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Veröffentlichungen der Unabhängigen

Historikerkommission zur

Erforschung der Geschichte des

Bundesnachrichtendienstes

1945–1968

Herausgegeben von Jost Dülffer,

Klaus-Dietmar Henke, Wolfgang

Krieger und Rolf-Dieter Müller

BAND 6

Agilolf Keßelring

Die Organisation Gehlen und die Neuformierung des Militärs in der Bundesrepublik

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Editorische Notiz: Eigenheiten der Rechtschreibung in den Zitaten, besonders ss und ß betreffend, wurden beibehalten, lediglich offensichtliche Tippfehler korrigiert.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, November 2017

entspricht der 1. Druckauflage vom November 2017

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Reihengestaltung: Stephanie Raubach, Berlin

Lektorat: Margret Kowalke-Paz, Berlin

eISBN 978-3-86284-407-4

Inhalt

Vorbemerkung

Einleitung

1.Thema und Fragestellung: Die Neuformierung des deutschen Militärs durch den Gehlendienst

2.Das unscharfe Bild der Exponenten einer »schattenhaften Organisation Gehlen« als Traditionalisten der Wiederbewaffnung

I.Traditionsstränge der Organisation Gehlen

1.Vorbild für die Organisation Gehlen? Der Militärnachrichtendienst des Generalstabs bis zum Ende der Weimarer Republik

2.Tödliche Geheimdienstkonkurrenz als Vermächtnis?

3.Zur Verortung von FHO und Ic-Dienst im NS-Staat – ein organisationsgeschichtlicher Blick auf das »System Gehlen«

II.Generalstabsnetzwerke und deren Instrumentalisierung durch die U. S. Army

1.Der Kern der neu organisierten militärischen Aufklärung

2.Die Ic-Offiziere um den ehemaligen Abteilungsleiter Fremde Heere Ost

3.Die Historical Division als Parallelorganisation zur Intelligence Group

4.Wandel des Zwecks der Operation Rusty durch Integration der Operateure?

5.Parallelentwicklung bei der Marine: vom Naval Historical Team zur Gruppe Nordlicht der Organisation Gehlen

6.Das »System Gehlen« und der »Generalstabsgeist« unter USFET und EUCOM

III.Das Remilitarisierungskonzept der Organisation Gehlen

1.Anfänge der Dienststelle Mellenthin

2.Die »Gedanken zur Remilitarisierung« im November 1949

3.Graf Nostitz und die Eindämmung des Steiner-Kreises

IV.Die Organisation Gehlen als verdeckter Generalstab?

1.Die Suche nach dem »neuen Seeckt«: Personalia und Lehren aus den Zusammenbrüchen von 1807, 1918 und 1945

2.Das Durchsetzen der »Heiligen Drei Könige« als »militärische Spitze«

3.Der politische und organisatorische Rahmen für die Etablierung eines bundesdeutschen »Schattengeneralstabs«

4.Die personelle und programmatische Gestaltung des »Interim-Generalstabs« bis zum »Vorschlag Heusingers«

5.Verwirrungen und Ränke während der Abwesenheit des Bundeskanzlers

6.Zwischenfazit: Fähigkeiten eines Generalstabs im Gehlendienst?

V.»Militär-Verfassungsschutz« oder Geheimpolitik? Die Beobachtung und Beeinflussung des militärischen Umfelds

1.Battlefield Intelligence und Abwehr der »Fünften Kolonne« als Aufträge von EUCOM

2.Der Führungsring und kommunistische Unterwanderungsversuche bei Fallschirmjägern, Gebirgsjägern und Luftwaffe

3.Überwachung der ehemaligen Waffen-SS und der HIAG

4.Die Orchestrierung der Ehrenerklärungen und ein Gründungskonsens

5.Der zweite Akt der Einigung: die »Zähmung des Stahlhelms«

VI.Militärische Notfallplanung für den E-Fall: das »Unternehmen Versicherungen«

1.Reaktivierung von deutschen Crack-Divisionen als amerikanisches Notfallkonzept

2.Von der Soldatenselbsthilfe zum »Unternehmen Versicherungen«: Personalia, Netzwerk und Organisation

3.Finanzierungsprobleme als Frage der Verantwortlichkeit

4.Abgabe der Organisation an die NATO oder EUCOM?

VII.Nachrichtendienstliche Planung für den E-Fall: das Storch-Konzept

1.Das Stay-Behind-Wesen der Organisation Gehlen als Teil der amerikanischen Strukturen in Westdeutschland

2.Die Netze der Organisation Gehlen: Storch und Fox

3.Das Wiesel-Programm – Vergrabungen für das Storch-Netz 1951–1956

4.Die Folgen des »BdJ-Flap«

5.Deutsche Stay Behind 1949–1955: Legende und Wirklichkeit

VIII. Dualismus zwischen Bonn und Pullach oder verzahnter Aufbau westdeutscher Verteidigungsstrukturen?

1.Der Dualismus Pullach – Bonn als Betrachtungsgegenstand historischer Forschung

2.Die Einrichtung eines eigenen Nachrichtendienstes im Bundeskanzleramt

3.Amerikanisches Doppelspiel und der gescheiterte Versuch einer Zusammenarbeit zwischen Gehlen und Heinz

4.Das »Problem Höttl« als Teil der »Heinz-Angelegenheit« auf der Arbeitsebene

5.Nachrichtendienstliche Verzahnung und die Abkoppelung des Generalstabs

IX.Ausblick in die 1960er-Jahre: der Bundesnachrichtendienst in seinen militärischen Funktionen ab Gründung der Bundeswehr

1.Die Verzahnung von BND und Bundeswehr in Friedenszeiten

2.Organisation und Integration des BND im Verteidigungsfall

3.Vom Frieden zum Krieg: Probleme des integrierten militärischen Nachrichtendienstes unter den Bedingungen der 1950er- und 1960er-Jahre

4.Mobilmachung und Militarisierung des BND

5.Abteilung A (Aktionen): Stay Behind für den Kriegs-BND

6.Das »Unconventional-Warfare«-Konzept des BND der 1960er-Jahre

7.Stay Behind: die Ebene der Netze

8.Stay-Behind-Kader im Frieden: die Ebene der Stäbe

9.Exkurs: Der »Stavenhagen-Bericht« (1990) und dessen Bewertung als Beispiel für den Umgang mit der Vergangenheit

Schlussbetrachtung

Anhang

Quellen- und Literaturverzeichnis

Archivalien

Literatur

Abkürzungen

Personenregister

Dank

Der Autor

Vorbemerkung

Die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968

Die Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 (UHK) wurde im Frühjahr 2011 berufen und sechs Jahre mit insgesamt 2,2 Millionen Euro aus Bundesmitteln finanziert. Die Kommission sowie ihre zeitweilig zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen zuallererst gedankt sei, hatten im Bundeskanzleramt und im Bundesnachrichtendienst freien Zugang zu allen derzeit noch klassifizierten und bisher bekannt gewordenen Akten des Untersuchungszeitraums. Nach vorbereitenden »Studien« (www.uhk-bnd.de) legt sie ihre Forschungsergebnisse nun in mehreren Monografien vor. Die UHK hatte sich verpflichtet, die Manuskripte durch eine Überprüfung seitens des BND auf heute noch relevante Sicherheitsbelange freigeben zu lassen. Dabei ist sie bei keiner historisch bedeutsamen Information einen unvertretbaren Kompromiss eingegangen.

