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Nr. 2951

 

Die Dynastie der Verlorenen

 

Besuch bei den Menes – sie suchen nach dem Sternenwanderer

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Sternenwanderer

2. Kapuzenwald

3. Ahnin

4. Urahnin

5. Rettung

6. Weiße Halle

7. Cucullaten

8. Widerstand

9. Besuch

10. Niemandssohn

Leserkontaktseite

Glossar

Risszeichnung Robotraumer der VALET-Klasse

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Gut dreitausend Jahre in der Zukunft: Perry Rhodans Vision, die Milchstraße in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln, lebt nach wie vor. Der Mann von der Erde, der einst die Menschen zu den Sternen führte, möchte endlich Frieden in der Galaxis haben.

Unterschwellig herrschen immer noch Konflikte zwischen den großen Sternenreichen, aber man arbeitet zusammen. Das gilt nicht nur für die von Menschen bewohnten Planeten und Monde. Tausende von Welten haben sich zur Liga Freier Galaktiker zusammengeschlossen, in der auch Wesen mitwirken, die man in früheren Jahren als »nichtmenschlich« bezeichnet hätte.

Besucher aus anderen Galaxien suchen Kontakt zu den Menschen und ihren Verbündeten. Derzeit machen vor allem die Thoogondu aus der Galaxis Sevcooris von sich reden, einst ein von ES erwähltes und dann vertriebenes Volk. Dazu gesellen sich die Gemeni, die angeblich den Frieden in der Lokalen Gruppe im Auftrag einer Superintelligenz namens GESHOD wahren wollen.

Mitten in diese Gemengelage hinein kehrt Atlan aus den Jenzeitigen Landen zurück – und landet auf einer fremden, fernen Welt zwischen menschlichen Nachkommen, die sich selbst Menes nennen. Deren Geheimnis hütet DIE DYNASTIE DER VERLORENEN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan da Gonozal – Der Arkonide forscht nach dem Sternenwanderer.

Fitzgerald Klem – Der Geheimdienstagent hat viele Fragen.

Skadi Klem – Die Ahnin kennt Antworten.

Lorina Hammingway – Die Verlorene glaubt an Zwerge.

Jesse McLoughlin – Der Verlorene hat keinen Glauben.

»Warum kann niemand die Zwerge vom grünen Hügel fangen, Mummy?«

»Weil sie sich unsichtbar machen können, mein Schatz.«

»Haben sie Tarnkappen? Wie Siegfried die von Alberich?«

»Nein. Sie brauchen keine. Sie entscheiden, wann sie sichtbar sind und wann nicht. Meistens verstecken sie sich vor den Menschen. Wenn sie sich zeigen, verbergen sie ihre Gesichter. Niemand hat je ihr Antlitz gesehen.«

Lorina und Deborah Hammingway

 

 

1.

Sternenwanderer

Atlan da Gonozal

 

Der Regen klatschte auf den Beton, spritzte vom Boden ab, sammelte sich in der abschüssigen Rinne neben mir und schoss sie hinunter. Ich hob den Schirm scheinbar mühelos mit einem Arm, doch der Wind zerrte an dem schwarzen Kunststoff, drohte das Gestänge zu verbiegen und unbrauchbar zu machen. Meine Muskeln verkrampften im Kampf gegen die fauchenden Böen.

»Was für ein Dreckswetter«, sagte Fitzgerald Klem. Er schritt schnell aus, weiter als üblich.

Ich hatte den Geheimdienstagenten als jemanden kennengelernt, der seine wahren Fähigkeiten verbarg.

Automatisch passte ich mich den Schritten des leicht untersetzten, dabei aber beinahe gleich großen Mannes an, und achtete darauf, dass er trocken blieb. Mir dagegen schlug das Wasser an die Schulter, wobei dank der zuvor organisierten Pelerine kein Tropfen durchdrang. Allerdings schwitzte ich unter dem ponchoartigen Kleidungsstück.

Während wir auf ein unterwegs bestelltes Elektroauto zugingen, schaute ich flüchtig zurück. Es war mehr eine Gewohnheit, als dass es wirklich der Tatsache geschuldet gewesen wäre, dass ich gesucht wurde. Mein Blick streifte das von grauen Schleiern verborgene Luftschiff, die wenigen, filigranen Gebäude hinter ihm und den dünnen Streifen Sand, der zwischen der verlassenen Landschaft und dem Meer lag. Ich wusste, dass es eine kleine Stadt in der Nähe gab, doch von dieser Position aus sah ich nichts davon. Mir schien, als wäre ich am Ende Cessairs angekommen, dem Ende dieser Welt. Mitten im Nirgendwo.

