Theodor Lessing

Nietzsche: Biographie

 
 
 
 
 
 
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2017 OK Publishing

 
ISBN 978-80-272-2831-7

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Hintergrund
Die Jugend
Die Befreier
Die Geburt der Tragödie
Das neue Reich (1870)
Die Unzeitgemäßen Betrachtungen
Philosophie des Vormittags
Der Psychologe
Wille zur Macht: Rückschlagsgefühle (Ressentiment)
Das Kulturproblem
Entwicklungslehre. Darwin
Leben
Die Zarathustrazeit
Der Übermensch. Christus in Rosen
Weib und Liebe
Letzter Mensch. Höherer Mensch
Seinswert und Tatwert
Ewige Wiederkehr
Umwertung aller Werte
Ecce Homo
Komödie des Ruhms

Einleitung: Hintergrund

Inhaltsverzeichnis


Die Zeit hatte Petri Felsen unterhöhlt. Die Bildungsmenschheit löste sich auf. Noch schuf das katholische Christentum eine alle weißen Menschen verbindende Atemluft. Aber immer klarer schon ward es: Die Religion der Liebe kittet keine Gemeinschaft. Sie liebt nicht die Blumen. Sie mißachtet die Tiere. Sie kümmert sich nicht um Wolke und Wind. Sie verdrängt die große nichteuropäische Völkermasse, die man »Heiden« nannte. Und so zerfiel der Bund der weißen Rasse in Galle und Träne. In Widerspruch und Streit. Einzelne gegen Einzelne ...

Luthers starke Hand führte den ersten Streich. »Warum soll ich der Kirche gehorchen?« rief der trotzige Sachse. »Ich, der ich selber Gottes Stimme im Gewissen trage? Kommt es an auf Werke? Nein! Auf Gesinnung, auf Glaube, daraus Werke entsprießen. Das Maß aber, nach welchem der immerwache Richter seine Urteile fällt, das Maß bin Ich: Das geistige Selbst! ...« Um 1500 ward der protestantische Mensch geboren. Jener nordische Mensch, der unter dem kühleren, nüchternen Himmel ganz sich stellte auf seines sittlichen Willens wacheste Bewußtheit. Nicht mehr Träumer wie der Slawe. Nicht mehr Bildner wie der Lateiner. Vernünftelnde Geistigkeit siegte. Und was Luther begonnen hatte (die Loslösung des Menschen aus traumhaft vorbewußtem Element), das vollendete um 1800 Immanuel Kant. Denn Kant, unser zweiter Luther, verkündete: »Ich selber mache die Natur. Ein transzendentaler Geist ist es, der die Natur trägt und ihr Gesetze vorschreibt.« Von nun ab, unaufhaltbar, vollzog sich die Auflösung. Die Relativierung unseres Wissens; die Atomisierung unserer Arbeit; die Funktionalisierung der Gestalt. Dies war der Fortschritt zum europäischen Nihilismus.

Dieser Vorgang der Verselbständigung des Geistes und des Dinglich- oder Gegenständlichwerdens aller Lebensnatur, die große Loslösung: Hie Mensch – Hie Welt, sie gipfelte schließlich in den unerhörten Querköpfigkeiten der deutschen Philosophie. In den fast irrsinnigen Begriffsungetümen Hegels, Kierkegaards, Fichtes, Feuerbachs, Stirners. Diese unentwegten Anarchisten Europas verkündeten schließlich eine Eigenherrlichkeit des menschlichen Selbst. Nun gab es kein Seiendes mehr, es sei denn ein Bewußtsein. Keine Werte mehr, es seien denn Persönlichkeitswerte. Und alles Seiende, alles Persönliche war: Geist. Am Geiste schwand das Leben dahin, wie die Flamme alle Gestalt vernichtet, wenn sie, die allein belebende, erst einmal heraustritt aus der Kette der schönen Gebilde und blindwütig, feindgeworden ihr gegenübertritt ...