Das Forschungsprojekt zur Geschichte des BND unterscheidet sich von ähnlichen Vorhaben insofern, als es sich nicht auf die Analyse der personellen Kontinuitäten und Diskontinuitäten zur NS-Zeit beschränkt, sondern eine breit gefächerte Geschichte des geheimen Nachrichtendienstes aus unterschiedlichen Perspektiven bietet. Eine Bedingung der Vereinbarung mit dem BND war es gewesen, dass die UHK den Rahmen und die Schwerpunkte ihrer Forschung selbst festlegt. Gleichwohl waren auf einigen Feldern Einschränkungen hinzunehmen, namentlich bei den Partnerbeziehungen und den Auslandsoperationen des Dienstes.

Die Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzleramt, vertreten durch Herrn Ministerialdirigent Hans Vorbeck, war ausgezeichnet. Bei den BND-Präsidenten Ernst Uhrlau, der das Projekt durchsetzte, Gerhard Schindler, der es förderte, und Bruno Kahl, der die Erträge erntet, stieß die Arbeit der Kommission auf wachsendes Verständnis und Entgegenkommen. Der Kommission ist es eine besondere Genugtuung, dass sie den entscheidenden Anstoß dazu geben konnte, dass die Einsichtnahme in historisch wertvolle Unterlagen des deutschen Auslandsnachrichtendienstes für alle Interessierten inzwischen zu einer selbstverständlichen Gewohnheit geworden ist.

Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke (Sprecher),

Wolfgang Krieger, Rolf-Dieter Müller

Einleitung

1. Thema und Fragestellung: Die Neuformierung des deutschen Militärs durch den Gehlendienst

»Was ZIPPER [Organisation Gehlen] created by UTILITY [Gehlen] primarily as a life raft for the floundering German General Staff or was it created as the nucleus of a GIS [German Intelligence Service] which secondarily served as a temporary haven for the most vital elements of the German military?«1 Diese Frage stellte James Critchfield, der für die Organisation Gehlen zuständige CIA-Offizier, als die Bundesrepublik Deutschland am 5. Mai 1955 der NATO beitrat und mit dem Aufbau westdeutscher Streitkräfte begann.

Für die Arbeit der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes (UHK) ist die Klärung dieser Frage von herausragender Bedeutung gewesen. Es war bislang nur wenig darüber bekannt, welche Rolle jene ehemaligen Wehrmachtsoffiziere spielten, die im Auftrag der CIA eine nachrichtendienstliche Hilfsorganisation aufgezogen hatten, als ab 1948 die öffentliche Diskussion über eine mögliche Remilitarisierung in Westdeutschland begann. Der mit dem Projekt der UHK erstmals möglich gewordene unbeschränkte Zugang zu den Akten des BND und des Bundeskanzleramts hat es ermöglicht, eine der geheimsten Operationen in der Frühgeschichte der Bundesrepublik aufzudecken. Sie ist für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik von nicht zu unterschätzender Bedeutung gewesen und hat Aufbau sowie Struktur des späteren Bundesnachrichtendienstes entscheidend geprägt.

Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Neuformierung des westdeutschen Militärs nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und fragt nicht nur nach der Rolle des Gehlendienstes als »ein Rettungsboot« für den deutschen Generalstab sowie als Kern eines späteren deutschen Nachrichtendienstes. Sie nimmt darüber hinaus die Frage nach persönlichen Kontinuitäten und Netzwerken von der Wehrmacht über die Organisation Gehlen und das Amt Blank bis in die Bundeswehr hinein in den Blick. Das führt zu der neuen Fragestellung, ob die spätere westdeutsche Wiederbewaffnung maßgeblich aus dem Gehlendienst heraus konzipiert, geplant und einschließlich grundlegender sicherheitspolitischer, strategischer und operativer Weichenstellungen organisiert worden ist.

Dabei muss berücksichtigt werden, was es bedeutete, wenn sich der von den Alliierten verbotene »Generalstab« im Zuge einer Geheimoperation neu formierte, und »wes Geistes Kind« die für zehn Jahre in ziviler Kleidung und Deckung agierenden Männer gewesen sind. Schlüsselpersonen waren dabei insbesondere ehemalige Offiziere aus der Abteilung Fremde Heere Ost des Generalstabs des Heeres sowie die für die Feindlagebeurteilung zuständigen Ic-Offiziere in den Oberkommandos der Ostfront und die Offiziere der Abteilung Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht. Hinzu kamen hochrangige Offiziere aus anderen Bereichen. Sie bildeten zusammen einen Kern der Organisation Gehlen. Ehemalige Angehörige der NS-Sicherheits- und Verfolgungsbehörden kamen hinzu.

Das »Gepäck« an Erfahrungen und Mentalitäten, das sie aus dem Krieg mitbrachten, erfordert in der Analyse eine fachkundige und präzise Beschreibung ihrer Zuständigkeiten und Unterstellungen, nicht zuletzt auch der komplexen und widersprüchlichen Haltung zum militärischen Widerstand. Die Männer gehörten zu wichtigen Netzwerken, die sich im Laufe von Karrieren und Begegnungen gebildet hatten und nach Kriegsende eine entscheidende Rolle bei der Neuformierung des Militärs und seiner Führungselite spielten. Die Angabe der jeweiligen militärischen Dienstgrade ist für die Einordnung und das zeitgenössische Ansehen der einzelnen Personen unverzichtbar, auch wenn es manchem Leser störend erscheinen mag. Um die Lektüre zu erleichtern, wird im Fließtext auf die nach 1945 formal korrekte Hinzufügung »außer Diensten« verzichtet. Bis zur Wiedereinführung aktiver Verwendungen galt der Zusatz »a. D.« für alle ehemaligen Berufssoldaten.

