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Katharina Füllenbach

KIRGISTAN

NOTIZEN ZU EINER REISE IM

FRÜHJAHR 2017

REISEPOSTILLEN Band 3

© 2017 Katharina Füllenbach, Text, Photos, Umschlagentwurf

Technische Unterstützung: Johannes Lamberts

Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg

ISBN  
Paperback: 978-3-7439-6275-0
Hardcover: 978-3-7439-6276-7
e-Book: 978-3-7439-6277-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Vorwort

Kirgistan, zwischen Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und China gelegen, gehört zu den kleinsten Stan-Ländern Zentralasiens und zugleich, jenseits aller historischen und politischen Wechselfälle, maßgeblich zum Territorium des weitverzweigten, mehr als tausend Jahre alten Karawanennetzes, welches seit dem 19. Jahrhundert im Westen als Seidenstraße bekannt ist. Bis in die Gegenwart hinein hat sich an dieser Schlüsselstellung nichts geändert und wesentliche Routen für Reise-und Transportbewegungen von Nord nach Süd, Ost und West und umgekehrt führen, ungeachtet der schwierigen landschaftlichen und klimatischen Grundbedingungen, durch das Land.

Nicht zuletzt die historischen und geographischen Umstände machen Kirgistan für den zeitgenössischen Reisenden zu einem interessanten Reiseziel. Seine Attraktivität wird dabei weniger durch spektakuläre touristische highlights erzeugt, als durch eine sehr eigene, traditionsbewußte, nomadische und mittlerweile postsozialistische Gegenwart, die dem aufmerksamen Besucher auf Schritt und Tritt und häufig genug in allen Facetten gleichzeitig begegnet.

Die sich aus dieser Gemengelage ergebenden Strömungen und Stimmungen einzufangen, bemüht sich der vorliegende Reisebericht und wenn sich der ein oder andere Eindruck für den Leser dabei nachvollziehbar vermittelt, erfreut das die Verfasserin.

KF

Bischkek 5. April 2017

Die Spuren der Vergangenheit Kirgistans im real existierenden Sozialismus begegnen mir das erste Mal morgens um vier bei der Einreise am Flughafen.

Uniformierte in großer Zahl bevölkern die Kontrollpunkte, an denen die Reisenden für die Einreise ins Land vorbeimüssen und es scheint, als würden die Insassen der nachts ankommenden Flugzeuge zu Trainingszwecken für neue Mitarbeiter verwendet. Die jungen Polizisten wirken allesamt sehr unsicher, starren minutenlang gebannt auf ihre Bildschirme und die vorgelegten Ausweisdokumente, blicken zuweilen hektisch zwischen beidem hin und her, springen dann auf und laufen durch das Ankunftsgebäude, um ihren entfernt stehenden Vorgesetzten zu einem Detail zu befragen. Die auf diese Weise erreichte durchschnittliche Bearbeitungszeit pro Person und Einreisestempel beträgt rund sieben Minuten. Zur Vermeidung eventuell drohender Beschleunigung oder gar Effizienz werden heute Nacht, im laufenden Verfahren, ein paar Mal Einreiseschalter, ohne erkennbaren Grund, geschlossen und deren Warteschlangen von jeweils 15-20 Leuten angewiesen, sich auf die Reihen vor den übrigen Schaltern zu verteilen.

Straßenszene, irgendwo in Kirgistan

Nur die Handvoll Ausländer aus der vollbesetzten Maschine Istanbul-Bischkek murrt über dieses insgesamt extrem langsame procedere. Die heimkehrenden Kirgisen nehmen das Ganze gelassen und widerspruchslos hin.

Hinter der Passkontrolle haben die Behörden ein zweites Hindernis im Einreiseparcours aufgebaut: Eine neuerliche Sicherheitskontrolle des mitgebrachten Gepäcks. Alle Koffer werden noch einmal gescannt und vermeintliche Auffälligkeiten mit einer Detailkontrolle am offenen Gepäckstück geahndet.

Mit meinen zehn Dosen Cappuccinopulver im Koffer bin ich unter den Auserwählten. Immerhin muß aber keine Dose mehr geöffnet werden, denn das haben die Türken früher am Abend in Istanbul schon erledigt. Die so ermöglichte Schweinerei hält sich jedoch in Grenzen, denn zumindest wurde die geöffnete Dose säuberlich wieder in die Plastiktüte zurückgepackt, aus der man sie herausgeholt hatte. Das hatten wir auch schon anders.

