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Herausgegeben von
Hannes Androsch Heinz Fischer Bernhard Ecker

1848 1918 2018

8 Wendepunkte der Weltgeschichte

Mit Beiträgen von
Alexandra Föderl-Schmid, Herbert Lackner, Anton Pelinka,
Bettina Poller, Hans Werner Scheidl, Helene Schuberth,
Rudolf Taschner und den Herausgebern

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Heinz Fischer

Prolog

1848 Hans Werner Scheidl

Epochenwechsel

1908 Bettina Poller

Die Wurzel des Übels. Von der bosnischen Annexionskrise bis zum Zerfall Jugoslawiens

1918 Anton Pelinka

Von Brest-Litowsk zur Republik

1938 Rudolf Taschner

Zwei bahnbrechende Erfindungen

1968 Herbert Lackner

Das unterschätzte Wendejahr

1978 Bernhard Ecker

Chinas Aufbruch in den Westen

2008 Helene Schuberth

Lehman oder: Wiederholt sich die Geschichte doch?

2018 Alexandra Föderl-Schmid

Big Bang durch Big Data

Hannes Androsch

Epilog

Literaturverzeichnis

Autorinnen und Autoren

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Prolog

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Heinz Fischer

Der 100. Geburtstag einer Institution, erst recht eines Staates – im vorliegenden Fall der 100. Geburtstag der Republik Österreich –, ist zweifellos ein Ereignis, das in angemessener Weise gefeiert und gewürdigt werden soll. Insbesondere dann, wenn sich der betreffende Staat nach anfänglichen Irrungen und Wirrungen – zu denen auch Selbstzweifel, Diktatur und sogar Existenzverlust zählten – letztlich zu einem stabilen, demokratischen und anerkannten Mitglied der internationalen Gemeinschaft entwickelt hat.

Aber es geht nicht nur um Feiern und Würdigen: Es geht auch um eine kritische Analyse der 100-jährigen Geschichte, um Selbstreflexion, um das Erkennen von Ursachen und Wirkungen, um die Beschreibung historischer Wendepunkte und um eine Einordnung in internationale Zusammenhänge; es geht mit einem Wort um das Durchleuchten und Beleuchten jenes verschlungenen Weges, der uns von der Geburtsstunde der zunächst vielfach ungeliebten Republik („der Staat, den keiner wollte“) in jene Zeit führt, wo Österreich rund um seinen 100. Geburtstag den Vorsitz in der Europäischen Union innehaben wird.

Als die wichtigsten dieser Stationen und Wendepunkte in der Geschichte seit 1918 werden meistens die Jahre 1920 (Annahme der Österreichischen Bundesverfassung, aber auch Ende der Zusammenarbeit der beiden großen Parteien in einer Regierungskoalition), 1933/34 (Verfassungsbruch, Ausschaltung des Parlaments, Bürgerkrieg), 1938 (der sogenannte „Anschluss“ an Hitler-Deutschland), 1945 (das Ende des Krieges und der nationalsozialistischen Diktatur), 1955 (Abschluss des Staatsvertrages und Abzug der Besatzungssoldaten), 1970 (Beginn einer Reformperiode mit der 13-jährigen Kanzlerschaft von Bruno Kreisky), 1989 (Fall der Berliner Mauer und Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen in Europa) und 1995 (Österreichs Beitritt zur Europäischen Union) genannt.

Tatsächlich sind das die wichtigsten Stationen in der Geschichte der Republik Österreich. Und das Jahr 2018 wird genügend Gelegenheiten bieten, sich mit diesen einzelnen Stationen unserer Geschichte ausführlich zu befassen.

Das vorliegende Buch will einen etwas anderen Beitrag zur Beleuchtung der Entwicklung unseres Landes – auf naturgemäß beschränktem Raum – leisten.

Hannes Androsch und ich (beide im Jahr 1938 geboren) sowie Bernhard Ecker sind der Meinung, dass interessante Ergebnisse zutage gefördert werden können, wenn man relevante Entwicklungen in Politik und Gesellschaft im Abstand von Jahrzehnten untersucht und damit einige der sogenannten „achter Jahre“ näher ins Auge fasst, nämlich die Jahre 1918, 1938, 1968, 1978, 2008 und 2018. Und da das Jahr 1918 nicht aus heiterem Himmel „passiert“ ist, sondern eine lange Vorgeschichte hatte, wird auch ein Blick auf die Jahre 1848 und 1908 geworfen.

Denn auch wenn es vor 1918 kein geschlossenes Siedlungs-, Staats- und Kulturgebiet unter dem Namen Österreich gegeben hat, so ist doch heute völlig unbestritten, dass die Geburtsstunde der Republik Österreich im Jahre 1918 nicht die Stunde null für Österreich schlechthin war.

Das „Ostarrichi“ in der Urkunde aus dem Jahre 996 mag mit der Republik Österreich des Jahres 1918 herzlich wenig gemeinsam haben. Auch trifft es zu, dass die Repräsentanten der jungen, unter dem Namen „Deutschösterreich“ gegründeten Republik es bei den Friedensverhandlungen von Saint-Germain und auch schon vorher ablehnten, als Nachfolgestaat der österreichisch-ungarischen Vielvölkermonarchie betrachtet und behandelt zu werden. Das ändert aber nichts daran, dass die Republik Österreich (mit der Bundeshauptstadt Wien) ihre staatlichen, kulturellen, politischen und emotionalen Wurzeln in der Habsburgermonarchie hat.

Wenn man ein bisschen provokant sein will, könnte man auch sagen: Viktor Adler, Ignaz Seipel, Karl Renner oder Leopold Figl und Bruno Kreisky sind ohne Maria Theresia, Joseph II. und Franz Joseph in ihrem Denken und Handeln nicht vorstellbar, wobei der Hinweis auf diesen Zusammenhang nichts damit zu tun hat, wie man die jeweiligen Persönlichkeiten und die Ergebnisse ihrer Tätigkeit einschätzt und bewertet.

In diesem Sinne nimmt das vorliegende Buch also seinen Ausgang vom Jahr 1848. Denn dieses bezeichnet die Wende von der Ära Metternich zu den Vorstufen zur konstitutionellen Monarchie unter Kaiser Franz Joseph, die es immerhin bis zu einem Reichsrat mit allgemeinem Wahlrecht für Männer brachte und in deren letzten Jahrzehnten sich jene politischen Parteien entfalteten, die auch heute – zum 100. Geburtstag der Republik – noch wichtige politische Faktoren sind.