Es ist zu berücksichtigen, dass die Geheimoperation zur Wiederaufstellung eines deutschen Generalstabs unter äußerst widrigen Umständen stattfand. Der alte Generalstab war von den Siegermächten zerschlagen und verboten worden. Seine überlebenden Angehörigen mussten anfangs damit rechnen, wegen der Zugehörigkeit zur alten militärischen Funktionselite und gegebenenfalls wegen persönlicher Verantwortung für begangene Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt zu werden. Mochten auch viele zögern, sich der amerikanischen Besatzungsmacht unter ungewissen Perspektiven und Bedingungen zur Verfügung zu stellen, sahen andere die Chance, bei einer künftigen Remilitarisierung im deutschen – und persönlichen Interesse – gestaltend mitzuwirken. Sie wurden als Spezialisten gebraucht, um in den westlichen Besatzungsgebieten die schwachen alliierten Kräfte gegen die sowjetische Bedrohung möglicherweise durch deutsche kriegserfahrene Kontingente zu verstärken. Wenn aus dem Untergang des Deutschen Reiches wieder einmal ein souveräner deutscher Staat entstehen würde, konnten diese Männer der ersten Stunde darauf hoffen, verantwortliche Positionen in einer künftigen deutschen Armee einnehmen zu können. Die anfangs konspirativen, dann ab 1950 durch die Bundesregierung legitimierten Bestrebungen dieser zumeist hochrangigen ehemaligen Berufsoffiziere sind vor dem Hintergrund einer gleichzeitig ablaufenden internationalen und nationalen Debatte um die Verbrechen des Nationalsozialismus sowie die Verstrickung der Wehrmacht in Hitlers rassenideologischen Vernichtungskrieg zu sehen, die hier nur angedeutet werden kann. Das gilt auch für die parallele und zeitlich vorlaufende Remilitarisierung, die von sowjetischer Seite im eigenen ostdeutschen Besatzungsgebiet betrieben worden ist.

Die bisherigen Forschungen zur Frühgeschichte der Bundeswehr und der westdeutschen Sicherheitspolitik haben sich weitgehend auf die im Bundesarchiv-Militärarchiv erhaltenen Akten der Bundeswehr und die Erinnerungen der führenden militärischen Protagonisten verlassen müssen.2 Die Bezüge zur Gehlen-Organisation bzw. ihre Betätigung im Dienste der Amerikaner sind darin nahezu vollständig verschleiert worden. Durch die inzwischen erfolgten Freigaben von Quellen der CIA über ihre Beziehungen zum Gehlendienst wird jetzt ein gewisser Einblick in die Interessen der amerikanischen Besatzungsmacht und die durch sie geleistete Steuerung möglich.3

Als Anfang der 1970er-Jahre das Standardwerk der Spiegel-Journalisten Heinz Höhne und Hermann Zolling über die Geschichte des BND erschien, waren bereits einige Verbindungen des Gehlendienstes zur Remilitarisierung bekannt geworden. Doch mangelte es an Belegen, und der Dienst versäumte es nicht, auf die weitere Diskussion Einfluss zu nehmen. Pullach hielt eisern an der Gründungslegende fest, die Reinhard Gehlen, der erste Präsident des BND, mit seinen zeitgleich erschienenen Memoiren vorgegeben hatte. Demnach hatte seine damalige Organisation seit 1946 einen deutschen Nachrichtendienst aufgezogen, der in Absprache mit den Amerikanern die militärische Lage im Ostblock aufklärte und beurteilte. Die Vorbereitungen zur Aufstellung eigener Truppen seien seit 1950 über das Amt Blank in Bonn gelaufen. Gehlen gab an, dass er sich lediglich eingeschaltet habe, um ein einheitliches militärisches Nachrichtenwesen zu schaffen, was ihm schließlich gelungen sei.4

Die Geheimhaltung der Gesamtoperation blieb gewahrt, auch gegenüber dem Gegner im Kalten Krieg. Zwar prangerte die DDR-Propaganda die westdeutsche Remilitarisierung als Machwerk des ehemaligen deutschen Generalstabs an, aber die besondere Rolle Gehlens und seiner Organisation wurde verkannt und auf den Spionagebereich reduziert.5 Erst Georg Meyer kam nach einem eng begrenzten Zugang zu Dokumenten des BND-Archivs in den 1980er-Jahren zu etwas anderen Erkenntnissen. Doch auch ihm fehlten ausreichende wissenschaftliche Belege, und so blieben seine Einschätzungen vage.6 »Im Bewußtsein seines Eigenwertes sah Gehlen sich und seine Organisation nie als Instrument, sondern als Faktor, nicht beschränkt auf die nachrichtendienstliche Aufgabe.«7 Diese allgemeine Aussage bleibt zwar nach wie vor gültig. Doch heute erst kann aktengestützt festgestellt werden, was sich dahinter konkret verbirgt.

Enttäuschend war die in den 1990er-Jahren viel beachtete, aus CIA-Akten gearbeitete Studie von Mary Allen Reese. Sie ging hauptsächlich auf die Problematik politisch belasteter ehemaliger Nationalsozialisten in der Organisation Gehlen ein. Die amerikanische Beteiligung an der Wiederbewaffnung Westdeutschlands via Organisation Gehlen wurde hingegen kaum erwähnt.8 Wohl als Gegenreaktion auf Reeses Buch entstanden die Memoiren von James Critchfield, denn er war von Reese mit der NS-Problematik in Verbindung gebracht worden. In sein 2003 erschienenes Buch hatten offensichtlich amerikanische Behörden stark eingegriffen.9

Critchfields Arbeit betont, wie die zeitgleich entstandenen Arbeiten Georg Meyers, den Faktor Zufall bei den Verbindungen von CIA, Organisation Gehlen und Bundeswehr. Zur Zeit des 50-jährigen Jubiläums des BND etablierte sich unter Betonung der deutsch-amerikanischen Freundschaft somit die Interpretation, die Organisation Gehlen habe eine Art Personalpool (life boats-These) für die spätere Bundeswehr gebildet.10 Dies wurde jedoch – entsprechend der eingangs zitierten Position Gehlens – insofern marginalisiert, als dies auf eher zufällige Aspekte wie persönliche Bindungen und die wirtschaftliche Notlage zurückgeführt wurde.

In diesem Lichte schien es bald so, dass zwar viele spätere Generale in der »armeelosen Zeit« für die Organisation Gehlen gearbeitet haben – dies aber nur widerwillig, gewissermaßen im Sinne des Spruchs »ich war jung und brauchte das Geld«. Dazu passt, dass sich sowohl Personalakten mancher hochrangiger Bundeswehroffiziere trotz bekannter früherer Zugehörigkeit zur Organisation Gehlen nicht im BND-Archiv finden als auch in entsprechenden Bundeswehrpersonalakten die »Pullacher Vordienstzeit« nur selten dokumentiert ist. Offenbar galt in der Bundeswehr die Zugehörigkeit zur Organisation Gehlen eher als Makel.11 Dies passt durchaus zur Interessenlage zur Zeit des doppelten Jubiläumsjahres der Bundeswehr und des BND im Jahr 2005: Während sich nun für den BND und die CIA die sich in der Person Heusingers dokumentierte Verbindung zur Gründung der Bundeswehr als Positivum einer langjährigen Partnerschaft interpretieren ließ, erschien für die Bundeswehr die Erinnerung an mögliche Verbindungen zur Organisation Gehlen und der CIA immer noch als eher zwielichtig.

