hält, und von andern dafür erkannt wird, vor einer so großen Menge ausländischer Zuschauer sich nicht schämte, einen so hohen Werth auf den Sieg in so kindischen oder barbarischen Wettkämpfen zu legen, aus den dazu angesetzten Tagen sein höchstes Nationalfest zu machen, und sogar seine Zeitrechnung nach ihrer Feier zu bestimmen. Käme, dacht' ich, ein Perser oder Skythe, der noch nichts von diesem Institut gehört hätte, von ungefähr dazu, wenn im Angesicht einer unzählbaren Menge Volks, in einem Ehrfurcht gebietenden Kreise der edelsten und angesehensten Männer der Nation, nach einem dem Könige der Götter dargebrachten feierlichen Opfer, die Sieger öffentlich erklärt und gekrönt werden, und sähe das stolze Selbstbewußtseyn, womit sie, von ihren wonnetrunkenen Verwandten, Freunden und Mitbürgern umdrängt, und vom allgemeinen Jubel der Zuschauer bewillkommt, sich den Kampfrichtern nahen, um die Krone zu empfangen: müßt' er nicht glauben, diese Menschen könnten nichts Geringeres gethan haben, als ganz Griechenland durch einen Marathonischen20 oder Salaminischen Sieg vom Untergang gerettet, oder wenigstens jeder um seine eigene Vaterstadt sich durch irgend eine außerordentliche That unendlich verdient gemacht zu haben? Aber wie erstaunt und betroffen würde dann ein solcher dastehn, wenn er hörte daß es weiter nichts ist, als daß der eine dieser gekrönten Helden am besten laufen kann, ein anderer die schnellsten Rennpferde und den geschicktesten Kutscher hat, ein dritter der größte Meister im Faustkampf oder in der edeln Kunst seinen Gegner zu Boden zu ringen ist? Wahrlich dieser Perser oder Skythe, wiewohl die Griechen seiner Nation die Ehre erweisen sie nur für Halbmenschen anzusehen, würde sich schwerlich enthalten können, das widersinnische Schauspiel für die Wirkung irgend einer zürnenden Gottheit zu halten, und zu glauben, die ganze Nation müßte entweder von einem allgemeinen Wahnsinn befallen, oder, trotz ihrer übrigen Vorzüge, zu einer ewigen Kindheit der Vernunft verdammt seyn. Daß ein schnellfüßiger Jüngling, ein gewandter Wagenlenker, ein nerviger Kerl der den Kampfhandschuh am kräftigsten zu gebrauchen wußte, oder um den stärksten Gegner zu überwältigen, keiner andern Waffe als seiner eigenen eisernen Faust bedurfte, in den Zeiten, da der Thebanische Hercules diese feierlichen Spiele gestiftet haben soll, ein wichtiger Mann für seine kleine Vaterstadt war, ist natürlich, und aus dem rohen Zustand einer von ihrer ursprünglichen Wildheit noch langsam sich losarbeitenden Horde leicht zu erklären. Aber daß ein so gebildetes Volk, wie die Griechen dermalen sind, bei so gänzlich veränderter Lage der Sachen, noch immer ein so großes Aufheben von Geschicklichkeiten macht, die entweder ganz unbrauchbar, oder doch verhältnißmäßig von sehr geringem Nutzen geworden sind; daß der Mensch, der zu Olympia21 öffentlich dargethan hat, daß er den stiermäßigsten Nacken, die stärksten Brustknochen und die derbeste Faust seiner Zeit besitze, oder mit jedem Hasen in die Wette laufen könne, für die höchste Zierde seiner Vaterstadt gehalten, im Triumph eingehohlt, über alle seine Mitbürger hinaufgesetzt, und als ein Wohlthäter seines Volks öffentlich unterhalten, geehrt und nur nicht gar vergöttert wird, wiewohl die Stärke seiner Muskeln und Knochen, oder die Behendigkeit seiner Füße vielleicht das Einzige ist, was ihn von dem rohesten und verdienstlosesten seiner Mitbürger unterscheidet, – das ist doch wirklich so ungereimt, daß man es kaum seinen eigenen Augen zu glauben wagt.