Ein langjähriger Redakteur der im Jahr 1848 gegründeten Tageszeitung Die Presse, Hans Werner Scheidl, beschäftigt sich daher mit diesen Entwicklungen vor genau 170 Jahren. Seinen interessanten Ausführungen kann ich noch hinzufügen, was ich selbst erst vor wenigen Monaten beim 175. Geburtstag der Wiener Philharmoniker erfahren habe: Bei der Gründung der Wiener Philharmoniker spielte neben Otto Nicolai und August Schmidt auch der Komponist und Musikkritiker Alfred Julius Becher eine zentrale Rolle, der sich sechs Jahre später an der Revolution des Jahres 1848 beteiligte und wegen seiner aktiven Rolle verhaftet, zum Tode verurteilt und unmittelbar darauf standrechtlich erschossen wurde.

60 Jahre später – und genau zehn Jahre vor dem Ende der Monarchie – ist 1908 die bosnische Annexionskrise gleichfalls ein geschichtsmächtiges Thema, mit dem sich Bettina Poller befasst. Sie ist Referentin im Österreichischen Rat für Forschung und Technologieentwicklung und veröffentlicht zu politischen und historischen Themen.

Wie sehr die Krisen in diesem Raum das Wort „geschichtsmächtig“ verdienen, zeigt – ein Jahrhundert später – ein Blick auf die aktuelle Situation auf dem westlichen Balkan: Was sich heute in Bosnien ereignet (oder nicht ereignet), hat auch massive Auswirkungen auf Serbien, Kroatien und den ganzen westlichen Balkan; die Region ist noch immer und immer wieder ein heikles Thema für ganz Europa. Und es ist nur fair anzumerken, dass Österreich zu jenen Ländern zählt, die der Entwicklung auf dem Balkan große Aufmerksamkeit widmen und dort auch in ökonomischer Hinsicht stark engagiert sind.

Das Jahr 1918, dem sich der erfahrene Politikwissenschaftler Anton Pelinka widmet, steht im Zentrum des Jubiläums der Republik Österreich.

Es war beziehungsweise ist faszinierend, bei Christopher Clark und anderen Autoren nachzulesen, wie Europa in den Ersten Weltkrieg hineingestolpert und hineingeschlittert ist; aber nicht weniger faszinierend ist es, darüber nachzulesen und nachzudenken, wie unendlich mühsam es war, aus dem Krieg wieder herauszufinden, mit dem Frieden zurechtzukommen und welche gravierende Fehler dabei auf allen Seiten gemacht wurden.

Es muss bei dieser Gelegenheit auch darauf aufmerksam gemacht werden, wie radikal die vorherrschende Grundstimmung zum Zeitpunkt der Republikgründung von unserer heutigen Befindlichkeit abwich. Der Krieg war verloren; die Auflösung der Monarchie in Nationalstaaten im Sinne des sogenannten „Selbstbestimmungsrechtes der Völker“ unvermeidlich und in vollem Gange. Mit überwältigender Mehrheit wurde in den deutschen Siedlungsgebieten daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass die Zukunft der deutschsprachigen Teile der Monarchie nur darin liegen kann, als „Deutschösterreich“ dem Deutschen Reich anzugehören. Zum Zeitpunkt der Gründung der Republik Österreich im Herbst 1918 herrschten diesbezüglich große Illusionen. Man verlieh nicht nur der Erwartung Ausdruck, dass die mehrheitlich deutschen Teile von Böhmen und Mähren oder in Italien selbstverständlich zu „Deutschösterreich“ gehören müssten, sondern zerbrach sich sogar über die Eingliederung von Regionen mit teilweise deutschsprachiger Bevölkerung in Polen oder in der Ukraine in ein neues Großdeutschland den Kopf.

Im Oktober 1918 unternahm Kaiser Karl letzte, aber aussichtslose Versuche, den Thron zu retten. In Wirklichkeit war die Monarchie bereits in voller Auflösung begriffen. Die Vertreter der nicht-deutschsprechenden politischen Kräfte hatten schon mit der Bildung neuer Staatswesen auf der Basis des „Selbstbestimmungsrechtes der Völker“ begonnen, aber auch die Exponenten der deutschsprachigen Parteien einigten sich darauf, Schritte zur Gründung eines deutschsprachigen Staatswesens zu unternehmen und zu diesem Zweck die deutschsprachigen Abgeordneten des zuletzt im Jahr 1911 gewählten Abgeordnetenhauses zu einer Konstituierenden Sitzung in das Wiener Landhaus einzuladen. Diese Aufgabe wurde dem Obmann des Verbandes der deutschnationalen Parteien Viktor Waldner übertragen, der aus Kärnten stammte und auch einer der ältesten Abgeordneten des Abgeordnetenhauses (geboren 1852) war. Waldner lud für den 21. Oktober 1918 um 17 Uhr die deutschsprachigen Abgeordneten zur „Konstituierenden Sitzung der Nationalversammlung der deutschen Abgeordneten“ einvernehmlich ein. Das Protokoll dieser Konstituierenden Sitzung verzeichnete den Sitzungsbeginn um 17.05 Uhr, wobei „Vorsitzender Dr. Waldner“ die Sitzung mit folgenden Worten eröffnete:

„Werte Volksgenossen! Im Auftrage aller Parteien habe ich alle deutschen Reichsratsabgeordneten zur heutigen Vollversammlung einberufen, damit sie auch für das deutsche Volk in Österreich als seine gewählte Gesamtvertretung das Recht auf Selbstbestimmung und eigene unabhängige Staatlichkeit feierlich erklären und für den Staat Deutsch-Österreich in einer zu konstituierenden Nationalversammlung die grundlegenden Beschlüsse fassen (Beifall). Wie die schicksalsschwere Zeit schon die Vertreter aller deutschen Parteien zusammengeführt und zu Einheitsbeschlüssen vereinigt hat (lebhafter Beifall),so wird sich auch die heutige denkwürdige Versammlung aller deutschen Vertreter von der Seele unseres Volkes und von dem einzigen Geist erfüllt zeigen, einmütig die staatliche Zukunft unseres Volkes auf seinem Siedlungsgebiete sicherzustellen. Die Geschichte hat uns auf den Boden, den wir bewohnten, gestellt, unsere Vorfahren haben diesen Boden in ungezählten Kämpfen mit ihrem Blute verteidigt, unsere Söhne haben in diesem Weltbrand in Treue ihr Blut für ihn vergossen: es gibt kein stärkeres Recht als das Recht unseres Volkes auf das Gesamtgebiet seiner Siedlung (lebhafter Beifall und Händeklatschen).

Mit diesen markigen Worten begann also die Konstituierende Sitzung einer nur aus „deutschen Abgeordneten“ bestehenden Provisorischen Nationalversammlung in den letzten Tagen des Krieges, in den letzten Tagen der Monarchie und daher noch vor der Gründung der Republik.