Die sorgsam gepflegte Distanz zur Wehrmacht, die man mit dem historischen Argument eines Neuanfangs von Himmerod untermauerte, drohte untergraben zu werden.12 Nach dem War Crimes Disclosure Act (1998) erschien die Organisation Gehlen in neueren Publikationen immer öfter im Zusammenhang mit der Aufarbeitung anderer amerikanischer Projekte, wie etwa »Paperclip« und der Entnazifizierung.13 Es entstand in neueren Publikationen der Eindruck, dass die Verbindungen im Dreieck Generalstab des Heeres, Organisation Gehlen, CIA als eine Art Gründungsskandal der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Streitkräfte anzusehen seien.14

Diese Studie behandelt somit den geheimdienstlichen Aufbau militärischer Sicherheitsstrukturen im Zeitraum 1945 bis 1968 mit einem Schwerpunkt auf den Jahren der frühen Bundesrepublik Deutschland bis zu den Anfängen der Aufstellung der Bundeswehr. Der Fokus ist also auf die Vor- und Frühgeschichte des BND gerichtet, umfasst aber auch die Vorbereitungen der Organisation Gehlen und des BND für den Verteidigungsfall bis zum Ende der Ära Gehlen. Die Geschichte des militärischen Nachrichtendienstes, d. h. die Beschaffung und Auswertung militärisch relevanter Informationen sowie die Erstellung von Lageanalysen für die zivile und militärische Führungsspitze, schließlich die Zusammenarbeit im NATO-Rahmen, stellt ein eigenständiges, komplexes Themenfeld dar. Ein erster Ansatz ist auf schmaler Quellengrundlage bereits mit der Studie von Wagner/Uhl unternommen worden.15 Mit der Öffnung des BND-Archivs wird es künftig möglich sein, jene Tätigkeit wissenschaftlich eingehender zu untersuchen, die während des Kalten Krieges im Bundesnachrichtendienst im Zentrum der Arbeit gestanden hat.

2. Das unscharfe Bild der Exponenten einer »schattenhaften Organisation Gehlen« als Traditionalisten der Wiederbewaffnung

Dominik Geppert ordnet die Geschichtsschreibung zur Bundeswehr in eine Stabilisierungs- und eine Liberalisierungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ein. Während Erstere betont, dass die Bundeswehr keine »neue Wehrmacht« geworden sei, und damit die Diskontinuität der Bundesrepublik gegenüber dem Dritten Reich in den Vordergrund stellt, sieht Letztere einen »Dauerkonflikt« zwischen »Reformern« und »Traditionalisten«. Diese Sichtweise betont den »Zeitgeist des Beharrenden und die militärische Eigenwelt«.16 Gegen diesen hätten – so die Vertreter der Liberalisierungsgeschichte – einige wenige Reformer so lange angekämpft, bis »die Bundeswehr in den frühen 1970er-Jahren schließlich in der Normalität der Bundesrepublik«17 angekommen sei. Diese Einordnung der Historiografie zur Bundeswehr lässt sich auch auf die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes anwenden. Dies bietet sich sogar regelrecht an, da – so das gängige Verständnis der Liberalisierungsgeschichte – zu dem »restaurativen Widerstand von Gegenkräften« nicht zuletzt Reinhard Gehlen und die mit dessen Person in enger Verbindung stehenden ehemaligen Reichswehr- und Wehrmachtsoffiziere gerechnet werden.18

Folgt man den Auffassungen der gesellschaftsgeschichtlich argumentierenden Liberalisierungshistoriografie, so erscheint die Organisation Gehlen als »Hort der Restauration« und bildet somit die (negative) Hintergrundfolie zu einer (positiv konnotierten) Reform, die mit den Begriffen Himmerod, Staatsbürger in Uniform, Innere Führung verbunden wird. Die Bundeswehr wäre damit gegenüber der Organisation Gehlen und dem BND als die »bessere«, da lernfähigere und demokratischere Organisation zu werten.19 Im Hintergrund stehen hierbei aber letztlich Fragen des vermeintlich »richtigen« Traditionsverständnisses der Bundeswehr in der Gegenwart.20 Worüber aber gingen die zeitgenössischen Debatten? Welche Position(en) nahmen dabei die ehemaligen Offiziere in der Organisation Gehlen ein? »Wes Geistes Kinder« waren die frühen Akteure des Bundesnachrichtendienstes? Was waren ihre politischen, militärischen und nachrichtendienstlichen Konzepte, und warum haben sich gerade diese gegenüber möglichen Alternativen durchgesetzt oder sind unterlegen? Diese Fragen stehen im Zentrum der vorliegenden Untersuchung und lassen eine neue Antwort auch auf den alten Streit um Kontinuität oder Neuanfang deutscher Streitkräfte erwarten, wenn sich die These verifizieren lässt, dass die Remilitarisierung der frühen Bundesrepublik wesentlich von den in Pullach beim Gehlendienst versammelten ehemaligen Wehrmachtsoffizieren geplant und umgesetzt worden ist. Was also war der »Geist« des Pullacher Spitzenmilitärs, und wie konnte es sich mit seinen personellen Netzwerken hinter den Kulissen der Bonner Bühne durchsetzen?

1Chief of Station Frankfurt to Chief of Base Pullach, Operational/Call, Requirement on West German Rearmament, 13. 6. 1955, NARA (NWCDA), CIA-file on Heusinger, Adolf, vol. 95.

2Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.): Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945–1956, Bd. 1, München 1982 (zit. AWS 1). Für die amerikanische Perspektive vgl. Reiner Pommerin: The United States and the Armament of the Federal Republic of Germany; in: The American Impact on Postwar Germany, hg. von Reiner Pommerin, Oxford 1995, S. 15–34.

3Kevin C. Ruffner (Hg.): Forging an Intelligence Partnership: CIA and the Origins of the BND, 1949–1956, 2 vols, Europe Division, National Clandestine Service, 2006; Wolfgang Krieger: German-American Intelligence Relations, 1945–1956: New Evidence on the Origins of the BND, Diplomacy & Statecraft 22 (2011) 1, S. 28–43.

4Reinhard Gehlen: Der Dienst. Erinnerungen 1942–1971, Mainz 1971, S. 215.

5Nationalrat der Nationalen Front des Demokratischen Deutschland. Dokumentationszentrum der staatlichen Archivverwaltung der DDR (Hg.): Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrechen in der Bundesrepublik. Staat, Wirtschaft, Armee, Verwaltung, Justiz, Wissenschaft, Berlin (Ost) 1965, S. 167.

6Vgl. Thorsten Loch: »A gentlemen’s business …«. Die Organisation Gehlen und die Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik. Ein Interview mit dem Militärhistoriker Georg Meyer; in: Achtung Spione! Geheimdienste in Deutschland 1945–1956, Essays, hg. von Magnus Pahl, Gorch Pieken und Matthias Rogg, Dresden 2016, S. 327–336.