Damit ich mich durch diesen verwegenen Tadel eines Instituts22, das allen Hellenen so ehrwürdig und heilig ist, nicht selbst in den Verdacht einer Anmaßung bei dir setze, die mich sehr übel kleiden würde, will ich dir nicht verbergen, daß ich meinem Gefühl vielleicht weniger getraut hätte, wenn ich nicht durch das Urtheil eines weiseren Mannes als ich, mit welchem der Zufall mich bekannt machte, in dem meinigen bestärkt worden wäre. Er schien ein Mann von funfzig Jahren zu seyn, und sein Aeußerliches zeigte eben nichts, was unter einer so großen Menge von Menschen die Aufmerksamkeit auf ihn ziehen konnte. Er war nach Griechischer Sitte äußerst einfach, nach unsrer Cyrenischen beinahe ärmlich gekleidet, unbeschuht, von etwas finsterem Gesicht, lang, hager, und mit einem dünnhaarigen Barte geziert, der, wo nicht ihm selbst, wenigstens seinem Schatten so ziemlich die tragikomische Miene eines – alten Ziegenbocks gab. Bei dem allen hatte der Mann etwas in seiner Gesichtsbildung, das mir Zutrauen zu ihm einflößte, und den Wunsch erregte bekannter mit ihm zu werden. Es traf sich, daß wir beide auf der Anhöhe, von welcher wir den Wettkämpfern zusahen, so nahe beisammen saßen, daß es nur von ihm abhing, jeden Eindruck, den diese Schauspiele auf mich machten, bemerken zu können. Er selbst zeigte bei allem was zu sehen war immer eben dieselbe Miene, die weder merkliches Wohlgefallen noch Mißbelieben andeutete; nur zuweilen, wenn die Zuschauer durch irgend eine außerordentliche Probe von Stärke oder Geschicklichkeit zum Ausbruch einer gar zu unmäßigen Bewunderung und Freude hingerissen wurden, verrieth er durch ein leises Zucken der Lippen, daß das allgemeine Gefühl nicht das seinige war. Ich meines Orts überließ mich eine Zeit lang dem Vergnügen, welches der Anblick so vieler schönen Jünglinge, denen die Begierde des Sieges Schwingen an die Knöchel setzte, die Menge auserlesener Rennpferde und prächtiger Wagen, die Geschicklichkeit der Wagenführer, und mehr als alles andere, die unerschöpfliche Kraft und Gewandtheit, womit die Ringer durch die gelehrteste Fertigkeit in ihrer Kunst den entscheidenden Augenblick aufzuhalten strebten, einem jungen Menschen, der das alles zum erstenmale sah, natürlicherweise machen mußten. Sogar das grausenhafte Schauspiel, das uns gegen die Mittagsstunde, während die Sonne über unsrer Scheitel brannte, die kaltblütige Wuth der Faustkämpfer gab, und der furchtbare Handschuh, womit einige Paare neuer Eryxen23 und Herculessen einander zermalmten, erfüllte mich anfangs mit einer seltsamen Art von schauderlichem tragischen Vergnügen, indem es mich in die alte Heldenzeit zu versetzen und mir die Erzählungen der Dichter von den unglaublichsten Thaten der Göttersöhne wahr zu machen schien. Ich wähnte eine Art unzerstörbarer titanischer Naturen vor mir zu sehen, die nur spielweise so grimmig auf einander losgingen, und an welchen die Wunden, die sie einander schlugen, sich ohne Zweifel eben so schnell und narbenlos wieder schließen würden, als die Luft, die durch ihre gewaltigen Streiche zerrissen wurde. Aber die Täuschung war von kurzer Dauer; und als ich, nach einem kaum viertelstündigen Kampf, einen der Athleten, der kurz zuvor die Schönheit eines Paris oder Nireus24 mit der Stärke eines Milanion25 vereinigt darstellte, und einer Bildsäule des Apollo selbst zum Modell