Narr! Du bist da, wo du am liebsten bist – mitten im Getümmel, sagte der Extrasinn.

Damit erinnerte mich der Logiksektor an die Worte Julian Tifflors. Der alte Freund hatte mich auf diesem Planeten abgesetzt, nicht ohne in Form eines interaktiven Holos kryptische Andeutungen zu machen, was mich auf dieser Welt erwarten würde. Offensichtlich musste man kryptische Andeutungen machen, wenn man ein Atopischer Richter war oder im Auftrag einer kosmischen Superintelligenz handelte. Die Fähigkeit, klare Aussagen zu treffen, gab man bei Dienstantritt vermutlich ebenso ab wie persönliche Bedürfnisse.

Hör auf zu grübeln und achte auf den Schirm!, ermahnte mich der Extrasinn. Willst du deine Tarnung auffliegen lassen? Du bist ein Butler, schon vergessen?

Es vergeht kaum eine Minute, ohne dass du mich daran erinnerst.

Es ist mir ein Vergnügen.

Ich weiß.

Ich korrigierte die Schirmhaltung, hielt das schützende Dach über den Agenten. Klem zog sein Pok-Sheet hervor, gab dem zusammengefalteten Gerät eine Sprachanweisung und ratterte eine Zahlenabfolge hinunter. Der Wagen vor uns summte. Die Tür vor Klem glitt auf, und eine angenehm modulierte Frauenstimme begrüßte uns.

»Einsteigen, die Herren! Bei so einem Wetter sollte man keine Zeit verlieren!«

Ich ging auf die Fahrerseite. Das Auto hatte keine Pedale. Es dauerte einige Sekunden, bis ich mich mit der Lenkung und den zusätzlichen Funktionen zurechtfand. Unser Ziel war bereits einprogrammiert. Im oberen Lenkradbereich leuchtete ein kleines gelbes Dreieck, das mir anzeigte, dass ich dem Straßenverlauf folgen sollte. Ich wählte manuelle Steuerung und schaltete den Sprachmodus dazu. Das Lenkrad reagierte auf den Druck meiner Hände. Neben mir flammte das Display auf.

»Starten!«, sagte ich.

Der Motor sprang an, sirrte leise. Sein Geräusch ging im Prasseln des einsetzenden Hagels unter. Die Scheibenwischer kamen kaum gegen die Naturgewalten an, doch sie kämpften sich tapfer durch. Das Wasser in der Rinne stand inzwischen knöchelhoch. Vorsichtig erhöhte ich den Händedruck. Ein abruptes Umklammern würde den Motor zum Notbremsen veranlassen, und mir war klar, wie extrem dieser Wagen beschleunigte, wenn ich nicht aufpasste. Wäre ich allein gewesen, hätte ich trotz Regen getestet, wie stark mich ein rasches Anfahren in den Sitz drückte.

Im Rückspiegel sah ich einen Ast von der Größe eines Arms dicht neben die Fahrbahn stürzen. Ich zog den Wagen leicht mittig. »Ein Paradies, dieser Kontinent. Habt ihr auf Siluria öfter so ein Traumwetter?«

»Sintflutartige Regenfälle sind normal.«

Warum überraschte mich das nicht? »Das Leben auf Cessairs Welt scheint hart zu sein.«

Klem nickte abwesend.

Wir glitten über die Straße. Als wir die erste Kurve nahmen, öffnete sich der Blick auf die kleine Stadt New Ryh unter uns. Sie lag zum Meer hin, hatte etwas Verschlafenes an sich. Helle und dunkle Gebäude wechselten einander ab, eingebettet in die weitläufige Landschaft. Viele hatten Türme und Türmchen, strebten getragen von unzähligen Säulen in einem neoviktorianischen Stil nach oben. Treppen und weiße Balkongitter erfreuten sich großer Beliebtheit. Überall wuchsen Pflanzen, die sich grün oder blau an Säulen und Streben hinaufrankten.