Dies war das Ergebnis von zwei Jahrtausend christlicher Weltgeschichte. An ihrem Ende (den Wahn dieser »Weltgeschichte« auf den Gipfel treibend, aber damit auch den Geschichtsprozeß vernichtend) erscheint Friedrich Nietzsche. Zugleich der letzte in der großen Reihe germanisch-protestantischer Anarchisten des Geistes, zugleich der erste, welcher eine Morgenröte entzündete, die weit hinausbricht über die Grenzen kaukasischer Bildungsmenschheit, weit hinaus auch über die Grenze unseres kleinen Deutschland ... Wunderlicher Zwiespalt des Menschen! Aus geballter Enge kommen erlösende Stürme. Aus evangelischen Schulhäusern Zersetzer des Christentums. Sie wurzeln in der überlieferten klassischen Bildung, welche aufbaut auf dem erträumten Griechenland, dem nie gewesenen. Feinster Erfüller dieser Bildung ist Nietzsche. Und sprengte doch die Pforte zu anderem Bereich. Denn alles Leben sucht sein Gegenich und brennt wie nach Macht, so nach Erlösung.

Treten wir ein in ungeheures Schicksal. In das Schicksal der tragischen Seele, die alles, was sie liebt, und zuletzt sich selbst opfern muß. Aus gewohnheitbedingtestem Kreise der Erde, dem deutschen Bürgertum, wuchs der Zertrümmerer alles Gewohnten. Aus züchtigster Gebundenheit stieg der Umwerter aller Werte. Aus christlichem Mythos der Antichrist.