Sodann wurden der großdeutsche Abgeordnete Franz Dinghofer, der christlichsoziale Abgeordnete Jodok Fink und der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Seitz zu (gleichberechtigten) Präsidenten dieser Provisorischen Nationalversammlung gewählt. Auch der Sozialdemokrat Karl Seitz ließ sich von der Begeisterung für die Gründung „Deutschösterreichs“ anstecken, das „den Willen des deutschen Volkes in Österreich rein, frei und ungehemmt zum Ausdruck bringen wird […]. Wir legen heute den Grundstein für ein neues Deutsch-Österreich. Dieses neue Deutsch-Österreich wird errichtet werden nach dem Willen des deutschen Volkes (stürmischer Beifall, Händeklatschen und Heil!-Rufe). Frei und ungehemmt muss dieser Wille zur Geltung kommen. Wir werden ein neues Deutsch-Österreich aufbauen und wir hoffen, dass es ein Deutsch-Österreich des Glücks und des Friedens wird (lebhafter, langanhaltender Beifall).“

Besonders bemerkenswert erscheint mir auch die Intervention von Viktor Adler in dieser denkwürdigen Sitzung – elf Tage vor seinem Tod, nämlich am 30. Oktober. Denn Viktor Adler ist ja bekanntlich am 11. November 1918, am letzten Tag der Monarchie beziehungsweise am Tag vor der Erreichung des großen Zieles, nämlich der Gründung einer demokratischen Republik, verstorben.

Viktor Adler meldete sich an diesem 30. Oktober „im Auftrage der deutschen Sozialdemokratie Österreichs“ zu Wort, um eine Erklärung zu verlesen, in der es unter anderem hieß:

„Meine Herren! Ich spreche hier im Namen der deutschen Sozialdemokratie Österreichs. Wir sind hierhergekommen, um einig mit Ihnen, fußend auf demselben Boden wie Sie, das neue Deutsch-Österreich aufzurichten. Wir sind in diesen Gedanken einig, dass das notwendig ist. Dass es unsere Pflicht ist. Und – gestatten Sie mir, einem alten Mann, zu sagen – dass es endlich die Verwirklichung dessen ist, was wir seit der Jugend ersehnen. Wir sind hierhergekommen, um einträchtig mit Ihnen unsere Pflicht zu erfüllen.

Aber, meine Herren, wir würden es für falsch halten, wenn wir Ihnen nicht zugleich sagen würden: Wir kommen hier mit Ihnen zusammen, aber wir kommen als Sozialdemokraten. Wir kommen mit erhobener Fahne, wir kommen mit Ihnen zusammen, aber wir bleiben die, die wir waren (lebhafter Beifall). Wir kommen zu Ihnen, um mit Ihnen zusammen für das gemeinsame Ziel zu arbeiten, aber nicht einen Fußbreit geben wir auf von dem, was wir als unsere Pflicht, als unser Streben, als unser Programm ansehen. Und darum gestatten Sie, dass wir auch in dieser feierlichen Stunde Ihnen in einigen Sätzen auseinandersetzen, auf welchem Boden wir innerhalb dieser Versammlung der Deutschen in Österreich stehen und kämpfen werden. […]

Das deutsche Volk in Österreich soll seinen eigenen demokratischen Staat, seinen deutschen Volksstaat bilden, der vollkommen frei entscheiden soll, wie er seine Beziehungen zu den Nachbarvölkern, wie er seine Beziehungen zum Deutschen Reiche regeln soll. Er soll sich mit den Nachbarvölkern zu einem freien Völkerbund vereinen, wenn die Völker dies wollen. Lehnen aber die anderen Völker eine solche Gemeinschaft ab oder wollen sie ihr nur unter Bedingungen zustimmen, die den wirtschaftlichen und den nationalen Bedürfnissen des deutschen Volkes nicht entsprechen, dann wird der deutschösterreichische Staat, der, auf sich selbst gestellt, kein wirtschaftlich entwicklungsfähiges Gebilde wäre, gezwungen sein, sich als ein Sonderbundesstaat dem Deutschen Reiche anzugliedern (lebhafter Beifall und Händeklatschen). Wir verlangen für den deutschösterreichischen Staat die volle Freiheit, zwischen diesen beiden möglichen Verbindungen zu wählen.“

Diese Wahlmöglichkeit wurde bekanntlich im Vertrag von Saint-Germain verweigert.

Es ist vielleicht ein für einen Prolog ungewöhnlich langes Zitat, aber es erscheint mir außerordentlich interessant und bemerkenswert, wie sehr Viktor Adler in diesen seinen letzten Worten versucht hat, eine Brücke zu finden zwischen Zusammenarbeit in schweren Zeiten auf der einen Seite und dem unverrückbaren Festhalten an seinen politischen Grundsätzen auf der anderen Seite. Dieses Bemühen war in der Ersten Republik nur etwa eineinhalb Jahre lang erfolgreich und ist nach dem letzten großen Erfolg – der Einigung über die Österreichische Bundesverfassung – gescheitert.

Außerdem kann man nach der Lektüre dieser Worte besser verstehen, wie groß die Enttäuschung war, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker zwar zum Leitprinzip der Neuordnung Europas gemacht wurde, aber auf die deutschsprachigen Bevölkerungsteile außerhalb Deutschlands letzten Endes keine Anwendung finden sollte.

Anton Pelinka verknüpft das parlamentarische Geschehen in den Geburtsstunden der Republik (die noch keinen endgültigen Namen, kein endgültiges Staatsgebiet und keine republikanische Verfassung hatte) mit Entwicklungen bis in die Gegenwart, wobei er zu dem Ergebnis kommt, dass das nach dem Zweiten Weltkrieg erneut zu errichtende Österreich in dieser Zweiten Republik „das beste Österreich werden (sollte), das es je gegeben hatte“. Ein großes Kompliment!

Bevor sich Österreich aber dieses Kompliment verdienen konnte, musste es zum zweiten Mal durch die Hölle von Krieg und Diktatur gehen. Das entscheidende Datum auf diesem Weg liegt jetzt 80 Jahre zurück: Es war der „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland im März 1938.

Die junge, 1918 auf den Trümmern des Ersten Weltkrieges errichtete Republik war an ihren Konstruktionsfehlern sowie an weltanschaulichen, politischen, sozialen und auch persönlichen Gegensätzen gescheitert. Die Demokratie hat die Belastungen dieser Zeit, insbesondere die Verfassungsbrüche der Jahre 1933 und 1934, nicht überlebt, der Druck Hitlers war übermächtig, und eine einheitliche Abwehrfront gegen den Nationalsozialismus war nicht (zeitgerecht) zustande gekommen. So marschierte die deutsche Wehrmacht nach einem unverschämten Ultimatum an Bundeskanzler Kurt Schuschnigg in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1938 in Österreich ein und wurde von beträchtlichen Teilen der Bevölkerung mit großem und demonstrativem Jubel begrüßt.