hätte dienen können, für todt aus den Schranken hinaus tragen sah, so übel zugerichtet, daß keine Spur seiner vorigen Bildung in seinem zertrümmerten Gesicht und an seinem ganzen, zu einem unförmlichen Klumpen zusammengeschlagenen Leibe zu erkennen war, überwältigte mich der gräßliche Anblick dermaßen, daß ich mich nicht zurückhalten konnte, meinem Abscheu durch einen lauten Ausruf Luft zu machen, der zu meinem Glücke, über dem Getümmel und Jubelgeschrei der Zuschauer, von niemand als dem besagten Fremden gehört wurde. Ich entfernte mich unverzüglich von dem Schauplatz der gräßlichen Scene, und zog mich in die einsamsten Gänge des geheiligten Hains zurück, der den Tempel des Olympischen Jupiter umgibt. Nicht lange so sah ich den Fremden mit dem Ziegenbart auf mich zukommen, von einem stattlichen Manne begleitet, der (wie ich in der Folge vernahm) eine ansehnliche Würde zu Elea bekleidet. Sie erlaubten mir, mich zu ihnen zu gesellen, und an dem Gespräche, worin sie begriffen waren, Theil zu nehmen. Es betraf, wie natürlich, die Spiele, von deren Anschauen beide, dem Ansehen nach sehr gesättiget, zurückkamen. Mein Fremder machte sich kein Bedenken, aus Gelegenheit derselben ein strenges Urtheil über die Weisheit seiner Landsleute zu fällen. Wenn, sagte er, die Absicht dieses alle vier Jahre wiederkehrenden Nationalfestes ist, durch die Wettkämpfe, die man den Zuschauern zum Besten gibt, und die dazu vorbereitenden Leibesübungen, die Griechische Jugend zu tüchtigen Vertheidigern des Vaterlandes zu bilden, so kann nichts zweckwidriger seyn als diese Spiele. Die Art der Waffen, womit der Krieg heutzutage geführt wird, und die ganze Kriegskunst überhaupt, ist von dem, was in den Zeiten des Trojanischen Krieges üblich und nützlich war, so verschieden, daß dem Staate mit ganzen Heerschaaren zu Olympia und Delphi gekrönter Läufer und Ringer wenig gedient wäre. Wenn sie noch schwerbewaffnet in die Wette liefen, möchte eine solche Fertigkeit allenfalls bei einem Eilmarsch oder plötzlichen Rückzug von einigem Nutzen seyn: aber so leicht bekleidet wie unsre schnellfüßigen Achillen sind, können sie, wo es Ernst gilt, höchstens als Eilboten gebraucht werden, oder möchten, wenn man sie auch nur bei den leichten Truppen anstellen wollte, der Versuchung selten widerstehen, in gefährlichen Fällen vor allen Dingen ihre eigene Person in Sicherheit zu bringen. Was im Kriege mit nackten Ringern anzufangen wäre, ist schwer zu sehen; und wofern auch die Faustkämpfer durch ihr gigantisches Ansehen und den raschgeschwungenen Cestus26 dem Feinde Schrecken einjagen könnten, so sind ihrer doch in der ganzen Hellas viel zu wenige, als daß man sich eine große Wirkung von ihrem Gebrauch versprechen dürfte. Und doch, wär' es nur der geringe Nutzen, den das Griechische Gemeinwesen von diesen Spielen zieht, so möchten sie immer ihrem vergötterten Stifter zu Ehren beibehalten werden: aber der positive Schaden, den sie thun, scheint mir wichtig genug, um von den Vorstehern unsrer Republiken ernstlich beherzigt zu werden. Nichts davon zu sagen, daß der leidenschaftliche und bis zur Tollheit getriebene Wetteifer unsrer Jünglinge, wer die meisten, schönsten und behendesten Rennpferde zu halten vermöge, schon viele angesehene wohlbegüterte Häuser zu Grunde gerichtet hat, was für Fortschritte in der Cultur kann man von einem