Im Grunde wirkte New Ryh freundlich, ein Ort, an dem man sich wohlfühlen und Kindern beim Spielen und Aufwachsen zuschauen konnte. Dennoch hatte ich ein schlechtes Gefühl. Ich traute Cessairs Welt nicht. Dieser Planet war zu perfekt, genau wir die Regierung, das »Gemeinwesen Aller Menes«, kurz GAM genannt.

Paranoia, kommentierte der Extrasinn. Du hast zu viel erlebt, um wahren Frieden zu erkennen, wenn er sich vor dir ausbreitet. Die Kultur der Menes ist eine echte Alternative zur terranischen.

Die der Menes vielleicht schon. Ich dachte an die Cucullaten. Sie schienen mehr als ein Geheimnis zu haben.

Fitzgerald Klem steckte das Pok-Sheet wieder ein. Sein Blick fiel auf die regennasse Fahrbahn. Auch wenn er mich nicht ansah, spürte ich, dass er mich beobachtete. Er war weit davon entfernt, mir vollkommen zu vertrauen, ebenso wir ich ihm gegenüber argwöhnisch blieb. Wir waren keine Freunde, sondern eine Zweckgemeinschaft. Sicher überprüfte Klem jede meiner Reaktionen.

»Du musst viele Fragen haben«, sagte ich.

»Vor allem eine.«

»Ob ich der Sternenwanderer bin?«

»Yupp.«

»Das wüsste ich selbst gern. Ich habe auf dieser Welt zum ersten Mal davon gehört. Ich hoffe, diese Reise bringt uns weiter, und deine Ahnin hat Antworten.«

»Das hoffe ich auch.« Klem berührte das Amulett, das an einer silbernen Kette um seinen Hals hing. Es war ein winziges, offenes, seltsam verdrehtes Dreieck aus eisgrau schimmerndem Material. Nachdenklich fuhr er mit Zeigefinger über die Oberfläche. »Skadi weiß eine Menge. Ich hätte sie vieles schon früher fragen können, aber ...« Er verstummte.

Instinktiv wusste ich, dass es unklug gewesen wäre nachzufragen, was er hatte sagen wollen. Ich ahnte es ohnehin: Klem fürchtete sich vor dem, was er erfahren könnte. Etwas beunruhigte ihn. Das Thema war ihm sichtlich unangenehm. Er starrte hinaus in den Regen, als wäre er am liebsten woanders.

Tiefschwarze Wolken verdunkelten den Himmel, sodass die Lampenphalanx an der Vorderseite des Wagens automatisch ansprang. Die Sturmböen wurden heftiger.

Zum Glück war der Wagen derart schwer, dass sogar ein weitaus größeres Unwetter ihn nicht von der Straße hätte drücken können. Zusätzlich zu den normalen Reifen war er mit Raupenkette und einem magnetohydrodynamischen Antrieb ausgestattet. Mich beruhigte der Gedanke, dass wir im Notfall zu Klems Ahnin schwimmen konnten. Der Himmel spie mehr Wasser aus, als ich seit Jahren gesehen hatte.

Was kein Kunststück ist, ätzte der Extrasinn. In Atopischen Sonden regnet es nicht.

Wie fuhren weitläufig an der Stadt vorbei, folgten der erhöhten Küstenstraße. Während sich links neben uns der wogende Ozean erstreckte, breitete sich zu unserer Rechten eine karge, von Feldern durchzogene Landschaft aus, die gegen den Wald brandete.

In den Rückspiegeln verschwand die Stadt hinter grauen Schleiern. Vor uns lagen mindestens drei Stunden Fahrt, und das nur, weil die Cucullaten keine Annäherung oder Benutzung von Luftfahrzeugen auf diesem Kontinent duldeten. Sie waren ein sonderbares Sternenvolk. Ihre Technik übertraf die der Menes bei Weitem, doch die Cucullaten wollten offensichtlich nicht zu viele hoch entwickelte Geräte in ihrer Nähe haben. Jedenfalls dann nicht, wenn andere sie benutzten.

»Warum leben die meisten Cucullaten zurückgezogen?«

Klem hob die Schultern, ließ sie wieder sinken. »Da kannst du mich ebenso gut fragen, warum es so viel regnet. Die Cucullaten sind eben, wie sie sind.«

Ich wies mit dem Kopf zur Seite. »Hast du dich nie gefragt, was sie in diesem Wald verbergen?«

»Es gibt einige Gerüchte, doch ich halte sie für Phantastereien. Die Cucullaten haben nichts zu verbergen. Sie wollen einfach unter sich sein.«

Meine Lebenserfahrung widersprach ebenso heftig wie mein Sinn für Rätsel und Abenteuer, doch ich hielt mich zurück. Für Klem waren die Cucullaten Wesen, die er respektierte, ja, denen er vielleicht sogar etwas schuldete.