Die Jugend

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Wo gibt es mißbrauchteres, ausgeödeteres Land als die Felder Sachsens? In dichtbevölkerten, vom Kohlenrauch verhüllten Ebenen liegen Dörfer, die nicht mehr Landschaft und noch nicht Stadt geworden sind. Rübenfelder, Kartoffelfelder, Nutzwiesen. Zwischen Schloten steht spärlicher Nadelwald. Aber an den städteverbindenden Landstraßen wächst Deutschlands schönster Baum: die Birke. Blond wie das Flachshaar der norddeutschen Kinder. Zart wie die kleinen Konfirmanden, die in den Dörfern zur Kirche gehen. Sie, die das lieblichste Laub trägt und die verletzlichste Rinde hat, aber doch noch Wurzeln schlägt in jeden Steinhaufen, in jede Gefängnismauer ... In einem der kleinsten Dörfer in der Umgebung Leipzigs, in Röcken bei Lützen, wurde Friedrich Wilhelm Nietzsche geboren. Am 15. Oktober 1844. Sein Vater war Pfarrer. Auch dessen Vater war Pfarrer gewesen und mit einer Pfarrerstochter verheiratet. Die Mutter Nietzsches, eine geborene Oehler, stammte ebenfalls aus freigesinntem Pfarrhaus. Sie war vierundzwanzig Jahre alt, als ihr Mann starb. Mit ihren beiden kleinen Kindern, Fritz und Elisabeth, übersiedelte sie in das reizende Naumburg, wo ihre Schwiegermutter lebte und deren Schwestern. Unter der Obhut all dieser Frauen erwuchs der zarte Knabe zum musterhaft sittsamen Jüngling. Bei Regenwetter einmal kommt er manierlich langsam von der Schule. Großmutter tadelt, daß er sich naßregnen lasse, aber der künftige Weltumwerter erwidert: »Paragraph drei des Schulreglements schreibt vor: ›Die Kinder haben auf dem Weg nach Hause eines gesitteten Ganges sich zu befleißigen‹.« – Welch' Knabe nach dem Herzen der Lehrer! Der Leiter der benachbarten Erziehungsanstalt Schulpforta bietet der Witwe eine Freistelle an. Und so wird Friedrich Nietzsche Schüler seiner geliebten Pforta; von 1858 bis 1864. Seine Entwicklung auf der berühmten Musterschule verläuft im edelsten Sinn regelrecht. Er blüht heran ohne Kampf und Reibung. Das poetische, musikalische, philosophische Talent erwachen früh. Verständnisvolle und tüchtige Lehrer sehen es. Sie bereiten dem Knaben kein Hindernis. Auch die Mitschüler lieben den feinen, sinnigen Kameraden. Als er zwanzig Jahre alt ist, bezieht er die Universität Bonn. Schon damals besitzt er die ausgedehnteste philologisch-literarische Bildung. Er war ein blumenhaft reiner, junger Mensch, wie aus der Welt Adalbert Stifters. In ihm lebte nichts Aufrührerisches, nichts Zersetzendes. Er schließt sich vertrauend und froh empfangend an die berühmten akademischen Lehrer jener Zeit. Zugleich wird er Mitglied der Burschenschaft Frankonia. So scheint es festzustehen: dieser reine und reinliche Jüngling wird lernen, lesen, arbeiten, wird die »akademische Karriere« einschlagen und »grundlegende, wissenschaftliche Bücher« schreiben. Nebenher wird er heiraten und ein angesehenes, musterhaftes Haus gründen. Ihn trug die selbstgerechteste Gesellschaft Europas: das liberale Bürgervolk, das Korpsstudententum, die Gelehrtenrepublik, die akademische Bildung. Sie sahen alle in dem prachtvollen Jüngling ihre bestgeratene Bestätigung. Und der alte Philologe Ritschl, dem der junge Nietzsche als Lieblingsschüler von Bonn nach Leipzig folgte, hatte recht einen Narren gefressen an dem edelbescheidenen Jünger, der eine schwere philologische Preisaufgabe mit tiefer Gelehrsamkeit löste, und seitdem als die geheime Hoffnung der niedergehenden klassischen Wissenschaft galt. 1867 bis 1868 genügte der Student seiner Dienstpflicht als Soldat in Naumburg. Auch das geschah gern, und ohne Widerspruch zu der wohlgefügten, geordneten Welt, in der er groß wuchs. Zwischendurch begann er sich vorzubereiten zur Doktorprüfung, dachte wohl auch schon an die Habilitierung als klassischer Philolog. Aber noch ehe seine Arbeiten beendet waren, überraschte den erst Vierundzwanzigjährigen die Nachricht, daß er zum ordentlichen Professor in Basel ernannt worden sei. Der alte Ritschl hatte bei der Wiederbesetzung einer freigewordenen Stelle den Lieblingsschüler so warm empfohlen, daß der Senat der Stadt großzügig beschloß, ihn zu berufen, noch ehe die Doktorprüfung gemacht war. Wahrlich ein leichter Aufstieg! Im Sturmschritt flog er auf jene Höhe der Fachgeltung, welche die Gefährten seiner Jugend, die Genossen der Studienjahre, die Kollegen der Amtsjahre nur langsam erklommen, Schritt um Schritt: Paul Deussen, der Indologe; Erwin Rohde, der Gräzist; Jakob Burckhardt, einer der besten Kultur- und Kunsthistoriker; Franz Overbeck, einer der klügsten Theologen. In deren geistig hochgestimmtem Umkreis wuchs Nietzsche groß. Er wäre weitergewachsen zum allgemein anerkannten Stern ersten Ranges, der in den Nachschlagebüchern der Zeit verewigt steht und ein, zwei Geschlechter lang als gültig angesprochen wird, wenn nicht, ja, wenn nicht schweres Schicksal ihn getroffen hätte: Krankheit, Verzweiflung, Einsamkeit, die große Pflugschar, die den jungfräulichen Boden aufriß. Und in die Furchen schossen Keime der Befreiung.