Volke erwarten, das sich aus so wilden und lebensgefährlichen Leibesübungen ein Spiel macht, das die Wuth, womit Gegen kämpfer, die sich zuvor nie gesehen, geschweige beleidigt haben, auf einander losgehen, durch die Lebhaftigkeit seiner Theilnehmung noch mehr anfeuert, und an einem so barbarischen Schauspiel, wie wir so eben sahen, die angenehmste Augenweide findet? Mit welcher Stirne können wir auf unsre wirklichen und vermeinten Vorzüge so stolzen Griechen alle übrigen Erdebewohner Barbaren27 nennen, so lange es eine unsrer größten Glückseligkeiten ist, alle vier Jahre zusammenzukommen, um uns, zu gemeinschaftlicher Belustigung, in die Zeiten zurückzusetzen, da unsre eigenen Vorfahren wenig besser als rohe Waldmenschen, Räuber und Abenteurer waren, und an Humanität und Sittigkeit weit hinter den meisten Asiatischen Völkern zurückstanden? Wie übel ziemt es uns, die an eine edlere Denkart und Geschmack am Schönen und Erhabenen Anspruch machen, auf die Kunst einander die Glieder zu verrenken, oder uns mit geballten Fäusten so lange herumzuschlagen, bis den Kämpfern kaum noch eine Spur der menschlichen Gestalt übrig bleibt, einen so hohen Werth zu setzen, und rohe Athleten28 ihrer herkulischen Schultern und eisernen Knochen wegen mit Ehrenbezeugungen zu überschütten, welche die reinste und vollkommenste Tugend selbst nicht von uns erhalten kann? – Ich gestehe unverhohlen (setzte mein Unbekannter mit einem Feuer hinzu, das ich seiner kalten Miene nicht zugetraut hatte), diese Betrachtung hat mich gegen die allgemeine Freude der zahllosen Menge, die mich diesen Morgen umgab, unempfindlich gemacht, und bei Schauspielen, die so laut gegen das sittliche Gefühl und die Humanität meiner Landesleute zeugen, sogar mit Unmuth und Traurigkeit erfüllt. Du bist ein Philosoph, wie ich sehe, sagte der Mann von Elea mit einem Lächeln, dessen leisen Spott er durch den sanften Ton seiner Worte mildern zu wollen schien. Wenn ich es auch wäre, versetzte jener, die Wahrheit dessen, was ich gesagt habe, würde dadurch weder gewinnen noch verlieren. Du magst in der Hauptsache Recht haben, erwiederte der andere. Wir Eleer sehen die Sache freilich von einer gefälligern Seite; denn wir machen kein Geheimniß daraus, daß wir den Wohlstand unsrer Republik dem Institut, gegen welches du dich so streng erklärst, größten Theils zu danken haben. Du hast gesehen, was für eine glänzende Panegyris aus allen Griechischen und benachbarten Ländern durch diese Spiele nach Pisa gezogen wird. Glaubst du, das Gedränge von unzählbaren Menschen aus allen Ständen und Classen würde eben so groß seyn, wenn an die Stelle dieser Kampfspiele ein Wettstreit um den Vorzug an Weisheit und Tugend angeordnet, und die Kronen, die wir jetzt den besten Rennern, Ringern und Pankratiasten29 zuerkennen, denen aufgesetzt würden, die sich etwa durch die schönste Handlung der Menschlichkeit, Großmuth und Selbstüberwindung ausgezeichnet hätten? Desto schlimmer, sagte mein Unbekannter; das ist es eben was ich beklage! So lange dieses, den Eleern auf Kosten der übrigen Griechen so vortheilhafte Institut dauern wird, sehe ich nicht, wie eine richtigere Schätzung des Werthes der Menschen unter uns Platz greifen, und der Vorzug der geistigen und sittlichen Vollkommenheiten vor den körperlichen und mechanischen allgemeiner gefühlt und anerkannt werden könnte.