Es hieß, die Cucullaten hätten die Menes gerettet. Die Zeitrechnung der Menes basierte auf diesem Ereignis, was darauf hinwies, wie hoch der kulturelle Stellenwert war. Aber wann war das gewesen? Von wo aus? Ich hatte meine Vermutungen und hoffte, dass Skadi Klem sie bald bestätigte oder widerlegte.

Da! Der Extrasinn klang alarmiert.

Ein heller Punkt explodierte vor dem Wald am Himmel, spie Schlieren aus Feuer in alle Richtungen und tauchte die Baumkronen in grelles Orange.

Klem lehnte sich im Sitz vor. »Ein Notsignal! Jemand ist in Lebensgefahr! Wir müssen helfen!«

Ich entdeckte einen befestigten Feldweg, riss den Wagen herum und raste dem verblassenden Leuchtstern entgegen.

 

 

John Pierce

 

John Pierce hob das Pok-Sheet ein Stück höher. Der Regen blockierte das eingehende Signal. Er fluchte. Wenn er sich nicht beeilte, war er hinter der Mauer gefangen. Dann konnte es Stunden oder Tage dauern, bis er einen anderen Ausweg fand. Bis dahin erwischten ihn die Hüter.

Nervös lauschte er auf das Prasseln der Tropfen, den Wind in den Büschen und Bäumen. Mehrere Knarrpilze ächzten bizarre Lieder, angeregt vom Sturm. Es klang wie eine Mischung aus Drohung und Beschwörung, allerdings in einer Sprache, die John nicht kannte. Aber da war noch etwas anderes, Fremdes. War da nicht ein Knacken, das nicht an diesen Ort gehörte?

John zog sich tiefer in den Schatten eines Riesenpilzes zurück, kauerte sich hinter den Fadenschleier, der von dem kreisrunden Hut wie ein Vorhang nach unten fiel. Sein Herz schlug schneller, als wollte es davonlaufen. Angestrengt versuchte er, den Wald mit Blicken zu durchdringen, die Ursache für jeden Laut in der Nähe zu erkennen.

Da war nichts. Vielleicht hatte er sich getäuscht.

Bei einem derartigen Unwetter war das kein Wunder. Nervös kontrollierte er den Bildschirm. Das Signal war wieder da. Es war deutlich schwächer als zuvor. Ihm blieben maximal zwanzig Minuten für eine Rückkehr.

»Zum Banshee mit meiner Neugier!« John sprang auf, hastete aus dem Versteck.

Er bemerkte eine verirrte Drachlette, die sich wie ein feuerroter Funken durch den Regen kämpfte. Ihre Flügel mussten klatschnass sein.

Außer der Drachlette sah er keine Tiere. Auch von Hütern war keine Spur zu entdecken. Zum Glück.

Er hetzte den schmalen Pfad zurück, der sich irgendwann vor Jahrtausenden durch ätzende Pilzabflüsse gebildet hatte. Die Rille war kaum zehn Zentimeter breit, verzweigte sich öfter. In ihrer Mitte wuchsen weder Moosknollen noch Gräser. Die Erde war bedeckt von schwarzer, ausgehärteter Masse, die Samen weder Halt noch Nahrung bot.

Normalerweise eigneten sich die dunklen Rillen gut zur Orientierung, doch durch den Sturm erkannte John seine Wegmarken nicht mehr. Pilze, Gräser und Bäume waren in ständiger Bewegung.

Das Bild um ihn veränderte sich von Sekunde zu Sekunde. Mit jeder Böe wirbelten die Zweige von Stechgrünlingen auf, jagten Pilzschleier oder die langen Ausläufer von Peitschenfüßlern durch die Luft, wirbelten ausgerissene, armlange Gräser wie rotierende Propeller um sich selbst.

Ein dünner Ast schlug John ins Gesicht. Er streifte ihn ab, blieb unsicher stehen.

War das die gleiche Schwarzrille, der er in den Wald gefolgt war? Wenige Meter entfernt leuchtete es fahl in der Dämmerung. Obwohl es früher Nachmittag war, wirkte es, als wäre Glasgows Stern bereits untergegangen. Der Himmel war pechschwarz. Dieses Licht kam nicht von der Sonne.