7Georg Meyer: Zur Situation der deutschen militärischen Führungsschicht im Vorfeld des westdeutschen Verteidigungsbeitrages 1945–1950/51; in: AWS 1, S. 684–685. Das Thema Organisation Gehlen und Wiederbewaffnung zieht sich fortan mit wachsendem Informationsgewinn durch die Publikationen Meyers, siehe insbesondere Georg Meyer: Adolf Heusinger. Dienst eines deutschen Soldaten 1915–1964, Hamburg 2001, S. 347–426.

8Mary Allen Reese: Der deutsche Geheimdienst. Organisation Gehlen, Berlin 1992.

9James H. Critchfield: Partners at Creation. The Men Behind Postwar Germany’s Defence and Intelligence Establishments, Annapolis 2003, dt. Ausgabe: Auftrag Pullach. Die Organisation Gehlen 1948–1956, Hamburg 2005.

10Der ehemalige BND-Präsident (1985–1990) Hans-Georg Wieck bezeichnet die Organisation Gehlen als amerikanisch-deutschen »rallying point« und »meeting point«. Mit seiner Formulierung geht dieser in Bezug auf die Bedeutung der Organisation Gehlen am weitesten: »The strategic interest to prepare for the inclusion of Germany into the military and economic reconstruction of those parts of Europe not occupied […].« Hans-Georg Wieck: Fifty Years Bundesnachrichtendienst. Retrospective – Perspectives 1956–2006, S. 8, http://www.hans-georg-wieck.com/data/50%20Years%20BND.pdf, abgerufen am 22. 12. 2013.

11Sicherheitsbelange können hier bei der entsprechenden Geheimhaltung im Falle hoher Generale ausgeschlossen werden.

12Die Diskussion um personelle Kontinuität von der Wehrmacht zur Bundeswehr spiegelt sich im Sammelband zum 50-jährigen Jubiläum der Bundeswehr des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes ebenso wider, wie dort die These eines Beginns der Bundeswehrplanung in Himmerod vom Oktober 1950 bedient wird. Reinhard Stumpf: Die Wiederverwendung von Generalen und die Neubildung von militärischen Eliten in Deutschland und Österreich nach 1945; Martin Rink: Das Heer der Bundeswehr im Wandel 1950–2005. Von Himmerod zum »Heer der Zukunft«; Heiner Möllers: 50 Jahre Luftwaffe. Von Himmerod zum Hindukusch, alle Beiträge in: Entschieden für Frieden. 50 Jahre Bundeswehr. 1955 bis 2005, hg. von Klaus-Jürgen Bremm, Hans-Hubertus Mack und Martin Rink, Freiburg im Breisgau 2005, S. 73–96 bzw. 137–154 und 155–182.

13Der War Crimes Disclosure Act von 1998 verpflichtet »alle US-Regierungsstellen, noch zurückgehaltene Akten zu deklassifizieren, die während und seit dem Zweiten Weltkrieg angefallen sind, wann immer sich eine US-Behörde mit NS-Tätern befasste: bei der Entnazifizierung, in Kriegsverbrecherprozessen, bei der Rekrutierung von Geheimdienstagenten, bei der Einreise von Wissenschaftlern ›Paperclip‹ etc«. Astrid M. Eckert: Nazi War Crimes Disclosure Act vom 30. 6. 2000, hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/BEITRAG/essays/ecas0600.htm, abgerufen am 15. 3. 2014.

14Beispielsweise: Erich Schmidt-Eenboom: Schnüffler ohne Nase. Der BND. Die unheimliche Macht im Staate, Düsseldorf 1995; Peter F. Müller und Michael Müller: Gegen Freund und Feind. Der BND: Geheime Politik und schmutzige Geschäfte, Reinbek 2002; Erich Schmidt-Eenboom, Ulrich Stoll: Die Partisanen der NATO. Stay-Behind-Organisationen in Deutschland 1946–1991, Berlin 2015; Enrico Heitzer: Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). Widerstand und Spionage im Kalten Krieg 1948–1959, Köln, Weimar, Wien 2015.

15Armin Wagner und Matthias Uhl: BND contra Sowjetarmee. Westdeutsche Militärspionage in der DDR, Berlin 2007.

16Dominik Geppert: Die Bundeswehr in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik; in: Sonderfall Bundeswehr? Streitkräfte in nationalen Perspektiven und im nationalen Vergleich, hg. von Heiner Möllers und Rudolf Schlaffer, München 2014, S. 35–50, hier S. 42. Siehe insgesamt die umfassende Studie von Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002.

17Ebd., S. 43.

18Geppert bezieht sich hier auf Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR, 1949–1990, München 2008, S. 131. Deutlich tritt diese Auffassung auch hervor bei: Alaric Searle: Wehrmacht Generals. West German Society and the Debate on Rearmament, 1949–1959, Westport 2003. Diesem Interpretationsmuster folgt auch Jörg Echternkamp: Soldaten im Nachkrieg. Historische Deutungskonflikte und westdeutsche Demokratisierung 1945–1955, München 2014.

19Searle, Wehrmacht Generals, S. 93–138.

20Siehe die unterschiedlichen Positionen etwa von Detlef Bald: Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955–2005, München 2005, und Burkhard Köster: Neue Wege in der Traditionsbildung der Bundeswehr?; in: Perspektiven der Militärgeschichte, hg. von Jörg Echternkamp, Wolfgang Schmidt und Thomas Vogel, München 2010, S. 269–277.

I. Traditionsstränge der Organisation Gehlen

Die Formierung des Gehlendienstes ab 1946 kannte keine »Stunde null«. Sie war das Ergebnis einer Entscheidung von Generalmajor Reinhard Gehlen, dem bisherigen Chef der Abteilung Fremde Heere Ost im Generalstab des Heeres (FHO), sich mit seinem Spitzenpersonal und den wichtigsten Materialien aus dem Untergang des Dritten Reiches zu schleichen und der amerikanischen Besatzungsmacht zur Verfügung zu stellen.1 Gehlen konnte auf eine über 20-jährige Militärkarriere zurückblicken. Führende spätere Mitarbeiter seiner Organisation, wie etwa General der Infanterie Hermann Foertsch2, General der Gebirgstruppe August Winter,3 Generalleutnant Adolf Heusinger4 oder General der Artillerie Horst von Mellenthin5, waren entscheidende fünf bis acht Jahre älter als er. Das machte bereits einen militärischen Generationsunterschied aus: Winter, Mellenthin und Heusinger hatten bereits als junge Offiziere den Ersten Weltkrieg und, möglicherweise noch bedeutender, die Aufbaujahre der frühen Reichswehrzeit miterlebt, die sie dann mit dem jungen Offiziersanwärter Gehlen verband.