Die Befreier

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Wer streute die Saat? Wer segnete die Scholle? Irgendwo war ihm aufgestoßen der Name Arthur Schopenhauer. Wahrscheinlich in Albert Langes »Geschichte des Materialismus«, einem Buch, aus welchem grüblerische Jünglinge jener Tage gern ihre ersten Weltformeln zu schöpfen pflegten. Dort hatte er die Grundbegriffe der sogenannten kritischen oder idealistischen Philosophie kennengelernt. Und in diese Philosophie fand er auch eingereiht jenen einsamen Frankfurter Weisen – eigenwillig, abweisend, unzugänglich –, welchen zwei Menschenalter als Vollender Kants ehren lernten, bis endlich unser Geschlecht ihn als Erlöser von Kant, ja von der gesamten deutschen Begriffsphilosophie richtiger schauen lernte; als Befreier vom Formalismus des Geistes, als den ersten, der zurückführte ins alte Paradies vorbuddhistischer Urwelt ... Es waren keineswegs Gedanken, die den jungen Philologen umwarfen. Ihn überraschte der Anblick des nicht zünftigen Genius. Zum erstenmal sah er den Denker, der mehr als nur Denker ist. Der aus eigenster Naturquelle treuherzig schöpfend alles das vermied, ja alles das verwarf, was Nietzsches Jugend als Wissenschaft und Kultur war angepriesen worden. Indem der Werdende eintrat in den klar besonnten Äther dieses Denkens, indem die Ruhe, Reife, Milde dieses väterlichen Äthers ihn umfing, da tastete er sich heim zur eigensten Seele; da entdeckte er endlich ... Sich. Dieser Schopenhauer war ja kein Philosoph wie die berühmten Akademiker, kein Begriffsmeister, Besserwisser, Richtigsteller (denn die Größe des Menschen wird nicht nur bestimmt von Umfang oder Richtigkeit seiner Erkenntnis, nein, auch von seiner Grenze und von der Tiefe seines Irrtums). Dies war ein Mensch! Ein Mensch ohne »philosophische Probleme«. Aber voller Lebensach und -weh, mit dem er rang auf Tod und Leben. Sich selber darbietend, Richter zugleich und Opfer. Und mitten in aller Hingegebenheit an das Schauen des Lebendigen, dennoch befähigt, die Glutströme des Herzens gerinnen zu lassen zu starren Eiskristallen des Begriffs, gerinnen zu lassen unter dem Strahl der Besonnenheit. Schopenhauers Philosophie war für Nietzsche nicht etwa nur eine neue Welterläuterung neben anderen. Er trat vor ein Schicksal. Er begriff, daß auch Philosophie Schicksal sein kann. Denn um dies Weltbild zu schaffen, dazu war es nicht nötig, zwanzig Jahre lang an deutschen Universitäten Begriffe zu ackern. Nein! Man mußte dazu als dieser Mensch geboren sein. Und so kam es auch für die Jünger nicht darauf an, gleicher Meinung zu werden. Von der ersten Stunde seiner Bekanntschaft mit Schopenhauer las Nietzsche »Die Welt als Wille und Vorstellung« kritisch. Ja, er verfertigte Verzeichnisse, in die er alle Widersprüche des Lehrers eintrug. Aber – obwohl somit das Weltbild seines eigenen Geistes sich fortentwickelte in beständiger Reibung und in Widerspruch gegen Schopenhauers herrische Dogmatik (bis die neue Lehre just der Gegenpol der Schopenhauerschen geworden war), ... die Ehrfurcht vor dem Genius, die Bewunderung seiner Eigenheit und Ehrlichkeit erstarb in Nietzsche nie. Fragt doch auch Liebe nicht danach, ob derjenige den wir lieben, recht hat oder unrecht ...

Schon vor zwanzig Jahren, in meinem Jugendwerk: »Schopenhauer – Wagner – Nietzsche«, führte ich den Nachweis, daß Nietzsches wesentliche Kerngedanken (der Gedanke des »Willen zur Macht«, die Psychologie des »ressentiment«, der Gedanke der »Ewigen Wiederkehr«, das Ideal des »Übermenschen«, ja sogar das Wort »Übermensch«) ursprünglich hafteten an Schopenhauers Gestalt und dann allmählich erst, im Fortschreiten zu krasser, oft krampfhafter Selbstbewertung sich mit genau entgegengesetzten Inhalten erfüllten: widerchristlich, gegenbuddhistisch, antischopenhauerisch. Und doch blieb Schopenhauers Person die Liebe seines Lebens und der Trost seiner Einsamkeit. Denn jede schöpferische Seele muß untertauchen in Liebe, bevor ihr eigenster Dämon sich verkörpern kann. Dieser Hingabe ist es nicht wesentlich, ob die Persönlichkeit, die wir erhöhend begreifen, in der Erfahrungswirklichkeit das ist, was wir uns daraus machen. So ergriff Plato den Sokrates. So Schopenhauer den Kant. So Nietzsche den Schopenhauer. Das ist Schöpfer- und Künstlertum. Wer liebt, liebt niemals den in Zeit und Raum beschränkten, immerbedürftigen Menschen. Er liebt ihn hin