Die kirgisischen Sicherheitskräfte finden meine Selbstverpflegungszwänge wahrscheinlich genauso meschugge wie die türkischen. Verboten sind sie aber nicht und so sind wir ( die Dosen und ich ) mittlerweile wohlbehalten im Hotel angekommen.

Bischkek 6. April 2017

Der heutige Gang durch die Stadt führt vorbei am Bischkeker Hochzeitspalast. Vor dem Gebäude warten die Fahrer mehrerer Hummer-Stretchlimousinen auf den Abtransport ganzer Großfamilien, im ersten Stock blättern angehende Ehepaare die Alben von Ausstattungsanbietern auf der Suche nach der ultimativen Traumdekoration für den schönsten Tag im Leben. Mit Hilfe von USAid wurde der Hochzeitspalast in den letzten Jahren aufwendig restauriert und dient nun wieder als prachtvoller äußerer Rahmen für freiwillige Eheschließungen kirgisischer Brautpaare.

Ganz und gar nicht freiwillig ist die Mehrzahl der geschätzt 15.000 Ehen jährlich, die durch Brautraub zustande kommen. Mädchen und junge Frauen werden hierbei ohne ihre Zustimmung in das elterliche Haus eines Mannes gebracht und dort zu einer Verheiratung gezwungen, die zumeist schon vorbereitet ist und folglich sofort durchgeführt werden kann. Allein ihre stundenlange Anwesenheit in dem Haus läßt sie in den Augen der Gesellschaft die Ehre verlieren und ihre Chancen auf einen selbstgewählten Ehemann zu nichts gerinnen. Aus diesem Grund wehren sich offenbar viele der Entführten

Aufgang Hochzeitspalast, Bischkek

letztlich nicht und ergeben sich in das nicht gewählte Schicksal, egal wie wenig der plötzlich aufgetauchte Bräutigam emotional, sozial oder von seinem Bildungsniveau her passen mag.

Brautraub wird in der kirgisischen Gesellschaft als selbstverständlicher Teil der männlich dominierten Tradition angesehen. Deswegen hat die Familie des Mannes, trotz der rechtswidrigen Umstände, auch keine moralischen Probleme, mit der Familie der Frau anschließend in Verhandlungen zur Brautpreishöhe zu treten.

Menschenrechtsorganisationen berichten, daß die Zahl der Fälle nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Sowjetrepublik drastisch gestiegen ist. Untersuchungen des amerikanischen Soziologen Russ Kleinbach legen in diesem Zusammenhang die Vermutung nahe, daß schon immer rund ein Drittel aller verheirateten Frauen betroffen war. Bei seinen neueren Forschungen hat er darüber hinaus festgestellt, daß in manchen Dörfern zwanzig Prozent der Frauen über siebzig auf diese Weise verheiratet wurden und achtzig Prozent der Frauen unter dreißig.

Über die Gründe für diesen massiven Anstieg wird viel gemutmaßt. Sicherlich wurde er nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems befördert in dem Maße, wie die staatlichen

Traualtar im Hochzeitspalast, Bischkek

Strukturen zerfielen und das Recht des Stärkeren, unter dem Deckmäntelchen der Tradition, wieder Oberhand gewann. Auch mag die Zahl der verabredeten Entführungen gestiegen sein, mit denen junge Liebespaare eine Ehe von Eltern erpressen, denen die wirtschaftlichen Mittel für die extrem teuren Feierlichkeiten fehlen.

Das Phänomen ist gesamtgesellschaftlich aber immerhin so drängend geworden, daß die kirgisische Republik 2013 ein Gesetz erließ, welches die Entführer seitdem mit langjährigen Haftstrafen bedroht. Ob durch diese strafrechtlichen Veränderungen betroffene Frauen ihre Situation mit einer Anzeige öffentlich machen, wird aber wahrscheinlich von einer Reihe anderer Faktoren abhängen, die von diesem Gesetz erst einmal nicht berührt sind.