Laß uns die Welt nehmen wie sie ist, erwiederte der Eleer, denn sie ist doch wohl – wie sie seyn kann. Weisheit und Tugend belohnen sich selbst so reichlich, daß sie des Beifalls der Menge und der Kronen, die zu Olympia ausgetheilt werden, leicht entbehren. Wer weiß, ob sie durch eine so öffentliche und geräuschvolle Auszeichnung nicht an innerm Werthe verlieren würden? Wenigstens zweifle ich sehr, daß die stillen unscheinbaren Tugenden, welche gewöhnlich die reinsten sind, sich gern aus ihrer Verborgenheit herausziehen und einer so großen vermischten Menge zur Schau ausstellen lassen würden. Uebrigens scheint mir die lebhafte Theilnehmung, womit unsre Panegyrischen Spiele angesehen werden, so wenig gegen das sittliche Gefühl unsrer Nation zu beweisen, daß ich mir eher das Gegentheil zu behaupten getraue. Die Kampfspiele zu Olympia, Delphi,30 Nemea und Korinth haben eben darum ein so lebhaftes und eigenes Interesse für unsre Nation, weil sie uns, gleichsam durch den Augenschein, so wie durch die Siegesgesänge Pindars und seiner Nacheiferer, in die fabelhaften Zeiten jener Heroen versetzen, deren Andenken uns aus so vielen Ursachen heilig ist, die unsre meisten Städte gegründet haben, und von welchen unsre edelsten Geschlechter ihren Ursprung herleiten. Aber auch ohne diese Beziehung haben wir noch Ursache genug, sie als eines unsrer schönsten und wohlthätigsten Nationalinstitute anzusehen. Kein anderes vereiniget eine so große Menge Griechen aus allen Städten und Landschaften der ganzen Hellas an Einem Orte zu gemeinschaftlichen Feierlichkeiten, Opfern, Gastmählern und Ergötzungen. Während ihrer Feier hören alle Feindseligkeiten auf, in welche die uralte Antipathie der Dorier und Ionier31 nur zu oft ausbricht. Wir vergessen in diesen halcyonischen Tagen aller Beleidigungen, aller Eifersucht und Rache, um uns bloß unsers gemeinsamen Ursprungs zu erinnern, und die Bande von neuem zusammenzuziehen, womit gemeinschaftliche Götter und Tempel, eine gemeinschaftliche Sprache und das große Interesse unsre Unabhängigkeit gegen auswärtige Mächte zu behaupten, die in so viele Stämme und Zweige verbreitete Nachkommenschaft Deukalions32 zu einem einzigen Volke verbunden haben, das durch seine Cultur das erste in der Welt ist, und durch Eintracht unüberwindlich und unvergänglich dem ganzen Erdboden Gesetze geben würde.

Ich verschone dich, lieber Demokles, mit einer Menge anderer schöner Sprüche, welche der begeisterte Eleer mit einem großen Erguß von Redseligkeit hervorströmte, um dem kopfschüttelnden Philosophen eine höhere Meinung von den Olympischen Spielen abzunöthigen. Es versteht sich, daß jeder auf seiner eigenen beharrte; so wie ohne Zweifel diese Spiele selbst, allen Veränderungen der Zeiten und allen Einsprüchen der Philosophie zum Trotz, ihre ursprüngliche Form und Einrichtung so lange Jupiter im Besitze seines Tempels zu Olympia bleibt, behalten werden, wie leicht es auch wäre, ihnen eine gemeinnützlichere und einem gebildeten Volk anständigere zu geben. Wir kamen indessen, da der Eleer ein sehr höflicher Mann war, noch ganz friedlich aus einander; denn die Höflichkeit hat dieß Eigene, daß sie es dem andern unvermerkt unmöglich macht, so grob zu seyn als er wohl Lust hätte. Doch muß ich es auch meinem bocksbärtigen Freunde nachrühmen, daß er sich beim Abschied mit mehr Urbanität betrug, als ich von seiner Freimüthigkeit erwartet hatte. Dieser Umstand und seine Mundart bestärkten mich in der Vermuthung daß er ein Athener sey; und so fand sich's auch bei näherer Erkundigung. Man sagte mir, er nenne sich Antisthenes, und sey einer der vertrautesten Freunde des berühmten Sokrates Sophroniskus Sohn, den der Delphische