Für sie lag es nahe, die eigenen Erfahrungen aus der Zeit nach der Niederlage von 1918 aufzunehmen und nach dem zweiten verlorenen Weltkrieg an die veränderte Lage anzupassen. Zum geistigen Horizont der Akteure gehörten nicht zuletzt das Bild vom militärischen Neuanfang nach der Niederlage von 1806 und die preußische Reformzeit. Gerade weil der Bruch von 1945 so stark wahrgenommen wurde, bot die deutsche (Militär-)Geschichte aus der vornationalsozialistischen Zeit gewissermaßen den Kompass in eine neue Zeit.

Viel Zeit zum Räsonieren über historische Bezüge und Vorbilder blieb den kriegsgefangenen Offizieren allerdings nicht. Gehlen und einige seiner Männer waren anfänglich sogar bereit, in die USA auszuwandern und die amerikanische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Was ihnen blieb, war der Nimbus von den angeblich unfehlbaren Prognosen von FHO während des Zweiten Weltkrieges. Dazu kamen dann einige versprengte Männer der ehemaligen »Abwehr«, der ehemaligen Spionageabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht sowie schließlich ehemalige Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes. Gegenüber dieser heterogenen Truppe setzte Gehlen nach dieser Darstellung das Selbstverständnis durch, ein »deutscher« Nachrichtendienst in der Tradition des Militärnachrichtendienstes des preußisch-deutschen Generalstabs zu sein.

Das Konstrukt einer Kontinuität war als Teil einer Rechtfertigungsstrategie innerhalb der Organisation Gehlen durchaus nützlich. Nach außen hin hatte noch immer der Bezug auf den Mythos des deutschen Generalstabs sowohl gegenüber den Amerikanern als auch der eigenen Regierung Gewicht. Die Tradition des Generalstabsnachrichtendienstes ist – auch wenn sie ein Konstrukt darstellt – keine »reine Erfindung«. Sie reflektierte nicht zuletzt auch die persönlichen Biografien vieler Mitarbeiter und prägte dadurch die Behördenkultur. So stellte bereits im Oktober 1949 der mit der Evaluierung der Organisation Gehlen beauftragte James H. Critchfield fest, es sei »bemerkenswert, dass die Organisation ein sehr starkes Gepräge des deutschen Generalstabs und der soldatischen Tradition trägt«.6

Dabei hatten viele Protagonisten – wie auch Gehlen selbst – die Desorganisation des militärischen Nachrichtenwesens hautnah erlebt. Sie wurde als Teilaspekt des Niedergangs des Generalstabs verstanden, der allerdings von den meisten nicht moralisch, sondern politisch interpretiert wurde.7 Der »Führer« war bekanntlich an allem schuld! Gerade deshalb hatte die Besinnung auf vornationalsozialistische Zeiten für ehemalige Generalstabsoffiziere Bedeutung. Personifiziert wurde der »Niedergang« durch niemanden so stark wie durch Generaloberst Franz Halder, der das historiografische Monopol zu Generalstab und Militär lange durch seine Position in der Historical Division der U. S. Army kontrollierte.8 Auf die Bedeutung Halders und die Historical Division für führende ehemalige Offiziere in der Organisation Gehlen wird noch ausführlich einzugehen sein.9 Ein teilweise professionelles Versagen des Generalstabs, wie es die neuere Militärgeschichte betont10, lag weit außerhalb der von ehemaligen Berufsoffizieren nach 1945 in Betracht gezogenen Kritik. Für Gehlen und die in seinem Sinne inspirierten Offiziere der Organisation stand die vermeintlich höchste Leistungsfähigkeit des deutschen Generalstabs außer Betracht. Weitgehend verdrängt wurde auch die Bewertung des militärischen Widerstands gegen Hitler und das NS-Regime. In Pullach versammelten sich nach eigenem Selbstverständnis eher die »Eidhalter«. Mit den angeblichen »Eidbrechern« wollten nur wenige etwas zu tun haben.11

1. Vorbild für die Organisation Gehlen? Der Militärnachrichtendienst des Generalstabs bis zum Ende der Weimarer Republik

War die Organisation Gehlen also eine Art Wiederauflage des Militärnachrichtendienstes des Generalstabs – diesmal nur unter amerikanischer Obhut? Das militärische Nachrichtenwesen im Deutschen Reich hatte erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts – und dann verstärkt durch den Ersten Weltkrieg – Formen angenommen, die im Vergleich mit entsprechenden Institutionen anderer Mächte als wettbewerbsfähig gelten konnten. Dies führte zu dem schon bald legendären Auftrag an Oberleutnant Walter Nicolai12, beim Generalkommando des I. Armeekorps in Königsberg einen Nachrichtendienst aufzubauen und gleichzeitig die Abwehr gegen die russische Spionage zu organisieren.13 Mit der parallelen Einrichtung eines Marinenachrichtendienstes verstärkte sich der Dualismus zwischen Heer und Marine, der auf dem Gebiet des Nachrichtendienstes erst im Jahr 1928 durch die Schaffung eines dem Reichswehrministerium unterstellten teilstreitkräfteübergreifenden Apparates – der »Abwehr« – aufgelöst wurde.14

Die organisatorischen Änderungen des Jahres 1928 sind in zweierlei Hinsicht bedeutsam und sollten sich später für die »nachrichtendienstliche Philosophie« im Gehlendienst als Negativfolie wirkmächtig erweisen: Erstens wurde aus der Abwehr ein Beschaffungsnachrichtendienst gebildet, der so in seiner Gliederung bis zur Auflösung des Amtes Ausland/Abwehr im späteren Oberkommando der Wehrmacht im Wesentlichen Bestand haben sollte. Dieser Beschaffungsdienst arbeitete teilstreitkräfteübergreifend, also nach heutiger NATO-Terminologie »joint«.15 Zweitens und gewissermaßen als »Kehrseite der Medaille« wurde diese Beschaffung allerdings von der Auswertung getrennt. Diese verblieb bei den Teilstreitkräften. Die Beschaffung (die Abwehr) begann somit ein Einzelleben unter ministerieller Aufsicht zu führen, während die direkten Bedarfsträger über keinen direkten Zugriff auf die Aufklärungsorgane verfügten. Gehlens spätere Forderung nach einem teilstreitkräfteübergreifenden »Einheitsnachrichtendienst« ist wohl als »lessons learned« aus dem Zweiten Weltkrieg zu verstehen.