Österreich verschwand von der Landkarte und wurde ein Teil des Deutschen Reiches, an dessen Spitze Adolf Hitler stand, und folgte diesem in den Zweiten Weltkrieg. Österreicher dienten in der deutschen Wehrmacht, arbeiteten auch in der Gestapo, hatten entsprechenden Anteil an den Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung in Wien, wie zum Beispiel an der sogenannten „Kristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938, wurden zum Dienst in den Konzentrationslagern verpflichtet, waren an vielen anderen Verbrechen der Nationalsozialisten beteiligt, aber auch an manchen Heldentaten gegen den Nationalsozialismus oder zum Schutze von dessen Opfern. Mit einem Wort: Österreich war Täter und Opfer.

Und während die einen sagten, dass der „Anschluss“ an Deutschland ja genau das gewesen sei, was „Deutschösterreich“ sich offenbar nach der Zerschlagung der Donaumonarchie gewünscht habe, verweisen andere (mit Recht) darauf, dass sich die Verhältnisse – spätestens mit der Machtergreifung Hitlers in Deutschland – grundlegend geändert hätten und dass der freiwillige Anschluss an ein demokratisches, republikanisches Deutschland unmittelbar nach dem Zerfall der Donaumonarchie mit dem von der deutschen Wehrmacht vollzogenen und erzwungenen „Anschluss“ an die zum Krieg entschlossene Diktatur Hitlers nicht vergleichbar sei.

Da in der berühmten Moskauer Deklaration aus dem Jahr 1943 Österreich als das „erste Opfer“ der Hitler’schen Aggressionspolitik bezeichnet wurde, war es nach Kriegsende verlockend, diese Formulierung zu benutzen, um Österreich nach Kriegsende vorwiegend als „Opfer“ Hitlers darzustellen und die Täterrolle so weit wie möglich unter den Tisch fallen zu lassen. Dadurch ist auch ein großer Nachholbedarf in Bezug auf die Aufarbeitung dieses Abschnittes unserer Geschichte entstanden.

Die Diskussion über diese Fragen ist auch heute noch nicht endgültig beendet, aber es herrscht ohne Zweifel viel mehr Klarheit, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Und sie wird heute nicht mehr von Personen geführt, die noch selbst an diesen Ereignissen beteiligt waren, sondern ausschließlich von nachgeborenen Generationen und daher mit mehr Objektivität.

Eine wichtiger Aspekt dieser Epoche liegt darin, dass die Ermordung von 66.000 Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten und die erzwungene Emigration von weiteren 206.000 jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, aber auch die Verfolgung von Wissenschaftlern und Intellektuellen, die dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstanden, zu einem enormen Verlust an menschlichem und wissenschaftlichen Potenzial geführt hat, von dem sich Österreich durch viele Jahrzehnte hindurch – weit über das Jahr 1945 hinaus – nicht erholen konnte.

Heute wird dieses Thema häufig mit den Namen späterer Nobelpreisträger wie Walter Kohn, Eric Kandel oder Martin Karplus verbunden, oder mit Carl Djerassi, dem Miterfinder der Pille – sie alle flohen noch im Kindesalter aus dem Wien der 1930er Jahre. Für wie viele Spitzenwissenschaftler der erzwungene „Anschluss“ das Ende ihrer Laufbahn, oft auch den Tod, bedeutete, hat 2015 der Wiener Wissenschaftspublizist Klaus Taschwer in dem Buch Hochburg des Antisemitismus herausgearbeitet. Die Entfernung politisch missliebiger und jüdischer Universitätslehrender setzte demnach bereits 1933 ein und wurde 1938 drastisch verschärft: Bis 1944 waren an der Universität Wien 322 der insgesamt 763 Lehrenden des Studienjahrs 1937/38 vertrieben worden. Zumindest elf Professoren und Dozenten kamen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern der Nationalsozialisten ums Leben. Fast ein Viertel der Mitarbeiter der viel beachteten Biologischen Versuchsanstalt im Prater wurde ermordet, auch dessen Gründer, der Zoologe Hans Przibram, und seine Frau.

In seinem Beitrag zum Jahr 1938, in dem der 20. Geburtstag der Republik nicht mehr gefeiert werden konnte, weil es die Republik Österreich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gab, widmet sich der Mathematiker Rudolf Taschner dieser vertriebenen Intelligenz. Er konzentriert sich auf zwei bisher kaum beachtete bahnbrechende Entdeckungen, in deren Zentrum Österreicher stehen und die seiner Ansicht nach die Geschichte der Menschheit verändert haben.

Er meint damit einerseits die Erfindung der ersten programmgesteuerten Rechenmaschine der Welt, die 1938 fertiggestellt wurde und als Vorstufe zum Computer betrachtet werden kann, und andererseits die grundlegenden Experimente von Otto Hahn und Fritz Straßmann zum Thema Kernspaltung, die den Weg zur Nutzung der Atomtechnologie (für militärische und friedliche Zwecke) ebneten.

Eine Generation später, als der Abwurf der ersten Atombombe bereits mehr als 20 Jahre zurücklag und die ersten Kernkraftwerke bereits der Energiegewinnung dienten, waren es wiederum politische, vor allem aber gesellschaftspolitische Entwicklungen, die dieser Zeit in Europa ihren Stempel aufdrückten. Die drei Jahrzehnte vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1914) bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges (1945) waren in der gesellschaftlichen Entwicklung weitgehend eine Phase des Stillstandes: Demokratie, Menschenrechte, Liberalisierung, Reformen im Überbau der Gesellschaft (wie Strafrecht oder Strafvollzug), aber auch die Emanzipation der Frau machten in dieser Zeit kaum Fortschritte; und dort, wo es Fortschritte gab wie etwa in der Kunst oder in der Technik, wurden sie im Machtbereich der totalitären Systeme entweder unterdrückt (Kunst) oder in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihrer Tauglichkeit für militärische Zwecke beurteilt (Technik).

Die Suche nach den Ursachen dieser Entwicklung und nach der Verantwortung dafür blieb lange Zeit unter der Oberfläche und meldete sich erst vehement zu Wort, als die im und bald nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen Jahrgänge erwachsen wurden und an die Universitäten kamen. Wir sprechen also von den Veränderungen in den späten sechziger Jahren.