»So ein Mist!« Er stand in der Nähe eines Gelbschleierfelds. Die bis zu vier Meter hohen Pilze gaben schwaches, biolumineszentes Licht ab. John war auf dem Hinweg ganz sicher nicht an diesem Feld vorbeigekommen, daran hätte er sich erinnert.

Hastig hob er das Pok-Sheet. Vielleicht konnte er über das eingehende Mauersignal eine Richtung ermitteln. Tatsächlich bemerkte er eine Tendenz nach links. Er hetzte weiter, stolperte über etwas, das er in der Dunkelheit nicht gesehen hatte. Das Sheet flog ihm aus der Hand, landete mit einem dumpfen Laut im Moos.

John fing sich. Mit einer Hand stützte er sich am Boden ab, griff in etwas Klebriges, Weiches, das einen angenehmen Geruch verströmte. Seine Augen weiteten sich.

Eine Speihaut! War er etwa in der Nähe eines Nestes? Mit einer Horde junger Speis wollte er sich nicht anlegen.

Er richtete sich auf, schaute sich um – und blickte direkt in das Gesicht eines Jungspeis. Das knapp zwei Meter große Tier hockte wie ein Hügel auf seinen sechs Beinen. Der pyramidenförmige Körper glänzte in schillerndem Blau. Die Haut war noch ganz neu, feucht und rau vom Abstreifen der alten Körperhülle. Zwischen den Schuppen glitzerten dünne, silberne Linien.

Langsam wich John zurück.

Speis waren nicht bösartig, im Grunde wollten sie bloß spielen. Doch sie hatten genug Kraft, einem Menes dabei alle Knochen im Leib zu brechen.

»Ganz ruhig!« John hob beide Hände. Er hatte keine Waffe bei sich. Sollte er Elzbeth und Margret rufen? Nein. Was, wenn sie ihm folgten und mit ihm im Wald gefangen wurden? Im schlimmsten Fall brachte er sie damit in Lebensgefahr und im besten würde es Ärger geben – richtigen Ärger. Und wofür? So schnell, wie er sie und ihre Lähmpistolen brauchte, würden sie nicht da sein können.

Ihm blieb nur eine letzte Hoffnung: rennen!

John drehte sich um, sprintete los. Wenn er Glück hatte, war der junge Spei von der Häutung geschwächt und würde ihm nicht folgen. Er jagte über abgerissene Fadenschleier, Crabberkrusten und Äste von Stechgrünlingen.

Folgte der Spei ihm? John wusste es nicht. Durch den Wind hörte er keine anderen Geräusche mehr. Die Kapuze der Pelerine wehte zurück. Innerhalb weniger Augenblicke waren seine Haare klatschnass. Das Wasser lief ihm über das Gesicht. Er kam an eine Erdspalte, setzte darüber und rutschte bei der Landung im Schlamm aus.

Es knackte hässlich.

John schrie vor Schmerz, sackte zurück, verlor den Halt und stürzte in die Erdspalte.

2.

Kapuzenwald

Atlan da Gonozal

 

Vor uns veränderte sich der Feldweg. Eine Warnmeldung leuchtete auf. Ich hielt den Wagen an.

»Was ist?«, fragte Klem.

»Ab hier müssen wir zu Fuß weiter! Der Wagen ist zu schwer. Ich weiß nicht, ob uns die Ketten aus dem Morast wirklich herausholen könnten.«

»Dann los!« Klem stieg aus. Den Schirm ließ er liegen. Auch er trug eine Pelerine, die ihn vor dem Gröbsten schützte. Unsere Hosen wiesen den Regen ab, schützten aber nicht davor, dass mir das Wasser in die Stiefel lief. Es fand jede noch so kleine Lücke zwischen Schaft und Saum.

Erneut erstrahlte ein Stern aus Feuer über uns, dieses Mal keine hundert Meter entfernt. Einen Moment tauchte der Schuss aus der Signalpistole die Felder in zuckendes Orange. Ich erkannte Reihen um Reihen von gut anderthalb Meter hohen, ananasähnlichen Pflanzen, deren grüne Spitzen in Büscheln endeten und im Wind zuckten. In regelmäßigen Abständen ragten Vogelscheuchen auf. Eine schien mir zuzuwinken. Sie trug einen gelben Plastikhut, der fest am Kopf aus braunen Gräsern verschnürt war, und tanzte im Sturm. Auf ihrem Gesicht lag ein breites Grinsen.