Bischkek 7. April 2017

Der 7. April ist seit 2010 in Kirgistan ein nationaler Feiertag. Im April dieses Jahres formierte sich die Unzufriedenheit des Volkes gegen den damaligen Präsident Bakijew zu landesweiten Demonstrationen, die von der Regierung mit der Ausrufung des Ausnahmezustands beantwortet wurden. Die Folge waren tagelange gewalttätige Zusammenstösse zwischen Demonstranten

und Sicherheitskräften, die erst nach zahlreichen Toten mit der Absetzung Bakijews vorläufig endeten.

Dieses Jahr ist der Tag in Bischkek Anlass zu großen offiziellen Feierlichkeiten. Ab dem frühen Morgen werden auf einer Bühne vor dem Nationalmuseum Tanz- und Musikeinlagen sowie szenische Lesungen und gruppenstarkes Fahnenschwenken im Durchlauf geprobt. Gestern wurde schon öffentlich probiert, aber auch heute brüllt sich der verantwortliche Regisseur noch einmal die Seele aus dem Leib, um seine unsortiert wirkenden Darsteller in Formation zu bringen.

Der Platz zwischen Nationalmuseum und Ministerien ist komplett gesperrt und mit Polizisten Mann an Mann abgepollert. Das Publikum trudelt, verlangsamt durch die Sicherheitschecks an den streng kontrollierten Eingängen, sukzessive ein: Ältere Frauen mit Kopftuch und junge Mädchen in Minirock über skinny Jeans, dazwischen Russinnen mit hell gefärbten Haaren. Viele Männer tragen die landestypischen Filzhüte, die moderne Version: base cap aus Filz, geht aber auch. Der Beginn der offiziellen Feierlichkeiten wirkt ein wenig rumpelig. Ein kleines Orchester spielt zwei Stücke, verstummt danach für eine viertel Stunde, auf der Bühne ratlos

Sicherheitsabsperrung am Museumsplatz, Bischkek

auf Anweisungen wartend. Schließlich wird den Verantwortlichen offenbar bedeutet, daß der hauptredende Bürgermeister von Bischkek nicht pünktlich ankommen wird und das Orchester nimmt für weitere zwanzig Minuten seine Arbeit wieder auf. Nach diesen anfänglichen Irritationen läuft das übrige Programm ohne erkennbare Pannen ab: Beim Abspielen der Nationalhymne hören die Zuschauer, mit einer Hand über dem Herzen, konzentriert zu, Filmsequenzen und szenische Darstellungen zur Geschichte des Landes wechseln sich ab mit Gesangseinlagen populärer kirgisischen Interpreten und ein Conferencier spricht mit ergriffener Stimme die Übergangstexte zwischen den Programmpunkten.

Insgesamt jedoch trifft die Veranstaltung scheinbar nicht auf übermäßiges Interesse in der Bevölkerung. Das Geschäftsleben zeigt sich von dem Datum gänzlich unbeeindruckt und nur öffentliche Einrichtungen wie Ämter und Ministerien arbeiten heute nicht. Auch die insgesamte Besuchermenge auf dem Festplatz kann kaum als Indiz für eine Massenbewegung herangezogen werden. Aber vielleicht täuscht das alles und heute Abend geht hier doch noch die Luzy ab.

Letzte Vorbereitungen

Ich tue mich bisher mit diesem Land ein wenig schwer. Die Menschen sind nicht unfreundlich, aber alles wirkt deutlich postsozialistisch freudlos. Wie in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken auch bedeutet die andauernde Transitphase zwischen Sozialismus und Kapitalismus für den Einzelnen einen harten Existenzkampf. Und wie in anderen betroffenen Ländern auch gibt es Stimmen, die laut aussprechen, daß sich seit der Unabhängigkeit wirtschaftlich nichts zum Besseren gewendet hat und es vielen Menschen heute schlechter geht als vor 25 Jahren.

Ich empfinde die Enttäuschung derer, die als junge Erwachsende 1991 voller Hoffnung in die Zukunft geblickt haben und die heute, mit einem Gefühl der Vergeblichkeit, auf ihre verflossene Lebenszeit schauen, als allgegenwärtig spürbar.

Teilnehmer der offiziellen Feierlichkeiten

Bischkek 8. April 2017