Der langjährige profil-Chefredakteur Herbert Lackner, der sich wohl auch selbst als „Achtundsechziger“ betrachtet, untersucht diese Periode und ihre Auswirkungen in sehr erhellender Weise.

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass das Jahr 1968 auch im sogenannten Ostblock mit dem Prager Frühling und den Reformbestrebungen in Polen seinen Niederschlag fand.

Nicht zuletzt markierte das Jahr 1968 genau die „Halbzeit“ in der 100-jährigen Geschichte unserer Republik. Und ebenso wie die drei folgenden Beiträge behandelt Lackners Beitrag ein Thema, das bereits auf die stärker internationale Ausrichtung von Gesellschaft, Wirtschaft und auch Politik in der zweiten „Halbzeit“ überleitet.

Es sind in der Regel entweder politische oder wissenschaftlich-technische Umwälzungen, die die Welt am stärksten verändern. Auf der einen Seite stehen zum Beispiel die Französische Revolution, die Russische Revolution, das allgemeine Wahlrecht, die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert. Auf der anderen finden sich die Erfindung des Buchdrucks, der Dampfmaschine, des Automobils, der Kernspaltung, des Computers oder des Internets. Beide Bereiche stehen zweifellos in Wechselwirkung miteinander.

Kurz nach der Russischen Revolution des Jahres 1917 begann sich auch in China eine kommunistische Bewegung (in Konkurrenz zur nationalistischen Kuomintang) zu entwickeln, die nach drei Jahrzehnten erbitterter Kämpfe 1948 in Festland-China die Macht eroberte und nach drei weiteren Jahrzehnten sich mühsam aus dem Chaos der Kulturrevolution herausarbeiten musste, die der „große Steuermann“ Mao Zedong in den letzten Jahren seines Lebens angezettelt hatte.

Die jüngsten vier Jahrzehnte der chinesischen Geschichte bilden jene Phase, als China nach den bahnbrechenden und mutigen Ideen von Deng Xiaoping seine Politik umkrempelte und zur Weltmacht aufstieg, deren Wirtschaftsmacht heute auf Augenhöhe mit jener der USA liegt.

Diese Entwicklung ist das Thema des Beitrages von Bernhard Ecker, unter dem Titel „Chinas Aufbruch in den Westen“. Auf diesem Gebiet ist es kein großes Risiko zu prophezeien, dass den Beziehungen zwischen China und Europa, aber auch zwischen China und dem Rest der Welt, in den nächsten 20 Jahren – also etwa bis zum neunzigsten 90. der Volksrepublik China – eine ganz entscheidende und kaum zu überschätzende Bedeutung zukommen wird.

Wenn man sich wieder der heutigen Situation in Europa zuwendet, dann ist unübersehbar, dass eine lange Periode des Aufschwungs und einer erfolgreichen Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit vor zehn Jahren eine jähe Unterbrechung erfahren hat, die man allgemein mit den Worten „Finanz- und Bankenkrise“ zusammenfasst. An den weitreichenden Folgen dieser Krise leidet Europa noch heute. Und die Frage, wie mit dieser Krise umzugehen ist und welche Lehren aus der gravierenden und folgenschweren Krise der späten zwanziger Jahre und der frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts zu ziehen sind, wird bis heute heftig diskutiert.

Ausgestattet mit hervorragenden Kenntnissen der internationalen Literatur zu diesen Themen, geht die in der Oesterreichischen Nationalbank tätige Ökonomin Helene Schuberth der Frage nach, ob wir aus der Krise, die letztlich zum Aufstieg und Sieg des Faschismus in den dreißiger Jahren entscheidend beitrug, genügend gelernt haben. Sie untersucht auch, welche Fehler wiederholt werden, obwohl sie nicht wiederholt werden dürften, und wie die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise im Vergleich zur „Mutter aller Krisen“ aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zu beurteilen ist.

Ein zentraler Satz ihres Resümees lautet: „Dass dank der unmittelbar nach der Lehman-Pleite eingeleiteten wirtschaftspolitischen Stimuli und Bankenstabilisierungsmaßnahmen eine Wiederholung der großen Depression der 1930er Jahre verhindert werden konnte, wird stets als großer Erfolg der internationalen Staatengemeinschaft gesehen. Aber nur das Schlimmste verhindert zu haben, erscheint als bescheidenes Ergebnis angesichts der politischen Dynamik, die kapitale Verwerfungen des Finanzsystems bekanntermaßen in der Regel nach sich ziehen.“ Und mit dieser Dynamik haben wir es auf den verschiedensten Ebenen und in der unterschiedlichsten Weise noch immer zu tun.

Damit sind wir in der Gegenwart angelangt, also knapp vor dem 100. Geburtstag der Republik Österreich. Und der „Gegenwartsbeitrag“ in diesem Buch ist nicht ein zusammenfassender Rückblick auf das hinter uns liegende Jahrhundert, sondern – unter dem Titel „Big Bang durch Big Data“ – eine spannende Auseinandersetzung mit den unglaublichen Möglichkeiten und Gefahren von Internet und Big Data aus der Feder der langjährigen Standard-Chefredakteurin und nunmehrigen Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung Alexandra Föderl-Schmid.

Immer wieder kommt einem die im Rückblick fast biedere Vision 1984 von George Orwell in Erinnerung, wenn man sich vorzustellen versucht, was durch moderne Technologien alles möglich ist. Föderl-Schmid meint, dass wir am Beginn von Veränderungen stehen, die sich auf unsere Weltsicht und auf unsere Lebensweise in einer Art auswirken werden, die mit den durch die Erfindung des Buchdrucks ausgelösten Entwicklungen durchaus vergleichbar seien: „Beziehungen zwischen Bürgerinnen und Bürgern zum Staat, den Medien sowie Unternehmen werden sich massiv verändern – und zwar in viel umfassenderem Maße, als wir uns das bisher vorzustellen vermochten. Märkte werden komplett umgekrempelt werden. Der Besitz von Daten entscheidet über die Zukunft.“

Damit sind wir beim Stichwort ZUKUNFT angelangt, und in diesem Sinne schließt dieser unorthodoxe Band zum Jubiläumsjahr 2018, dem ich eine gute Aufnahme durch eine interessierte Öffentlichkeit wünsche, mit einem nach vorn blickenden Epilog von Hannes Androsch. Er widmet sich den zahlreichen politischen Schlussfolgerungen, die sich aus den technologischen Umwälzungen der Gegenwart ergeben, und zeichnet die neuen Bruchlinien auf der Weltkarte nach – die Wahl von Donald Trump in den USA, der Brexit, der Aufstieg Asiens und die Konfliktherde im Nahen Osten und in Afrika haben die politische Landschaft verändert und werden uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in vielfacher Weise weiter beschäftigen, denn die Geschichte kennt nur mehr oder weniger Dynamik, aber keinen Endpunkt.