Gott33, oder (wenn du lieber willst) der eifrigste seiner Anhänger, Chärephon, durch den gelehrigen Mund der Pythia, für den weisesten aller Menschen erklärt haben soll. Da mein Verlangen diesen merkwürdigen Mann persönlich zu kennen und durch seinen Umgang, wo möglich, selbst ein wenig weise zu werden, einer der ersten Zwecke meiner freiwilligen Verbannung aus dem schönen und wollüstigen Cyrene war, so kannst du leicht urtheilen, daß ich mich auf diese Nachricht um so eifriger um die Gunst einer Person bewarb, die mir zu Beförderung meiner Absicht gute Dienste thun konnte. Ohne mir diese Bewerbung durch ein zuvorkommendes Wesen zu erleichtern, schien er doch eben so wenig gesonnen, sie gänzlich abzuweisen. Von Sokrates sprach er mit seiner gewöhnlichen Kälte, als von einem Manne, mit dem er seit vielen Jahren täglich umgegangen, und den er als seinen ersten, wo nicht einzigen Freund betrachte. »Wenn ich einen bessern als er gekannt hätte, sagte er, würde ich mich zu diesem gehalten haben; aber ich kenne keinen bessern, und, insofern diese Benennung einem Menschen zukommen kann, keinen weisern Mann als Sokrates. Er hat Eigenheiten, die man ihm lassen muß, und die, weil sie ihm wohl anstehen, darum nicht einen jeden kleiden würden: aber wenige Menschen sind so gut, daß sie nicht noch besser werden könnten, wofern sie ihn immer und in allen Verhältnissen und Vorfällen des Lebens zum Muster nähmen.«

Da ich von Antisthenes vernahm, daß er geraden Weges nach Athen zurückzukehren gedenke, bat ich ihn um Erlaubniß ihn begleiten zu dürfen, und äußerte den Wunsch, daß er mich bei Sokrates einführen möchte. »Ein guter Reisegefährte ist der halbe Weg, sagte er: ich nehme dein Anerbieten willig an; aber bei Sokrates bedarfst du keines Einführers. Er liebt junge Leute deiner Art, und du wirst den alten Glatzkopf gewöhnlich von einigen unsrer schönsten Jünglinge umgeben finden. Seine Absicht ist ihm mit Xenophon, Kritobulus34, Plato und einigen andern so gut gelungen, daß ein Alcibiades und Kritias35, die ihm verunglückten, ihn nicht abschrecken konnten, es immer wieder mit andern zu versuchen. Ein Jüngling guter Art bedarf bei ihm weder einer Empfehlung noch einer besondern Aufmerksamkeit sich ihm angenehm zu machen; es wird also bloß auf dich selbst ankommen, wie viel oder wenig du dir seinen Umgang zu Nutze machen willst. Die Sonne strahlt gleich warm auf ein Stück Gold und auf ein Stück Blei; nur faßt das eine mehr Wärme, und behält sie länger als das andere.«

Wir werden unsre Reise über Orchomenos, Korinth, Megara und Eleusis machen; weil Antisthenes zu seinem ehrwürdigen alten Freund zurückeilt, welchen er in der trübseligen und verzweifelten Lage, worin seine Vaterstadt sich seit einiger Zeit befindet, nicht länger verlassen will. Denn es sind schon mehr als acht Monate verstrichen, seit er von Athen abgegangen ist, um die Angelegenheiten eines zu Megalopolis verstorbenen Anverwandten zum Besten seiner Hinterlassenen in Ordnung zu bringen.

Die Nachrichten von den abwechselnden Erfolgen der seit einigen Jahren zwischen den beiden Hauptstädten Griechenlands wieder ausgebrochnen Befehdungen kommen gewöhnlich so spät zu euch, daß du vielleicht erst aus diesem Briefe (dessen Abgang noch sehr ungewiß ist) erfährst, daß der Spartanische Feldherr Lysander, nach einem bei Aigos Potamos am Eingang des Hellesponts erhaltnen entscheidenden Sieg, die stolze Minervenstadt selbst eingeschlossen, und durch Hunger und Verzweiflung endlich gezwungen hat, sich auf Bedingungen, denen ihre Väter den Tod in jeder Gestalt vorgezogen haben würden, von dem schrecklichen Schicksal, welches sie vor eilf Jahren über die unglücklichen Melier3637