Erst im Juni 1944 ist im Zeichen der NS-Diktatur die bis dahin höchste Stufe der politischen Kontrolle über den deutschen Militärnachrichtendienst zu verzeichnen. Dies war der Moment der weitestgehenden Übernahme des Amtes Ausland/Abwehr durch das Reichssicherheitshauptamt (RSHA). Diese bereits in der Weimarer Republik begonnene Entwicklung einer zunehmenden politischen Kontrolle des militärischen Nachrichtendienstes fand mit der Ermordung der leitenden Abwehroffiziere Admiral Wilhelm Canaris und Generalmajor Hans Oster, deren Abteilungsleiter Oberst i. G. Georg Hansen, Oberst i. G. Wessel Freiherr Freytag von Loringhoven sowie des Leiters der Abwehrstelle Wien, Oberst Rudolf Graf Marogna-Redwitz, ihren vorläufigen und blutigen Höhepunkt.16 Als sich kaum ein Jahr später der Gehlendienst unter amerikanischer Ägide konstituierte, gehörten diese Aufsplitterung und Konkurrenz der militärischen Nachrichtendienste sowie ihre Überwältigung durch den politischen Sicherheitsapparat des NS-Regimes zur unmittelbaren Erfahrung derjenigen Männer, die den Weg in einen künftigen militärischen Nachrichtendienst prägten.

2. Tödliche Geheimdienstkonkurrenz als Vermächtnis?

Die institutionelle Konkurrenz zwischen dem SD bzw. ab 1939 dem RSHA und der Wehrmacht drückte sich am stärksten in denjenigen Bereichen aus, die in den innenpolitischen Bereich fielen, die der Reichsführer-SS beanspruchte und die machtpolitisch von Bedeutung waren: Dies betraf zum einen den Bereich des Personalersatzes für die Wehrmacht – also das zu Kriegsbeginn fast millionenstarke und bis 1944 auf etwa zweieinhalb Millionen angewachsene Ersatzheer unter Generaloberst Friedrich Fromm17 – sowie zum anderen den militärischen Nachrichtendienst, speziell im Bereich der Spionageabwehr. Diese bildeten bereits strukturell die größten Berührungsflächen mit solchen Tätigkeiten, die Heinrich Himmler bzw. Reinhard Heydrich für die ihnen unterstehenden Parteiinstitutionen in Anspruch nahmen. Die in jedem System grundsätzlich vorhandene institutionelle Konkurrenz entwickelte sich aufgrund des ideologischen Charakters und des totalen Anspruchs des NS-Regimes bald zu persönlicher Feindschaft und endete, wie sich später erweisen sollte, für die Hauptprotagonisten aufseiten der Wehrmacht tödlich. So erscheint es folgerichtig, dass sich der aktive Widerstand von Offizieren gegen das NS-Regime neben der Heeresgruppe Mitte vor allem im Ersatzheer und in der Abwehr ausmachen lässt.

In der Forschung ist zwar umstritten und wohl auch nie definitiv zu klären, inwieweit bei jedem einzelnen Angehörigen des militärischen Widerstands aus diesen Bereichen institutionelle Gegensätze oder aber moralische bzw. politische Standpunkte ausschlaggebend waren, nicht aber der Befund des Widerstandes aus diesen Gruppen selbst. Spätestens nach dem Scheitern des Umsturzversuches vom 20. Juli 1944 wurde dies bei der Verfolgung, Folterung und Ermordung maßgeblicher Protagonisten aus den Institutionen Abwehr und Ersatzheer deutlich – ungeachtet der Frage, inwieweit diese Opfer in retrospektiver Betrachtung stets objektiv zum Kreis der Verschwörer des 20. Juli 1944 im engeren Sinne zu zählen sind.18 Es ist als gesichert anzunehmen, dass vielen Generalstabs- und Frontoffizieren gerade im Bereich des Feindnachrichtendienstes spätestens nach dem 20. Juli 1944 durch die anschließenden Festnahmen und Verurteilungen »die Augen geöffnet« wurden. Die dienstlich bedingten persönlichen Kontakte der Offiziere bei Fremde Heere Ost und im Ic-Dienst zu denjenigen der Abwehr mögen solch eine Entwicklung begünstigt haben. Der NS-Terror traf nun nicht mehr »nur die anderen«, sondern respektierte Persönlichkeiten aus dem eigenen Stand und dem nächsten Arbeitsumfeld. Für die geistige Einstellung ehemaliger Nachrichtenoffiziere in der Nachkriegszeit ist dieser Umstand – egal wo diese vor dem 20. Juli 1944 zu verorten waren – wohl ähnlich relevant wie das Erlebnis der totalen Niederlage in Verbindung mit der Zerstörung der Heimat, Flucht, Vertreibung und Besatzungsherrschaft.

3. Zur Verortung von FHO und Ic-Dienst im NS-Staat – ein organisationsgeschichtlicher Blick auf das »System Gehlen«

Die Zerschlagung der dem OKW zugeordneten Abwehr stellte sich als einer der bedeutsamsten Spezialfälle eines allgemeinen, dem NS-Staat eigenen Prozesses der Entmachtung »des Militärs« bzw. des Generalstabs gegenüber »der Partei« im machtrelevanten Bereich des Nachrichtendienstes dar. Dieser ist, wie bereits ausgeführt wurde, eng mit den unterschiedlichen Verhaftungs-, Attentats- und Umsturzplanungen und -versuchen von 1938, 1943 bis zum finalen Verzweiflungsakt des 20. Juli 1944 verwoben. Für die in Wissenschaft und Öffentlichkeit vielbeachtete Frage nach – primär als Personalkontinuitäten verstandenen – Kontinuitäten aus den Nachrichtendiensten des Dritten Reiches in der Organisation Gehlen und dadurch später im Bundesnachrichtendienst19 stellen daher die organisatorischen Strukturen und damit verbunden der Kampf um die nachrichtendienstliche Hoheit im Dritten Reich in all seiner Komplexität einen zentralen historischen Bezugspunkt dar.

Eine historische Bewertung der Generalstabstradition und der nachrichtendienstlichen Kontinuitäten innerhalb der Organisation Gehlen wird dadurch erschwert, dass der Vorwurf der Beteiligung an NS-Verbrechen von Gehlen-Mitarbeitern, unabhängig davon, ob im Einzelfall zutreffend oder nicht, bereits früh seitens der Sowjet- und DDR-Propaganda genutzt wurde, um die Bundesrepublik Deutschland sowie den »Westen« zu diffamieren. Unter den Bedingungen des Kalten Krieges führten diese Kampagnen zwangsläufig zu exkulpatorischen Gegenreaktionen. In diesem Zusammenhang gilt es zu fragen, inwieweit die Diskursmuster aus der Zeit des Kalten Krieges noch heute die historischen Fragestellungen beeinflussen und ob es nicht an der Zeit sein sollte, diese durch eine Historisierung zu überwinden: Das gilt ebenso für die amerikanische Argumentation, nur »gute Deutsche« hätten im Rahmen der Organisation Gehlen Verwendung gefunden – dafür stehen exemplarisch die Critchfield-Memoiren.