»Da drüben!«, rief Klem.

Ich hatte es ebenfalls gesehen. Zwei Gestalten in weißer Regenkleidung standen an einem halb im Boden versunkenen Fahrzeug. Beim Näherkommen erkannte ich, dass es Frauen waren. Beide hatten lange, hellbraune Haare, die aus den Kapuzen der Mäntel hingen.

»Hey!«, rief Klem. »Was ist passiert?«

Die Größere der beiden stürzte uns entgegen. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen.

»John!«, stieß sie hervor. »Er kommt einfach nicht zurück! Wir wissen nicht, wo er steckt!«

Die kleinere Frau senkte den Kopf, als würde sie sich schämen. »Lass das, Margret! Mit Lügen kommen wir nicht weiter!« Sie wandte sich an mich. »Wir können froh sein, dass ihr da seid! Ich bin Elzbeth Pierce. John ist unser Bruder. Er ist im Wald. Ihm muss etwas passiert sein, sonst wäre er längst zurück!«

Das sind fast noch Kinder, stellte der Extrasinn fest. Keine achtzehn Jahre alt.

»Im Wald?«, hakte ich nach. »Wo ist er reingegangen?«

Die Kleinere deutete in gerader Linie zu den Bäumen, die alles überragten. »Er hat eine Lücke im Schutzwall gefunden. Da drüben. Wir verpfeifen ihn echt ungern, aber vielleicht ist er in Gefahr, und unser Eero ist liegen geblieben.« Sie wies auf das Fahrzeug. »Ohne Eero kriegen mich keine zehn Pferde da rein!«

Ein Blitz zuckte über den Himmel, spaltete das Grau in mehrere scharf gezackte Segmente. Er schlug im Wald ein, wenige Kilometer entfernt. Der Donner kam schnell.

»Ich werde ihn suchen. Dyn Klem, bring die Frauen in den Wagen! Hier draußen ist es zu gefährlich.«

Klem kniff die Augen zusammen. »In den Wald gehen? Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«

Ich lächelte. »Ich kann auf mich aufpassen!«

Geduckt lief ich los, auf das leichte Flirren zu, das am Waldrand lag. Offensichtlich war es ein Schutzschirm, wahrscheinlich der Wall, von dem Elzbeth gesprochen hatte.

Mir bot sich unverhofft die Chance, einen Blick in den geheimen Wald der Cucullaten zu werfen – und das auch noch unter einem noblen Vorwand. Ganz davon abgesehen machte ich mir Sorgen um den Jungen. Vielleicht war ihm wirklich etwas passiert.

Atlan, der edle Retter der Jugend, spottete der Extrasinn. Hat deine Freundschaft zu Lua und Vogel dich weich gemacht?

Hast du das Zweite Eherne Prinzip der Dagorista vergessen? Fürsorge des Starken für Schwache und Kranke. Warum sollte ich diesem John nicht helfen?

Weil dich die Hüter erwischen könnten! Oder die Cucullaten! Wie willst du Antworten finden, wenn deine Tarnung auffliegt und du in Gefangenschaft gerätst?

Ohne Risiko kein Spaß. Und wer weiß, welche Antworten mir jemand geben kann, der in diesem Wald ist.

Ich betrachtete die Bäume vor mir, suchte in den Räumen zwischen ihnen. Durch den Regen flimmerte die Luft leicht, dort wo das Wasser über den Schirm ablief.

Der Bewegung nach war es ein einfacher Prallschirm, der Materielles lediglich abstieß, statt es in ein höheres Kontinuum abzuleiten. Er war mindestens zwanzig Meter hoch. Ob er wohl tatsächlich eine Lücke hatte oder – wieder – geschlossen um den kompletten Wald lag?

Vermutlich gab es in regelmäßigen Abständen Generatoren, die nicht immer einwandfrei zusammenarbeiteten. Eine derartige Fläche energetisch zu schützen war ein Aufwand, wie ihn nur ein technisch sehr hochstehendes Volk betreiben konnte. War das wirklich ein Werk der Menes, oder basierte die Mauer auf Plänen der Cucullaten?

Bemerkst du die Kühle?, fragte der Extrasinn.

Ich nickte. Der Schirm saugt Energie ab.