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Epochenwechsel

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Hans Werner Scheidl

Am 13. März 1848, es ist ein Montag, steht der 34-jährige Dichter Friedrich Hebbel eingekeilt in der Menge, irgendwo nahe dem niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse. Auch der noch nicht einmal 15-jährige Gymnasiast Ferdinand von Saar, der sich später als sozialkritischer Autor einen Namen machen wird, ist da. Er hat auf die Ermahnungen seines Lehrers nicht geachtet und ist nach dem vorzeitigen Unterrichtsende in die Innere Stadt gelaufen, wo von Freiheit gesprochen wird. Franz Grillparzer hat hingegen sein Hofkammerarchiv in der Johannesgasse nicht verlassen. Der gefeierte Dichter ahnt, was nun folgt. Er ist ein alter Mann: 57 Jahre. Und er hat sich mit dem seit drei Jahrzehnten herrschenden Überwachungssystem des Herrn von Metternich halbwegs, wenn auch knurrend, arrangiert.

Im Landhaus hat sich an diesem Tag der niederösterreichische Landtag versammelt, die Herren sind behutsame Vorkämpfer einer liberalen, aber eindeutig kaisertreuen Politik. Vor dem Palais sind die Studenten aufmarschiert. Eine große Anzahl von ihnen ist in das Gebäude eingedrungen. Das Militär, zu Mittag vom Josefstädter Glacis über den Minoritenplatz und durch die Herrengasse bis an den Heidenschuss vorgerückt, besteht aus einer Kompanie italienischer Grenadiere. Als ihnen die Menge zuruft, „Schießt nicht auf eure Brüder!“, verstehen sie kein Wort. Eine Abteilung Pioniere kommt erst gar nicht bis zum Landhaus, wo die erhitzte Menge und die Studenten, die sich lange auf den Tag vorbereitet hatten, in der Überzahl sind. Und in übler Laune. Unter den Agitatoren befindet sich auch der spätere k.u.k. Minister Johann Nepomuk Berger. Von ihm stammt der bemerkenswerte Satz, der noch vor dem ersten Schuss ausgesprochen wurde: Es wäre alles umsonst, wenn es heute keine Opfer gäbe. Blut muss fließen bei einer Revolution (Drimmel 1983, 56).

Angeführt wird die studentische Meute, in der Mehrzahl Mediziner, von Adolf Fischhof, einem jungen Sekundararzt am Allgemeinen Krankenhaus. Man verliest die inzwischen bekannt gewordene Rede des ungarischen Nationalisten Lajos Kossuth: „Aus der Beinkammer des Wiener Systems weht eine verpestete Luft auf uns, die unsere Nerven lähmt und sogar unsern Geistesflug bannt“ (Nehring 1977, 2). Kossuth hat diese Brandrede am 3. März im ungarischen Landtag zu Pressburg (Pozsony, Bratislava) gehalten, in der er auch für die nichtungarischen Länder Habsburgs eine Verfassung und – als Anwalt seiner Landsleute – ein für Ungarn verantwortliches Ministerium beantragte. Die Ansprache wurde bereits am 5. März in Wien in Übersetzung verbreitet und putscht nun im Hof des Landhauses die Menge zusätzlich auf.

Was wollen diese Studenten? Sie fordern die sofortige Entlassung des Staatskanzlers Metternich, der verhassten Galionsfigur des repressiven Systems. Die Stände sollten eine harte Haltung gegenüber der Geheimen Staatskonferenz einnehmen, die quasi die Vormundschaft für den oft handlungsunfähigen Kaiser Ferdinand innehat. Fischhof ist kein Fürsprecher roher Gewalt. Aber er ist dafür, dass Druck gemacht wird.

Nachdem sich einige Schreier und Schwätzer wichtiggemacht haben, besteigt Fischhof ein Baugerüst und verschafft sich sogleich Ruhe. „Meine Herren“, ruft er. Und weil er es mit kräftiger Stimme tut, wird er aus der Menge zu seiner ersten Rede animiert. „Vor allem verlangen wir Pressefreiheit! Die Wünsche der Individuen, solange sie nur vereinzelt ausgesprochen werden, bleiben unbeachtet, sie sind wie Wassertropfen, die, wenn sie einzeln niederfallen, vom Boden getrunken werden, im Sande zerrinnen, in der Luft verdampfen; wenn aber die Einzelwünsche in den tausend Rinnsalen, Bächlein und Bächen der Presse zusammenfließen, dann werden sie allgemach zum mächtigen, unwiderstehlichen Strome der öffentlichen Meinung. Und wehe dem Staatsmanne, der das Staatsschiff gegen den Strom zu lenken die Stirn hält! Betonen wir daher vor allem mit stärkstem Accente die Freiheit der Presse!“ (Endler 1973, 19 f.).

Eine starke Ansage, eine gute Rede. Das steht so ganz im Gegensatz zur Raunzerei des Herrn von Grillparzer, der kurz zuvor – eher dürftig – gereimt hat:

Der Henker hole die Journale,

Sie sind das Brandmal unsrer neuen Welt,

Der ekle Abhub von dem Wissensmale,

Der, für die Viehmast, in den Zuber fällt.

(Zitiert nach: Endler 1973, 20).

Als der Befehl kommt, das Landhaus und die Umgebung zu säubern, ist schon allein der Lärm von krachendem Holz und schreiendem Volk ausreichend, um eine Hölle vorzutäuschen. Aus dem ersten und zweiten Stock des Gebäudes werden nicht nur Latten, sondern auch Einrichtungsgegenstände auf die Grenadiere geworfen. Die erste Salve gegen die wütenden Verteidiger des Landhauses kracht, doch es wird niemand getroffen. Noch könnte alles gut ausgehen an diesem 13. März. Jetzt aber fließt Blut, als ein Arbeiter dem General Joseph Matauschek, einem Mann von 72 Jahren, ein Stück Holz gegen die Schläfe donnert. Wenige Minuten später wird der Erzherzog Albrecht mit dem abgebrochenen Teil einer Ankündigungstafel tätlich insultiert, der hohe Herr verliert das Abzeichen seiner Ehre: den Hut.

Albrecht, ein Cousin des Kaisers, ist 31 Jahre alt, bereits Feldmarschallleutnant und Oberkommandierender der Armee im deutschsprachigen Österreich. Von einem Straßenkampf verstehen freilich weder der Erzherzog noch seine Soldaten etwas. Das Militär weicht vor den in der Herrengasse aufgestauten Massen zurück. In diesen wachsenden Tumult marschiert, ohne sich aufhalten zu lassen, eine Pionierkompanie. Sie hat keinen Schießbefehl. Aber es fällt ein Schuss, der berühmte Schuss, dessen es bedarf, damit eine Revolte beginnen kann.

Niemand wird später wissen, wer den fatalen Schuss abgegeben hat. Hätten die Pioniere auf Befehl gefeuert, es wären Dutzende Tote auf dem Platz geblieben. In Wirklichkeit geraten die Soldaten in Bedrängnis, sie wehren sich zuerst mit dem Bajonett, dann erst kracht der erste Schuss. Einzelschüsse folgen. Die Menge stiebt auseinander. Vier Tote liegen auf der Gasse, darunter ein Zuschauer, der mit seiner Ware durch die Menge wollte; eine Frau, die im Gedränge erdrückt wurde; der blutjunge Student Heinrich Spitzer, kein Revoluzzer, sondern einer, der dabei sein wollte, wie so viele Studenten, denen es nicht einfiel, ihr Leben herzugeben.

Die Toten der Herrengasse sind wichtig für den Mythos der Märzrevolution. Denn die meisten, die an diesem Tage fielen, wurden erst am Abend erschossen vom rasch herbeigeholten Bürgermilitär und dessen Gehilfen, beim Sturm auf die Fabriken und Villen der Besitzenden. Am 17. März werden sie auf dem Schmelzer Friedhof in einem Gemeinschaftsgrab beigesetzt. Auch zwei Juden sind darunter. Kantor Salomon Sulzer stimmt einen Psalm an, Prediger Isaak Noah Mannheimer spricht zur Menge:

„Ihr habt gewollt, dass die toten Juden da mit euch ruhen in Eurer, in einer Erde. Sie haben gekämpft für euch, geblutet für euch! Sie ruhen in eurer Erde. Vergönnt nun aber auch denen, die den gleichen Kampf gekämpft und den schwereren, dass sie mit euch leben auf einer Erde, frei und unverkümmert, wie ihr […] Nehmt auch uns auf als freie Männer, und Gottes Segen über euch!“ (Hamann 2009, 73).

Von all dem erfährt der 17-jährige Erzherzog Franz Joseph Karl kaum etwas. Obwohl ganz nahe am Geschehen, erlebt er den Tag im abgesicherten Schweizerhof der Burg. Dass er noch in diesem Jahr ins grelle Licht der europäischen Politik gestoßen werden wird, liegt weit jenseits seiner Vorstellungen. Noch gilt sein Vater Franz Karl, Bruder des Kaisers Ferdinand, als Thronanwärter für den Fall der Fälle.

Das Jahr 1848 steht im österreichischen Gedenkreigen stets im Schatten von 1918 und 1938, jenen Jahren, die das Ende der Monarchie und der Ersten Republik markieren. Das für Österreich so untypische Revolutionsjahr steht weder für einen klaren Anfang noch für ein spektakuläres Ende, es wird mehr als Transformationsjahr zwischen den Epochen denn als Zäsur wahrgenommen. Es stiftet kaum Identität, vielleicht weil die Ereignisse nicht auf die Donaumonarchie begrenzt blieben.

In der ursprünglichen Konzeption für das 2018 zu eröffnende Haus der Geschichte war hingegen ausgerechnet 1848 als Startpunkt gedacht: als demokratisch-bürgerliche Erhebung vor dem Rückfall in den Neoabsolutismus.

Aber was war 1848? Bloß ein außer Rand und Band geratenes Aufbegehren gegen die Obrigkeit? Eine echte Revolution, getragen vom edlen Freiheitsgedanken, der aus anderen europäischen Ländern bis in die Herrengasse geschwappt war?

Die Schüsse dieses denkwürdigen Tages steckten schon lange in den Gewehrläufen. Nach Missernten und harten Wintern waren die Jahre davor von großem Hunger und Angst um die wenigen ersparten Groschen geprägt. In den Ländern des gütigen Kaisers Ferdinand I. waren Lebensmittel knapp und teuer geworden. Die Industrie musste die Produktion herunterfahren, in den Vorstädten von Wien zerschlugen und plünderten entlassene Arbeiter wiederholt Bäckerläden und Lebensmittelgeschäfte. Erstmals sah sich der Staat gezwungen, gegen die soziale Not Maßnahmen zu ergreifen: Rund um Wien wurden rund 20.000 brotlose Gelegenheitsarbeiter zusammengetrommelt und bei Straßen-, Damm- und Kanalbauten beschäftigt. Das wiederum sahen die Kleingewerbetreibenden mit scheelen Blicken; sie fürchteten, dass ihnen das Reservoir an billigen Arbeitskräften abhandenkäme.

Nur die Zeitungen taten so, als gäbe es dies alles nicht: keine Wohnungsnot und keine täglichen Diebstähle und Morde um des Hungers willen. Sie konnten nicht anders. So wollte es das System Metternich. Als hätte es keine verzweifelten Anstrengungen gegeben, die Gesetze gegen die schändliche Kinderarbeit endlich umzusetzen: Kinder zwischen dem zwölften und 16. Lebensjahr sollten nur noch zwölf Stunden täglich arbeiten – doch kein Fabrikherr hielt sich daran. 14 bis 16 Stunden täglich, sieben Tage die Woche, das war die Fron der Väter für einen Hungerlohn. Und auf dem Lande wusste der Bauer noch gar nicht, ob er ein freier Mann oder ein Leibeigener war, und wem er gehörte. Unter dem Protektorat des besagten Erzherzogs Franz Karl verteilte der Wiener Allgemeine Hilfsverein die berüchtigte „Rumfordsuppe“ an die Armen, einen aus allem Möglichen gekochten, angeblich sehr nahrhaften Brei, benannt nach ihrem Erfinder, dem britischen Grafen Rumford.

Der immer wieder verklärte Vormärz war in Wien eine Zeit, in der nicht einfach nur die Dichter an sich und an der Umwelt verzweifelten. In diesen 33 Jahren nach dem Sieg über Napoleon, in denen Clemens Wenzel Fürst Metternich die Zustände des Inlandes wie ganz Europas zu zementieren trachtete, entwickelte sich Wien zu einer Großstadt mit 400.000 Einwohnern. Aber für einen Bevölkerungszuwachs von 125.000 Menschen in nur zwei Jahrzehnten standen nicht einmal tausend zusätzliche Häuser zur Verfügung.

Die Industrialisierung wurde vom kaiserlichen Hof mit größtem Misstrauen betrachtet, einige Male gesetzlich eingeschränkt und zeitweise sogar verboten. Das erklärte Ideal war ein Kleingewerbewesen, das auf den Zünften beruhte. Im Vergleich zu den Pariser und Londoner Proletarierbezirken waren die Löhne in Wien noch niedriger.

Frauen und Kinder stellten mehr als die Hälfte der Textilarbeiter. Die einzige soziale Vorschrift, sie stammte noch von Josef II., besagte, dass die Kinder in den Fabriken einmal in der Woche gewaschen und gekämmt sowie zweimal im Jahr vom Arzt untersucht werden mussten.

Selbst der viel besungene Gewerbefleiß brachte nur kümmerliche Ergebnisse: Während es 1820 höchstens 200 Zwangsexekutionen bei Wiener Steuerpflichtigen gab, mussten 1845 bei sage und schreibe zwei Dritteln der Steuerpflichtigen die Abgaben durch das Militär eingetrieben werden. Das entsprach 20.000 Personen – ein Ergebnis der explodierten Lebensmittelpreise infolge der katastrophalen Missernten.

Nur die Dichter muckten manchmal auf. Obwohl die Redakteure um all die herrschenden Missstände wussten, hielten sie sich an die Verordnungen. Und weil in den Journalen alle auf der Hut waren, las man nichts Weltbewegendes. Ein Beispiel: Vier türkische Ärzte machen ihr erstes Rigorosum in Wien, die Stadt ist beinahe ein Mekka für Mediziner, andere Wissenschaftler gibt es kaum. In dem Land gedieh kein Philosoph, kein Historiker, kein Jurist von Weltrang. Man erzeugte am laufenden Band gute Beamte.

Auch Statistisches bekam man in den Journalen serviert. So gab es im Jahre 1847 respektable 2730 Trauungen; 19.019 Geburten standen 18.940 Todesfällen gegenüber. Lungenkrankheiten und Zehrfieber waren die meistgenannten Todesursachen. „Gäbe es das Biedermeier nicht und eine der Idylle verpflichtete Poesie“, schrieb später der Presse-Journalist Franz Endler, „man müsste diese grauenvolle Art zu sterben als ein weiteres Zeichen an der Wand lesen. Armut und Hunger und Trostlosigkeit gehören zu diesem allseits gestorbenen Tod: Zehrfieber.“

Der 13. März kam also nicht aus heiterem Himmel. Und die Nachrichten von Unruhen anderswo, besonders in Italien, hatten längst die Runde gemacht. Am 24. Februar war nach Abdankung des Bürgerkönigs Louis Philippe in Paris die „Republique démocratique et sociale“ ausgerufen worden. Am Horizont dämmerte schon die Nationalitätenfrage auf, das keimende Nationalbewusstsein der einzelnen Volksgruppen, das sieben Jahrzehnte später in den Wirren des Ersten Weltkrieges das Reich zum Einsturz bringen sollte.

In Böhmen war die tschechische Erneuerungsbewegung aus völkischer Überzeugung bereits zum Kampf gegen das vorherrschende Deutschtum übergegangen. František Palacký hatte die Herkunft der Deutschen in Böhmen hinterfragt und dekretiert, „dass alle jetzt in Böhmen wohnenden Deutschen spätere Ankömmlinge, Kolonisten und Gäste in diesem Lande“ seien. „Die Revolution, die von Paris ausgehend unterschiedlich auf einzelne Staaten in Europa wie eine Feuersbrunst übergriff, fand im österreichischen Kaisertum den Zündstoff, der ihre rasche Entfaltung ermöglichte. Es herrschte ein allgemeiner, aus sozialen, politischen, nationalen und kosmopolitischen Faktoren erzeugter Erregungszustand“, schreibt Adam Wandruszka.

Wie sollte es nun also weitergehen? Der Hof war ratlos. Und siehe da: Ausgerechnet die Majestät in der Hofburg, von so vielen als ein hoffnungsloser Kretin verkannt, behielt die Nerven: Man möge Gewalt vermeiden, die Anliegen der Untertanen prüfen und bei Möglichkeit auch erfüllen. Metternich war dagegen.

Die plötzliche Ruhe in der Herrengasse war die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. In der Innenstadt wurden Barrikaden errichtet, in den Vorstädten zerstörte der Mob prunkvolle Villen, steckte Fabriken in Brand. In Fünfhaus, Sechshaus, Ottakring und Hernals begann das Morden und Plündern. Die erste Schreckensnacht forderte etwa 50 Tote, unter ihnen Polizisten, Nachtwächter, aber auch Arbeiter, die ihren Arbeitsplatz in den Fabriken verteidigen wollten. Der Minister des Inneren ließ ein Plakat anbringen:

„Achtung vor dem Gesetze ist die erste Pflicht des Bürgers; sie muß in einem constitutionellen Staate noch heiliger seyn, weil das Gesetz für Alle gleich ist. Darum möge der Fabriksherr seine Meister, Gehilfen und Arbeiter warnen und abhalten, an bedrohlichen Versammlungen Theil zu nehmen; er kann nicht besser für ihr Wohl, für die Erhaltung ihrer Familien sorgen. Nur wo Ruhe, Sicherheit, Vertrauen herrscht, wird der Arbeiter immer gesucht seyn“ (Mellach 1978, 57).

Jetzt war es die Erzherzogin Sophie, des Kaisers Schwägerin und die Mutter des Erzherzogs Franz Joseph Karl, die dem Spuk ein Ende bereiten wollte. Staatskanzler Metternich wurde entlassen, mithilfe des Bankiers Salomon Rothschild gelang es dem gerade noch allmächtigen Fürsten, sich nach England in Sicherheit zu bringen. Die Zensur wurde aufgehoben, eine demokratische Verfassung wurde versprochen. Und die plötzliche Pressefreiheit ließ die so lange geknebelten Journalisten aufatmen.

Wie nach einem lauen Frühlingsregen blühte der Blätterwald auf, in dem bislang ganz allein die Wiener Zeitung gestanden hatte. Dutzende Journale wurden gegründet, oft nur für einen Tag, für eine Woche. Ein einziges überlebte bis auf den heutigen Tag: Die Presse nannte der gelernte Nobelbäcker August Zang sein Blatt nach französischem Vorbild. In Paris hatte der Mann viel Geld gemacht. Mit kleinen Brötchen gab sich der Wiener Großbürgersohn nie ab. Selbst als er bereits wohlbestallter Herausgeber der Presse war, spottete die Konkurrenz: „Herr Zang, ehemaliger Bäckermeister, entblödet sich nicht, von Geist, von Talent, von Fähigkeit zu sprechen. Von Dingen, die man nicht vom Backtrog abkratzt und sich zu eigen macht“ (Scheidl 2008).

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