Vor diesem komplexen Hintergrund ist es notwendig, die Organisation der Abteilung Fremde Heere Ost, des Ic-Dienstes und der Abwehr innerhalb des militärischen und nachrichtendienstlichen Gesamtsystems an der Ostfront zu skizzieren. Dies ist auch deswegen notwendig, da sich die Forschung der Frage nach organisationsbedingter Verantwortung der Feindnachrichtenoffiziere des Heeres im Vernichtungskrieg an der Ostfront nur sporadisch angenommen hat. Von Einzelfällen auf die Gesamtheit zu schließen wäre jedoch methodisch mehr als fragwürdig. Eine sinnvolle Bewertung der Lebensläufe einzelner Militärpersonen – so schwierig sie auch bleibt – und damit eine valide Aussage über die Bedeutung personeller Kontinuitäten vom Ic-Dienst über die Organisation Gehlen in den BND lässt sich erst aus einer profunden Kenntnis und daraus folgender Differenzierung des militärischen Systems ableiten.

Wie bereits ansatzweise gezeigt werden konnte, waren die von Fremde Heere Ost fachlich geführten Generalstabsoffiziere im Ic-Dienst der Ostfront auf vielfältige Weise mit den im Bereich der Abwehr Dienst tuenden Truppen- und Ergänzungsoffizieren dienstlich verbunden. Sie standen aber auch mit diesen in einem institutionellen Konkurrenzverhältnis. Andererseits gab es – bereits vor der Überführung weiter Teile der Abwehr in das Amt Mil des RSHA infolge des Führerbefehls vom 12. Februar 1944 über die »Schaffung eines einheitlichen deutschen Meldedienstes« – auch Organe der Abwehr, die auf Zusammenarbeit mit Institutionen des NS-Vernichtungsapparates angewiesen waren. Im März 1941 waren die Aufgaben der Sicherheitspolizei (hier vor allem der Gestapo) und des SD im Verband des Heeres von den Aufgaben der Abwehr abgegrenzt worden. Im Juli 1941 wurden darüber hinaus der Einsatz der Geheimen Feldpolizei und der Einsatz der Sicherheitspolizei durch eine Weisung des Feldpolizeichefs der Wehrmacht20 definiert.

Nur vordergründig stellte sich jedoch die Etablierung der Feldpolizei als Erfolg der Abwehr bzw. des für den Ostkriegsschauplatz operativ verantwortlichen OKH gegenüber den Bestrebungen Himmlers dar, auch in die nachrichtendienstlichen Belange der Front einzugreifen. Die Feldpolizei rekrutierte sich aus Heydrichs Sicherheitspolizei und bestand vor allem in den oberen Chargen aus Gestapobeamten.21 So bedeutete die 1939 erfolgte Etablierung der Geheimen Feldpolizei in der Praxis vielmehr ein Eindringen der – nun als Wehrmachtsbeamte bei der Geheimen Feldpolizei dienenden – Gestapo in den militärischen Bereich des OKH. Diese Ämterverschränkung begünstigte retrospektiv eine Instrumentalisierung der Streitkräfte des Ostheeres für den Völkermord. So urteilt der Freiburger Historiker Jürgen Förster, dass bei der Geheimen Feldpolizei eine »enge personelle und funktionelle Verflechtung von Wehrmacht und SS« vorlag.

An der Spitze der Geheimen Feldpolizei stand ab 1940 der seit 1933 bei der Gestapo beschäftigte SS-Standartenführer Wilhelm Krichbaum. Dieser arbeitete in der Nachkriegszeit für die Organisation Gehlen und war nicht nur für die Anwerbung des KGB-Agenten Heinz Felfe verantwortlich. Er stellte mit seiner zweifelhaften Biografie die »undichte Stelle« dar, die es ermöglichte, dass ehemalige Mitarbeiter aus dem Feldpolizei-, Gestapo- und SD-Milieu Verwendung in der Organisation Gehlen fanden.22 Der Bereich der Spionageabwehr – also Abwehr III, dem schließlich die Feldpolizei fachlich (nicht truppendienstlich) vor Ort unterstand – zeigt sich insofern als besonders problematischer Bereich des militärischen Nachrichtendienstes. Eine klare Trennung zwischen Wehrmacht und RSHA hat es in diesem Bereich der Abwehr schon aus organisatorischen Gründen wohl am wenigsten gegeben. Darüber hinaus ist festzustellen, dass auch die Partisanenbekämpfung als militärische Aufgabe ebenso in den Bereich der Abwehr III fiel. Schließlich handelte es sich bei der Bekämpfung von Sabotage und Ausspähungen durchführenden Feindeinheiten um eine originäre Aufgabe des weiten Feldes der Spionageabwehr. Eine Pauschalverurteilung der Abwehr III als »Nazitruppe« wäre freilich falsch, doch gilt es zu verstehen, dass auch bei der Abwehr »Licht und Schatten« eng beieinanderlagen. Ob solche Feinheiten allerdings den zuständigen amerikanischen »IIIer-Offizieren« des CIC in der Nachkriegszeit immer geläufig waren, ist zu bezweifeln.23

Jedoch zeigt der Fall Krichbaum, dass sowohl die CIA als auch die Organisation Gehlen im Bereich der Spionageabwehr einen »blinden Fleck« hatten, der erst mit dem Fall Felfe ans Licht kam. Die Verwendung von NS-belasteten und damit auch erpressbaren »IIIer-Spezialisten« wusste die DDR-Spionage, die mit der gleichen Klientel arbeitete, auszunutzen. Für die Organisation Gehlen stellten zeitgenössisch solche von den Strukturen der Wehrmacht »geerbten« Probleme aus dem Bereich der Abwehr III primär ein professionelles Sicherheitsproblem dar. In der historischen Retrospektive sticht die mangelnde Distanz zu Vertretern des NS-Repressions- und Vernichtungsapparates gerade in diesem speziellen Bereich allerdings ins Auge, auch wenn die Ursachen hierfür schlüssig aus der Organisationsgeschichte heraus hergeleitet werden können.

Die Stellung Krichbaums innerhalb der Organisation Gehlen entsprach indes nicht seiner ehemaligen hohen Stellung als Feldpolizeichef der Wehrmacht. Als Referatsleiter III im Stab 900 glich seine Position eher derjenigen eines Stabsabteilungsleiters, wobei »900« die Bezeichnung für Winters Stay-Behind-Organisation war. Krichbaum war also für die Sicherheit vor Infiltration durch gegnerische Agenten im Bereich Stay Behind zuständig. Damit war er Berater des Abteilungsleiters 900 in Sicherheitsfragen und arbeitete als solcher eng, etwa im Bereich der Personenüberprüfungen, mit den hierfür zuständigen Stellen in der Zentrale oder bei CIA und CIC zusammen. Ob aus dieser niedrigeren Einstufung Krichbaums bereits eine gewisse Distanz konstruiert werden kann oder ob er aber die unter den damaligen Umständen bestmögliche Stelle erhalten hat, muss Spekulation bleiben.

Der Historiker Christian Hartmann argumentiert zur Mitverantwortung der Wehrmacht am Völkermord an den europäischen Juden: