Christoph Martin Wieland

Peregrinus Proteus



e-artnow, 2017
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ISBN 978-80-268-7059-3

Inhaltsverzeichnis
Erster Band
Vorrede zur ersten Ausgabe von 1791
Inhalt des ersten Theils
Erster Theil
Einleitung
Erster Abschnitt
Zweiter Abschnitt
Dritter Abschnitt
Vierter Abschnitt
Fünfter Abschnitt
Anmerkungen zum ersten Theil
Zweiter Band
Inhalt des zweiten Theils
Zweiter Theil
Sechster Abschnitt
Siebenter Abschnitt
Achter Abschnitt
Neunter Abschnitt
Antworten und Gegenfragen auf die Zweifel und Anfragen eines vorgeblichen Weltbürgers
Anmerkungen zum zweiten Theil

Erster Band

Inhaltsverzeichnis

Vorrede zur ersten Ausgabe von 1791

Inhaltsverzeichnis

Ich habe mich schon, bei einer andern Gelegenheit1, etwas von einer kleinen Naturgabe verlauten lassen, die ich (ohne Ruhm zu melden) mit dem berühmten Geisterseher Swedenborg gemein habe, und vermöge deren mein Geist zu gewissen Zeiten sich in die Gesellschaft verstorbener Menschen versetzen, und, nach Belieben, ihre Unterredungen mit einander ungesehen behorchen, oder auch wohl, wenn sie dazu geneigt sind, sich selbst in Gespräche mit ihnen einlassen kann.

Ich gestehe, daß mir diese Gabe zuweilen eine sehr angenehme Unterhaltung verschafft: und da ich sie weder zu Stiftung einer neuen Religion, noch zu Beschleunigung des tausendjährigen Reichs2, noch zu irgend einem andern, dem geistlichen oder weltlichen Arme verdächtigen Gebrauch, sondern bloß zur Gemüthsergötzung meiner Freunde, und höchstens zu dem unschuldigen Zweck, Menschenkunde und Menschenliebe zu befördern3, anwende; so hoffe ich, für diesen kleinen Vorzug (wenn es einer ist) Verzeihung zu erhalten, und mit dem Titel eines Geistersehers, der in unsern Tagen viel von seiner ehemaligen Würde verloren hat, gütigst verschont zu werden.

Es ist noch nicht lange, daß ich das Vergnügen hatte, eine solche Unterredung zwischen zwei Geistern von nicht gemeinem Schlage aufzuhaschen, die meine Aufmerksamkeit um so mehr erregte, da diese Geister in ihrem ehemaligen Leben nicht zum besten mit einander standen, und der eine von ihnen mein sehr guter Freund ist.

Der letztere (um die Leser nicht unnöthig rathen zu lassen) war ein gewisser Lucian4 – keiner von den zwei oder drei Heiligen Lucianen, die mit einem goldnen Cirkel um den Kopf in den Martyrologien figuriren; auch nicht Lucian der Mönch, noch Lucian der Pfarrer zu Kafar-Gamala, der im Jahre des Heils 415 so glücklich war, von St. Gamaliel im Traume benachrichtiget zu werden, wo die Gebeine des heiligen Stephanus zu finden seyen; noch Lucian der Marcionit, noch Lucian von Samosata, der Arianer, von dem eine eigene Nebenlinie dieser unglücklichen Familie den Namen der Lucianischen führt – sondern Lucian der Dialogenmacher, der sich ehemals mit seinen Freunden Momus und Menippus über die Thorheiten der Götter und der Menschen lustig machte, übrigens aber (diesen einzigen Fehler ausgenommen) eine so ehrliche und genialische Seele war und noch diese Stunde ist, als jemals eine sich von einem Weibe gebären ließ.

Der andere war eine nicht weniger merkwürdige Person, wiewohl er in seinem Erdeleben in allem den ausgemachtesten Antipoden meines Freundes Lucian vorstellte, und eine so zweideutige Rolle spielte, daß er bei den einen mit dem Ruf eines Halbgottes aus der Welt ging, während die andern nicht einig werden konnten, ob der Narr oder der Bösewicht, der Betrüger oder der Schwärmer in seinem Charakter die Oberhand gehabt habe. Alles in dem Leben dieses Mannes war excentrisch und außerordentlich: sein Tod war es noch mehr; denn er starb freiwillig und feierlich auf einem Scheiterhaufen, den er vor den Augen einer großen Menge von Zuschauern aus allen Enden der Welt, in der Gegend von Olympia, mit eigner Hand angezündet hatte.

Lucian, der ein Augenzeuge dieses beinahe unglaublichen Schauspiels gewesen war, wurde auch der Geschichtschreiber desselben, und glaubte, als ein erklärter Gegner aller Arten von philosophischen oder religiösen Gauklern, einen besondern Beruf zu haben, die schädlichen Eindrücke auszulöschen, welche Peregrin (so hieß dieser Wundermann, wiewohl er sich damals lieber Proteus nennen ließ) durch einen so außerordentlichen Heldentod auf die Gemüther seiner Zeitgenossen gemacht hätte: und wie hätte er diesen Zweck besser erreichen können, als indem er sie zu überzeugen suchte, daß der Mann, den sie, nach einer so übermenschlichen That für den größten aller Weisen, für ein Muster der höchsten menschlichen Vollkommenheit, ja beinahe für einen Gott zu halten sich genöthigt glaubten, weder mehr noch weniger als der größte aller Narren, sein ganzes Leben das Leben eines von Sinnlichkeit und ausschweifender Einbildungskraft beherrschten halb wahnsinnigen Scharlatans, und sein Tod nichts mehr als der schicklichste Beschluß und die Krone eines solchen Lebens gewesen sey.

Ich habe an einem andern Orte die Gründe ausgeführt5, welche mich überredeten, zu glauben daß Lucian nicht nur in allem, was er als Augenzeuge von diesem Peregrin berichtet, sondern auch in Erzählung derjenigen Umstände, die er von bloßem Hörensagen hatte, ehrlich zu Werke gegangen, und von dem Gedanken, seine Leser zu belügen und dem armen Phantasten wissentlich Unrecht zu thun, weit entfernt gewesen sey. Aber wie zuverlässig auch Lucians Aufrichtigkeit in dieser Sache immer seyn mag, so bleibt nicht nur die Glaubwürdigkeit der Gerüchte und Anekdoten, die auf Peregrins Unkosten in Syrien und anderer Orten herumgingen und jenem erzählt worden waren, zweifelhaft, sondern auch die Fragen: »ob Lucian in seinem Urtheile von ihm so unparteiisch, als man es von einem ächten Kosmopoliten fordern kann, verfahre? und: ob Peregrin wirklich ein so verächtlicher Gaukler und Betrüger und doch (was sich mit diesem Charakter nicht recht vertragen will) zu gleicher Zeit ein so heißer Schwärmer und ausgemachter Phantast gewesen sey, als er ihn ausschreit?« – diese Fragen, sage ich, bleiben für Leser, welche einem Angeklagten, der sich selbst nicht mehr vertheidigen kann, eine desto schärfere Gerechtigkeit im Urtheilen über ihn schuldig zu seyn glauben, unauflösliche Probleme.

Man kann sich also vorstellen wie groß mein Vergnügen war, als ich durch einen glücklichen Zufall Gelegenheit bekam, die erste Unterredung, die zwischen Lucian und Peregrin im Lande der Seelen vorfiel, zu belauschen, und aus dem eignen Munde des letztern Aufschlüsse und Berichtigungen zu erhalten, wodurch das Mangelhafte in den Lucianischen Nachrichten ergänzt, das Dunkle und Unerklärbare ins Licht gesetzt, und das ganze moralische Räthsel des Lebens und Todes dieses sonderbaren Mannes, auf eine ziemlich befriedigende Art aufgelöset wird.

Wenn man sich erinnert, daß seit dem Tode beider redenden Personen beinahe sechzehnhundert Jahre verstrichen sind, so wird man vielleicht unglaublich finden, daß sie in einem so langen Zeitraum nicht eher Gelegenheit gehabt haben sollten, sich anzutreffen und gegen einander zu erklären. Allein fürs erste sind sechzehn Jahrhunderte, nach dem Maßstabe woran die Geister die Zeit zu messen pflegen, kaum so viel als nach unserm Zeitmaße eben so viel Jahrzehnte: und dann traten bei Lucian und Peregrinen noch besondere Umstände ein, von denen (wiewohl sie zu den Geheimnissen des Geisterreichs gehören) uns vielleicht künftig etwas zu verrathen erlaubt seyn wird, die aber hier nicht an ihrem rechten Orte stehen würden.

Nach diesem kleinen Vorberichte würde mich nun nichts weiter hindern, die Unterredung zwischen den besagten beiden Geistern sogleich mitzutheilen, wenn ich voraussetzen könnte, daß der Inhalt der oben angezogenen Lucianischen Schrift (ohne welche diese ganze Unterredung unverständlich und ihre Mittheilung zwecklos seyn würde) entweder aus dem Original oder aus irgend einer Uebersetzung allen Lesern bekannt und gegenwärtig wäre. Da es aber billig ist, auf diejenigen, die sich nicht in diesem Falle befinden, Rücksicht zu nehmen: so hoffe ich diesen letztern durch folgenden Auszug aus Lucians Bericht von Peregrins Lebensende einen kleinen Dienst zu erweisen.

Inhalt des ersten Theils

Inhaltsverzeichnis
Einleitung

Veranlassung dieser Unterredungen zwischen Peregrin und Lucian. Etwas über das Recht oder Unrecht, Schwärmerei und Thorheit durch Spott heilen zu wollen. Peregrin nimmt davon Gelegenheit, sich gegen die harten Urtheile, welche Lucian in seiner Schrift von Peregrins Tode über ihn gefällt, und besonders gegen die Beschuldigungen eines darin redend eingeführten Ungenannten so zu vertheidigen, daß Lucians Wahrheitsliebe und Redlichkeit dabei ins Gedränge kommt. Da er indessen nicht zu läugnen begehrt, daß der Schein und zum Theil die auf bloßen Gerüchten und Verleumdungen beruhende öffentliche Meinung gegen ihn war, so wünscht er seinen neuen Freund durch eine reine offenherzige Beichte seines ganzen ehemaligen Lebens in den Stand zu setzen, ein richtigeres Urtheil von ihm zu fällen, hauptsächlich aber die zweideutigen und räthselhaften Stellen seiner Geschichte in ihr wahres Licht zu setzen. Lucian zeigt sich geneigt ihn anzuhören, und so beginnt Peregrin, im

I. Abschnitt

Seine Erzählung mit einer kurzen Nachricht von seiner Vaterstadt und Familie, um sogleich zur Schilderung der Lebensweise und des Charakters seines Großvaters Proteus, von welchem er erzogen wurde, überzugehen, und zu zeigen, wie theils durch diese Erziehung, theils durch zufällige Umstände schon in seinen frühesten Jahren der Grund zu seinem ganzen Charakter und zu den seltsamen Verirrungen seiner frühzeitig erhitzten und exaltierten Einbildungskraft gelegt worden. Wie er schon im ersten Jünglingsalter dazu gekommen, etwas Dämonisches in sich zu erkennen, und welchen Einfluß diese Entdeckung auf seine Ideen von seiner Bestimmung und dem, was für ihn das höchste Gut sey, gehabt habe. – Tod seines Großvaters, dessen Erbe er wird. Wahre Erzählung seines ersten Liebesabenteuers mit der schönen Kallippe, wodurch die schiefe und in wesentlichen Umständen verfälschte Art, wie der Ungenannte zu Elis davon spricht, berichtiget wird. Peregrin geht von Parium nach Athen. Ursachen der sonderbaren Lebensart, die er daselbst führt. Zweites unglückliches Abenteuer, welches ihm mit einem schönen Knaben zu Athen begegnet, und ihn schleunig nach Smyrna abzureisen bestimmt.

II. Abschnitt

Gemüthszustand, worin Peregrin Athen verläßt. Wie sich sein Ideal von Glückseligkeit (Eudämonie) in ihm entwickelt, und durch eine natürliche Folge ein heftiges Verlangen daraus entsteht, vermittelst einer vermeinten erhabenen Art von Magie in die Gemeinschaft höherer Wesen zu kommen, und von einer Stufe dieses geistigen Lebens zur andern endlich zum unmittelbaren Anschauen und Genuß der höchsten Urschönheit zu gelangen. Er wird zu Smyrna mit einem gewissen Menippus, und durch diesen mit dem Charakter und der Geschichte des Apollonius von Tyana, bekannt; auch erhält er von ihm die erste Nachricht von einer in der Gegend von Halikarnaß sich aufhaltenden vermeintlichen Tochter des Apollonius, welche sich unter dem Namen Dioklea in den Ruf gesetzt habe, im Besitz der höchsten Geheimnisse der theurgischen Magie zu seyn. Peregrin beschließt diese wundervolle Person durch sich selbst kennen zu lernen, geht nach Halikarnassus ab, und wird von Dioklea, einem von Apollonius im Traum erhaltnen Befehle zufolge, als ein zu hohen Dingen bestimmter Günstling der Venus Urania, deren Priesterin sie ist, aufgenommen. Sein Aufenthalt in Diokleens Felsenwohnung. Wunderbarer Anfang und Fortgang seiner Liebe zu dieser Göttin. Erste Theophanie, die ihm in ihrem Tempel widerfährt, mit ihren Folgen.

III. Abschnitt

Peregrin wird mit einer zweiten Theophanie beglückt, und gelangt zur unmittelbaren Vereinigung mit der vermeinten Göttin. Wie er in ihrer Wohnung aufgenommen und durch welche Mittel er eine kurze Zeit in der seltsamsten aller Selbsttäuschungen unterhalten wird. Die Göttin verwandelt sich endlich in die Römerin Mamilia Quintilla, und macht unvermerkt ihrer ehemaligen Priesterin Platz, die sich Peregrinen in einem ganz neuen Lichte zeigt, ihm den Schlüssel zu allen zeither mit ihm vorgenommenen Mystificationen mittheilt, und sich mit abwechselndem Erfolg alle mögliche Mühe gibt, ihn von seiner Schwärmerei zu heilen und mit seiner gegenwärtigen Lage auszusöhnen. Nach mehr als Einem Rückfall versinkt Peregrin in eine peinvolle Schwermuth. Er erhält neue seine Eitelkeit nicht wenig kränkende Aufschlüsse über den Charakter und die Lebensgeschichte der Dioklea: aber die Entdeckung eines neuen Talents an der letztern wirft ihn in die vorige Bezauberung zurück; bis endlich der schmähliche Ausgang eines von Mamilien veranstalteten Bacchanals ihn plötzlich auf die Entschließung bringt, sich der Gewalt dieser ihm zu mächtigen Zaubrerinnen durch eine heimliche Flucht zu entziehen, die er auch glücklich bewerkstelligt.

IV. Abschnitt

Psychologische Darstellung der Gemüthsverfassung, worin Peregrin nach Smyrna zurück kam. Schwermuth und Verfinsterung, worein ihn das Gefühl der Leerheit stürzt, welche das Verschwinden der Bezauberungen, deren Spiel er gewesen war, in seiner Seele zurück läßt. Er wird zufälliger Weise (wie er glaubt) durch die Erscheinung eines unerklärbaren aber sehr interessanten Unbekannten aus diesem Zustand aufgerüttelt und in neue Erwartungen gesetzt, wohnt, ohne zu wissen wie es zugeht, einer Versammlung von Christianern zu Pergamus bei, und ein neues mystisches Leben beginnt von dieser Stunde an in ihm. Der Unbekannte fährt fort mächtig auf sein Gemüth zu wirken, spannt seine Erwartungen in dem magischen Helldunkel, worein er ihn einhüllt, immer höher, befiehlt ihm aber nach Parium zurückzukehren, wohin sein Vater ihn gerufen hatte, und daselbst ruhig auf denjenigen zu warten, der ihm zum Führer auf den rechten Weg zugeschickt werden sollte.

V. Abschnitt

Die Unbekannten, in deren Händen Peregrin ohne sein Wissen sich befindet, fahren fort, ihn durch klüglich berechnete Umwege, Schritt für Schritt, dahin zu leiten, wo sie ihn haben wollen. Durch eine Veranstaltung dieser Art, die er für bloßen Zufall hält, findet er die erste Nachtherberge auf seiner Reise bei einer einsam auf dem Lande lebenden Familie von Christianern, deren Liebenswürdigkeit, Eintracht, Gemüthsruhe, Einfalt der Seele und Unschuld der Sitten einen so tiefen Eindruck auf ihn macht, daß der Wunsch mit solchen Menschen zu leben das Ziel aller seiner Bestrebungen ist, zumal da dieser Eindruck durch die Erzählung seines Wirthes von dem Tode des Apostels Johannes (zu dessen Gemeine er gehörte) und durch die Schilderung, die ihm sein Wegweiser von dem Charakter des erhabenen Wesens macht, nach welchem sie sich nannten, verstärkt wird. Peregrin kommt in das väterliche Haus zurück und übernimmt die Besorgung der Handelsgeschäfte seines Vaters. Bald darauf entdeckt sich ihm in der Person seines ehemaligen Wegweisers Hegesias, ein Kaufmann von Aegina, und einer der thätigsten Agenten des Unbekannten. Hegesias erwirbt sich durch seine Kenntnisse und Handelsverbindungen das Vertrauen des Vaters, welchem er seine Gemeinschaft mit den Christianern verbirgt, um desto ungestörter an dem Sohne das von dem Unbekannten und ihm selbst angefangene Bekehrungswerk betreiben zu können. Peregrin erhält den ersten Grad der Weihe von ihm. Charakter des Hegesias, mit einer Digression über den Unterschied zwischen den damaligen Christianischen Brüdergemeinen und den Christianern unter den Constantinen und Theodosiern. Der Unbekannte, welcher fortan Kerinthus heißen wird, offenbart sich nun dem hinlänglich geprüften Peregrin etwas näher, und ertheilt ihm den zweiten Grad der Weihe, hüllt sich aber gar bald wieder in das heilige Dunkel ein, worin er ihm bisher immer erschienen war. Peregrin entdeckt, daß er erst in den zweiten Vorhof des Heiligthums vorgeschritten sey, und diese Entdeckung verdoppelt seinen brennenden Eifer, sich der höhern Grade, die er noch zu ersteigen hat, durch die willigste Unterwerfung unter jede Prüfung, Vorbereitung und Aufopferung würdig zu machen. Er kehrt aus Gehorsam zu seinen Geschäften nach Parium zurück, und macht den Brüdern ein voreiliges Geschenk von seinem ganzen Vermögen. Sonderbares aber schlaues Benehmen des Hegesias bei dieser Gelegenheit, welches zu einigen der Entwicklung der Geschichte zuvorkommenden Anmerkungen über die schon damals immer sichtbarer werdende Abweichung der Christianer von dem Geist und Vorbild ihres Meisters Anlaß gibt.

Erster Theil

Inhaltsverzeichnis
Auszug aus Lucians Nachrichten vom Tode des Peregrinus.

Die öffentlichen Kampfspiele zu Olympia, womit die zweihundert sechsunddreißigste Olympiade6 begann, waren der Zeitpunkt, und eine Ebene in der Gegend dieser Stadt der Schauplatz, welchen der Philosoph Peregrinus, auch Proteus genannt, dazu ausersehen hatte, den Griechen und Ausländern aus allen Theilen der Welt, so diese Spiele zu Olympia zu besuchen pflegten, die außerordentlichste und schauerlichste aller Tragödien, das Schauspiel eines sich freiwillig verbrennenden Cynikers, zu geben.

Auch Lucian, wiewohl er die Olympischen Spiele schon dreimal gesehen hatte, hielt es der Mühe werth, einem solchen Schauspiel zu Liebe diese Reise zum viertenmale zu machen; und als er nach Elis (der nicht weit von Olympia gelegenen Hauptstadt der Republik dieses Namens) gekommen war, hörte er, indem er bei dem dortigen Gymnasion vorbei ging, einen cynischen Philosophen, um den sich eine Menge Volks versammelt hatte, mit der brüllenden Stimme die zum Costum dieser Capuziner der alten Griechen gehörte, dem Peregrinus eine Lobrede halten, und sein Vorhaben, sich zu Olympia zu verbrennen, in der, seinem Orden eigenen, popularen und deklamatorischen Manier rechtfertigen. – Von nun an mag Lucian in seiner eigenen Person sprechen.

»Und man darf sich noch erfrechen (rief der Cyniker) einen Mann wie Proteus einer eiteln Ruhmsucht zu beschuldigen? O ihr Götter des Himmels und der Erde, der Flüsse und des Meeres, und du Vater Hercules! Wie? diesen Proteus, der in Syrien in Banden lag, ihn, der seiner Vaterstadt fünftausend Talente7 schenkte, ihn, den die Römer aus ihrer Stadt vertrieben, ihn, der unverkennbarer ist als die Sonne, und der es mit Jupiter Olympius selbst aufnehmen könnte, – ihn beschuldigt man der Eitelkeit, weil er durchs Feuer aus dem Leben gehen will? – That etwa Hercules8 nicht eben dasselbe? Starb Aesculap und Dionysos nicht durch einen Wetterstrahl? und stürzte sich nicht Empedokles9 in den Flammenschlund des Aetna?«

Als Theagenes (so nannte sich der Schreier) dieß gesagt hatte, fragte ich einen der Umstehenden, was er mit seinem Feuer meinte, und was Hercules und Empedokles mit dem Proteus zu schaffen hätten? – Du weißt also nicht, versetzte er mit, daß Proteus sich nächstens zu Olympia verbrennen wird? – Sich verbrennen? rief ich mit Verwunderung: wie ist das gemeint? und warum will er sich verbrennen? – Aber wie mir jener antworten wollte, schrie der Cyniker wieder so abscheulich, daß ich kein Wort von dem andern verstehen konnte. Ich hörte also nochmals den erstaunlichen Hyperbolen zu, die jener zum Lobe des Proteus in einem Strom von Worten ausgoß. Dem Diogenes und seinem Meister Antisthenes geschähe schon zu viel Ehre, sagte er, wenn man sie nur mit ihm vergleichen wollte. Dazu wäre nicht einmal Sokrates gut genug: kurz, er forderte endlich Jupitern selbst zum Kampf mit seinem Helden heraus; doch fand er zuletzt für besser, die Sachen zwischen ihnen ins Gleichgewicht zu bringen, und schloß seine Rede folgendermaßen: »Mit Einem Worte, die zwei größten Wunder der Welt sind Jupiter Olympische Jupiter und Proteus; jenen bildete die Kunst des Phidias, diesen die Natur selbst; und nun wird dieses herrliche Götterbild auf einem Feuerwagen zu den Göttern zurückkehren, und uns als Waisen zurücklassen!« – Der Mann schwitzte wie ein Braten, indem er dieß tolle Zeug vorbrachte aber bei den letzten Worten brach er auf eine so komische Art in Thränen aus, daß ich mich des Lachens kaum erwehren konnte; er machte sogar Anstalt sich die Haare auszuraufen, nahm sich aber doch in Acht, nicht gar zu stark zu ziehen. Endlich machten einige Cyniker dem Possenspiel ein Ende, indem sie den schluchzenden Redner unter vielen Trostsprüchen davon führten.

Er war aber kaum von der Kanzel herab gestiegen, so stieg schon ein Anderer wieder hinauf, um die Zuhörer nicht aus einander gehen zu lassen, bevor er dem noch flammenden Opfer seines Vorgängers eine Libation aufgegossen10 hätte. Sein erstes war, daß er eine laute Lache aufschlug, wodurch er, wie man wohl sah, seinem Zwerchfell eine nöthige Erleichterung verschaffte. Hierauf fing er ungefähr also an: Hat der Marktschreier Theagenes seine verwünschte Rede mit den Thränen des Heraklitus beschlossen, so fange ich umgekehrt die meinige mit dem Gelächter des Demokritus11 an – und nun brach er von neuem in ein so anhaltendes Lachen aus, daß die meisten von uns Anwesenden sich nicht erwehren konnten ihm Gesellschaft zu leisten. Endlich nahm er sich wieder zusammen, und fuhr fort: »Was könnten wir auch anders thun, meine Herren, wenn wir so höchst lächerliches Zeug in einem solchen Tone verbringe hören, und sehen, wie bejahrte Männer, um eines verächtlichen kleinen Rühmchens willen, auf öffentlichem Markte nur nicht gar Burzelbäume machen? Damit ihr doch das Götterbild, das nächster Tage verbrannt werden soll, etwas näher kennen lernet, so höret mir zu; mir, der schon seit langer Zeit seinen Charakter studiert und sein Leben beobachtet, außerdem aber noch verschiedenes von seinen Mitbürgern und von Personen, die ihn nothwendig sehr genau kennen mußten, erkundiget hat.

Dieses große Wunder der Welt wurde in Armenien, da er kaum die Jahre der Mannbarkeit erreicht hatte, im Ehebruch ertappt, und genöthigt, mit einem Rettig im Hintern,12 sich durch einen Sprung vom Dache zu retten, um nicht gar zu Tode geprügelt zu werden. Gleichwohl ließ er sich bald darauf wieder gelüsten, einen schönen Knaben zu verführen; und bloß die Armuth der Eltern, die sich mit dreitausend Drachmen abfinden ließen, war die Ursache, daß er der Schande, vor den Statthalter von Asien geführt zu werden, entging. Doch, ich übergehe alle seine Jugendstreiche dieser Art; denn damals war das Götterbild freilich noch ungeformter Thon, und von seiner Ausbildung und Vollendung noch weit entfernt. Aber was er seinem Vater gethan, ist allerdings nicht zu übergehen, wiewohl ihr vermuthlich alle schon gehört haben werdet, daß er den alten Mann, weil er ihm mit sechzig Jahren schon zu lange lebte, erdrosselt haben soll. Da die Sache bald darauf ruchtbar wurde, sah er sich gezwungen, sich selbst aus seiner Vaterstadt zu verbannen, und von einem Lande ins andere unstät und flüchtig herum zu irren.

Um diese Zeit geschah es, daß er sich in der wundervollen Weisheit der Christianer unterrichten ließ, da er in Palästina Gelegenheit fand mit ihren Priestern und Schriftgelehrten bekannt zu werden. Es schlug so gut bei ihm an, daß seine Lehrer in kurzer Zeit nur Kinder gegen ihn waren. Er wurde gar bald selbst Prophet, Thiasarch, Synagogenmeister13, mit Einem Worte alles in allem unter ihnen. Er erklärte und commentierte ihre Bücher, und schrieb deren selbst eine große Menge; kurz, er brachte es so weit, daß sie ihn für einen göttlichen Mann ansahen, sich Gesetze von ihm geben ließen, und ihn zu ihrem Vorsteher machten. – Es kam endlich dazu, daß Proteus bei Begehung ihrer Mysterien14 ergriffen und ins Gefängniß geworfen wurde; ein Umstand, der nicht wenig beitrug, ihm auf sein ganzes Leben einen sonderbaren Stolz einzuflößen, und diese Liebe zum Wunderbaren und dieses unruhige Bestreben nach dem Ruhm eines außerordentlichen Mannes in ihm anzufachen, die seine herrschenden Leidenschaften wurden. Denn sobald er in Banden lag, versuchten die Christianer (die dieß als eine ihnen allen zugestoßene große Widerwärtigkeit betrachteten) das Mögliche und Unmögliche, um ihn dem Gefängniß zu entreißen; und da es ihnen damit nicht gelingen wollte, ließen sie es ihm wenigstens an der sorgfältigsten Pflege und Wartung in keinem Stücke fehlen. Gleich mit Anbruch des Tages sah man schon eine Anzahl alter Weiblein, Wittwen15 und junge Waisen sich um das Gefängniß her lagern; ja die vornehmsten unter ihnen bestachen sogar die Gefangenhüter, und brachten ganze Nächte bei ihm zu. Auch wurden reichliche Mahlzeiten16 bei ihm zusammen getragen, und ihre heiligen Bücher gelesen; kurz, der theure Peregrin (wie er sich damals noch nannte) hieß ihnen ein zweiter Sokrates. Sogar aus verschiedenen Städten in Asien kamen einige, die von den dortigen Christianern abgesandt waren, ihm hülfreiche Hand zu leisten, seine Fürsprecher vor Gericht zu seyn, und ihn zu trösten. Denn diese Leute sind in allen dergleichen Fällen, die ihre ganze Gemeinheit betreffen, von einer unbegreiflichen Geschwindigkeit, und sparen dabei weder Mühe noch Kosten. Daher wurde auch Peregrinen seiner Gefangenschaft halber eine Menge Geld von ihnen zugeschickt, und er verschaffte sich unter diesem Titel ganz hübsche Einkünfte.

Uebrigens wurde er (als es zu gerichtlicher Entscheidung seines Schicksals kam) von dem damaligen Statthalter in Syrien wieder in Freiheit gesetzt; einem Manne, der die Philosophie liebte, und sobald er merkte wie es in dem Kopfe dieses Menschen aussah, und daß er Narrs genug war aus Eitelkeit und Begierde zum Nachruhm sterben zu wollen, ihn lieber fortschickte, ohne ihn auch nur einer Züchtigung werth zu halten. Peregrin kehrte also in seine Heimath zurück, fand aber bald, daß das Gerücht von seinem Vatermorde noch immer unter der Asche glühte, und daß viele damit umgingen, ihm einen förmlichen Proceß deßwegen an den Hals zu werfen. Die Hälfte seines väterlichen Vermögens war über seinen Reisen aufgegangen, und der Rest bestand ungefähr in funfzehn Talenten an Feldgütern. Denn die sämmtliche Verlassenschaft des Alten war höchstens dreißigtausend Thaler werth, und nicht, wie Theagenes lächerlicher Weise geprahlt hatte, fünf Millionen; welches eine Summe wäre, wofür das ganze Städtchen Parium17 und fünf andere benachbarte obendrein verkauft werden können. Wie gesagt also, der Verdacht seines Verbrechens war noch warm, und es hatte alles Ansehen, daß in kurzem ein Ankläger gegen ihn auftreten würde. Besonders war das gemeine Volk über ihn aufgebracht, und beklagte, daß ein so wackerer Mann, wie der Alte nach dem Zeugniß aller seiner Bekannten gewesen war, auf eine so gottlose Art aus der Welt gekommen seyn sollte. Nun sehe man, durch welche schlaue Erfindung der weise Proteus sich aus diesem bösen Handel zu ziehen wußte! Er hatte sich inzwischen einen großen Bart wachsen lassen, und ging gewöhnlich in einem schmutzigen Caput von grobem Tuch, mit einem Tornister auf den Schultern und einem Stecken in der Hand. In diesem tragischen Aufzug erschien er nun in der öffentlichen Versammlung der Parianer, und erklärte ihnen, daß er hiermit die ganze Verlassenschaft seines seligen Vaters dem Publicum überlassen haben wolle. Diese Freigebigkeit that auf den gemeinen Mann eine so gute Wirkung, daß sie in laute Bezeugungen ihres Dankes und ihrer Bewunderung ausbrachen. Das heißt man einen Philosophen, schrien sie, einen wahren Patrioten, einen ächten Nachfolger des Diogenes und Krates! Nun war seinen Feinden der Mund gestopft, und wer sich hätte unterfangen wollen des Vatermordes noch zu erwähnen, würde auf der Stelle gesteiniget worden seyn. Indessen blieb ihm nach dieser Schenkung nichts anders übrig, als sich abermals aufs Landstreichen zu begeben: denn da konnte er auf einen reichlichen Zehrpfennig von den Christianern rechnen, die überall seine Trabanten machten, und es ihm an nichts mangeln ließen. Auf diese Weise brachte er sich noch eine Zeit lang durch die Welt. Da er es aber in der Folge auch mit diesen verdarb – man hatte ihn, glaube ich, etwas, das bei ihnen verboten ist, essen sehen18 – und sie ihn deßwegen nicht mehr unter sich duldeten, gerieth er in so große Verlegenheit, daß er sich berechtigt glaubte, die Güter von der Stadt Parium zurückzufordern, die er ihr ehemals überlassen hatte. Er suchte beim Kaiser um ein Mandat deßwegen an: weil aber die Stadt durch Abgeordnete Gegenvorstellungen that, richtete er nichts aus, sondern wurde befehligt, es bei dem zu lassen, was er einmal aus eigener freier Bewegung verfügt habe.

Nunmehr unternahm er eine dritte Reise zum Agathobulus19 nach Aegypten, wo er sich durch eine ganz neue und verwundrungswürdige Art von Tugendübung hervorthat: er ließ sich nämlich den Kopf bis zur Hälfte glatt abscheren, beschmierte sich das Gesicht mit Leim, that (um zu zeigen, daß dergleichen Handlungen unter die gleichgültigen gehörten) vor einer Menge Volks – was schon Diogenes öffentlich gethan haben soll, geißelte sich selbst, und ließ sich von andern mit einer Ruthe den Hintern zerpeitschen, mehrerer noch ärgerer Bubenstreiche zu geschweigen, wodurch er sich in den Ruf eines außerordentlichen Menschen20 zu setzen suchte. Nach dieser schönen Vorbereitung schiffte er nach Italien über, wo er kaum den Boden betrat, als er schon über alle Welt zu schimpfen und zu lästern anfing, am meisten über den Kaiser,21 gegen den er sich die ärgsten Freiheiten um so getroster herausnahm, weil er wußte, daß es der sanfteste und leutseligste Herr war. Wie man leicht denken kann, bekümmerte sich dieser wenig um seine Lästerungen, und hielt es unter seiner Würde, einen Menschen, der von Philosophie Profession machte, Worte halber zu strafen, zumal da er das Lästern und Schmähen ordentlich als sein Handwerk trieb. Indessen half auch dieser Umstand seinen Ruf vermehren: denn es fehlte unter dem gemeinen Volke nicht an Einfältigen, bei denen er sich durch seine Tollheit in Credit setzte; so daß der Oberpolizeimeister ihn endlich, da er's gar zu arg machte, aus der Stadt hinaus bieten mußte, weil man, wie er sagte, solche Philosophen zu Rom nicht brauchen könnte. Aber auch dieß vermehrte nur seine Celebrität, weil jedermann von dem Philosophen sprach, der seiner kühnen Zunge und allzu großen Freimüthigkeit wegen aus der Stadt verwiesen worden sey, und diese Aehnlichkeit ihn mit einem Musonius, einem Dion, einem Epiktet,22und wer sonst von dieser Classe das nämliche Schicksal erfahren hatte, in Eine Linie stellte.

In Griechenland, wohin er sich jetzt begab, spielte er keine bessere Rolle; denn bald ließ er seine Schmähsucht an den Einwohnern von Elis aus, bald wollte er die Griechen bereden die Waffen gegen die Römer zu ergreifen, bald lästerte er über einen durch seine Gelehrsamkeit und Würden gleich erhabenen Mann,23 der unter mehrern andern Verdiensten um Griechenland eine Wasserleitung nach Olympia auf seine Kosten geführt hatte, damit die Zuschauer der Kampfspiele nicht länger vor Durst verschmachten müßten. Diese Wohlthat machte ihm Peregrin zum Vorwurf, als ob er die Griechen dadurch weibisch gemacht hätte. Es gebühre sich, sagte er, daß die Zuschauer der Olympischen Spiele den Durst ertragen könnten, und der Schade sey so groß nicht, wenn auch manche an den hitzigen Krankheiten, die bisher wegen der Dürre dieser Gegend daselbst im Schwange gingen, drauf gehen müßten. Und das alles sagte er, während er sich das nämliche Wasser wohl belieben ließ; eine Unverschämtheit, wodurch die Anwesenden so erbittert wurden, daß alles zusammenlief und im Begriff war, ihn mit Steinen zuzudecken, so daß der tapfere Mann, um mit dem Leben davon zu kommen, zu Jupitern24 seine Zuflucht nehmen mußte.«

In der nächst folgenden Olympiade erschien er wieder vor den Griechen, und zwar mit einer Rede, woran er in den verflossenen vier Jahren gearbeitet hatte, und worin er, unter Entschuldigung seiner letztmaligen Flucht, den Stifter des Wassers zu Olympia bis an den Himmel erhob. Wie er aber gewahr wurde, daß sich niemand mehr um ihn bekümmerte, und daß er kommen und gehen konnte ohne das mindeste Aufsehen zu erregen – denn seine Künste waren nun was Altes, und etwas Neues, wodurch er in Erstaunen setzen und die Aufmerksamkeit und Bewunderung des Publicums hätte auf sich ziehen können, wußte er nicht aufzutreiben, da dieß doch vom Anfang an das Ziel seiner leidenschaftlichsten Begierde gewesen war – so gerieth er endlich auf diesen letzten tollen Einfall mit dem Scheiterhaufen, und kündigte den Griechen bereits an den letzten Olympischen Spielen an, daß er sich an den nächst folgenden verbrennen würde.

»Und dieß ist nun also das wundervolle Abenteuer, mit dessen Ausführung er, wie es heißt, beschäftigt ist, indem er bereits eine Grube graben, und eine Menge Holz zusammen führen läßt, um uns das Schauspiel einer übermenschlichen Stärke der Seele zu geben.« u.s.w.

Wie wir (fährt Lucian in eigner Person fort) in Olympia angekommen waren, fanden wir die Galerie hinter dem Tempel mit einer Menge Leuten angefüllt, die theils übel, theils rühmlich von dem Vorhaben des Proteus sprachen. Endlich erschien in Begleitung einer Menge Volks mein Proteus selbst, und hielt eine Rede an das Volk, worin er sich über seinen ganzen Lebenslauf, über die mancherlei gefahrvollen Abenteuer, die ihm zugestoßen, und das viele Ungemach, das er der Philosophie zu Lieb' ausgestanden, umständlich vernehmen ließ. Er sprach lange; aber da ich der Menge und des Gedränges wegen zu weit entfernt war, konnte ich wenig davon verstehen, und fand endlich aus Furcht erdrückt zu werden (welches mehr als Einem begegnete), für das sicherste, mich auf die Seite zu machen, und den Sophisten seinem Schicksale zu überlassen, der nun einmal mit aller Gewalt sterben, und das Vergnügen haben wollte sich seine Leichenrede selbst zu halten. Indessen hörte ich doch wie er sagte: er habe vor, einem goldnen Leben eine goldne Krone aufzusetzen; denn es gebühre sich, daß der Mann, der wie Hercules gelebt habe, auch wie Hercules sterbe, und in den Aether, woher er gekommen, zurückfließe. »Auch gedenke ich, sagte er, ein Wohlthäter der Menschen dadurch zu seyn, daß ich ihnen zeige, wie man den Tod verachten müsse; und ich darf also billig erwarten, daß alle Menschen meine Philokteten seyn werden25.«

Diese letzten Worte verursachten eine große Bewegung unter den Umstehenden. Die Einfältigsten brachen in Thränen aus und riefen: erhalte dich für die Griechen! Andere, die mehr Stärke hatten, schrien: vollführe was du beschlossen hast! Dieser Zuruf schien den alten Kerl ziemlich aus der Fassung zu bringen; denn er mochte gehofft haben, daß ihn alle Anwesende zurückhalten und nöthigen würden, wider Willen bei Leben zu bleiben. Aber dieß leidige: »Vollführe was du beschlossen hast!« fiel ihm so ganz unerwartet auf die Brust, daß er noch blässer wurde als vorher, wiewohl er schon eine wahre Leichenfarbe gehabt hatte, und es wandelte ihn ein solches Zittern an, daß er zu reden aufhören mußte.

Du kannst dir vorstellen, wie lächerlich mir das ganze Gaukelspiel vorkam. Denn ein so unglücklicher Liebhaber des Ruhms, wie dieser, verdiente kein Mitleiden, da wohl schwerlich unter allen, die jemals von dieser Plagegöttin gehetzt wurden, Einer war, der weniger Ansprüche an ihre Gunst zu machen gehabt hätte. Indessen wurde er doch von vielen zurückbegleitet; und sein Dünkel fand eine stattliche Weide, wenn er über die Menge seiner Bewunderer hinsah, ohne daß der Thor bedachte, daß auch die Elenden, die zum Galgen geführt werden, ein sehr zahlreiches Gefolge zu haben pflegen.

Die Olympischen Spiele waren nun vorüber, und weil eine so große Menge von Fremden auf einmal abging, daß kein Fuhrwerk mehr zu bekommen war, mußte ich wider Willen zurückbleiben. Peregrin, der die Sache immer von einem Tage zum andern aufgeschoben hatte, kündigte endlich die Nacht an, worin er uns seine Verbrennung zum Besten geben wollte. Ich verfügte mich also gegen Mitternacht in Begleitung eines meiner Freunde gerades Weges nach Harpine26, wo der Scheiterhaufen stand. Wenn man von Olympia neben der großen Rennbahn ostwärts geht, hat man gerade zwanzig Stadien dahin zu gehen. Wie wir ankamen, fanden wir den Holzstoß in einer ellentiefen Grube aufgesetzt. Er bestand größtentheils aus Kienholz mit dürrem Reisig vermischt, damit das Ganze desto schneller in Flammen geriethe.

Sobald der Mond aufgegangen war (denn billig mußte auch Luna eine Zuschauerin dieser herrlichen That abgeben), erschien Peregrin in seinem gewöhnlichen Aufzug, und mit ihm die Häupter der Hunde,27 vornehmlich der edle Theagenes, der eine brennende Fackel in der Hand trug, und die zweite Rolle bei dieser Komödie nicht übel spielte. Auch Proteus selbst war mit einer Fackel bewaffnet. Beide näherten sich von dieser und jener Seite dem Scheiterhaufen und zündeten ihn an. Proteus legte den Tornister, den cynischen Mantel und den berühmten Herculischen Knittel ab, und stand nun in einer ziemlich schmutzigen Tunica da. Hierauf ließ er sich eine Hand voll Weihrauch geben, warf sie ins Feuer, und rief, das Gesicht gegen Mittag gerichtet (denn auch dieß gehörte zur Etikette des Schauspiels) – »O ihr mütterlichen und väterlichen Dämonen, nehmt mich freundlich auf!« – Mit diesen Worten sprang er ins Feuer, und wurde sogleich durch die rings umgebenden und aufsteigenden Flammen dem Aug' entzogen.

Peregrins geheime Geschichte in Gesprächen im Elysium.
Einleitung
Inhaltsverzeichnis

Peregrin, Lucian.

Peregrin.

Täuschen mich meine Augen, oder ist es wirklich mein alter Gönner Lucian von Samosata, den ich nach so langer Zeit wieder sehe?

Lucian (ihn aufmerksam betrachtend).

Wir sind also bessere Bekannte als ich weiß. Und doch ist mir selbst als ob mir deine Züge nicht fremd wären; sie mahnen mich an jemand den ich einst gesehen habe, wiewohl ich mich nicht besinne an wen.

Peregrin.

Es sind freilich über sechzehnhundert Jahre, seitdem wir uns auf der Ebene zwischen Harpine und Olympia zum letztenmale sahen.

Lucian.

Wie? Was für Erinnerungen weckst du plötzlich in mir auf? Solltest du wohl gar der Philosoph Peregrinus Proteus seyn, der den seltsamen Einfall hatte, sich freiwillig zu Olympia zu verbrennen?

Peregrin.

Eben der, dem du in deinen Werken ein nicht sehr beneidenswürdiges Denkmal gesetzt hast.

Lucian.

Närrisch genug, daß ich in meinem Kopfe hatte, du müßtest nothwendig über und über mit Brandblasen überdeckt und so schwarz wie ein Köhler seyn! Du hättest noch zehnmal vor mir vorbei gehen können, ohne daß ich dich in der glänzenden Figur, die du jetzt machst, erkannt hätte.

Peregrin.

Du dachtest wohl damals nicht, daß wir uns nach sechzehnhundert Jahren in Elysium wieder sehen würden?

Lucian.

Aufrichtig zu reden, nein. Schwärmen war nie meine Sache, wie du weißt.

Peregrin.

Und doch lehrt dich nun die Erfahrung, daß es nicht geschwärmt gewesen wäre, wenn du damals über diese Dinge gedacht hättest wie du jetzt denkst.

Lucian.

Um Vergebung! Wie oft sieht man sogar im gemeinen menschlichen Leben Dinge geschehen, welche nicht vorausgesehen zu haben dem klügsten Manne nicht zum Vorwurf gereichen kann! Die Natur hatte mich mit einem kalten Kopfe ausgesteuert; ich hätte das hitzige Fieber in einem hohen Grade haben müssen, um mir damals, als ich dich zu Harpine in die Flammen springen sah, einzubilden, daß ich dich an einem andern Orte wie dieser und so wohlbehalten wiederfinden würde.

Peregrin.

Indessen beweisen deine Werke, daß es dir nicht an Einbildungskraft fehlte; oder vielmehr, daß nur wenige sich rühmen können, dich an Fruchtbarkeit und Stärke dieser Seelenkraft übertroffen zu haben.

Lucian.

Aber sie beweisen auch, dächte ich, daß ich die Imagination nie anders als zum Spielen gebrauchte. Im Scherz machte ich wohl mit ihrer Hülfe Reisen in den Mond und nach der Jupitersburg28: aber daß ich im Ernst hätte glauben sollen, mit ihr über die Gränzen hinausfliegen zu können, die unsern fünf Sinnen, und folglich auch unsrer Vernunft, in jenem Leben von der Natur gesetzt waren, so etwas konnte eben so wenig in einen Kopf wie der meinige kommen, als der Gedanke, mir im Ernste einen Adlers- und einen Geyersflügel an die Arme zu binden und damit nach dem Monde zu fliegen.

Peregrin.

Dieß geb' ich dir willig zu; denn alles was daraus folgt, ist, daß es zu deiner eignen Art zu seyn gehörte, deine Einbildungskraft nur zum Scherz, zum Erfinden und Ausmalen abenteuerlicher Bilder, und zur Belustigung deiner Zuhörer oder Leser zu gebrauchen. Aber ich denke nicht, daß dir dieß ein Recht gab diejenigen zu verspotten, die einen ernsthaftern Gebrauch von der ihrigen machten, und, indem sie sich die Bestimmung und das künftige Loos des Menschen ungefähr so einbildeten wie wir es wirklich befunden haben, durch die That bewiesen, daß eine gewisse Divinationskraft in unsrer Seele schlummert, die vielleicht (wie so viele andere Fähigkeiten) in den meisten Menschen nie erweckt wird, aber denen, in welchen sie erwacht und zu einem gewissen Grade von Lebhaftigkeit gelangt, ein Vorgefühl des Unsichtbaren und Zukünftigen gibt, das in einer feurigen und thätigen Seele natürlicherweise nicht ohne Wirkung bleiben kann.

Lucian.

Freund Peregrin, wenn es erlaubt ist über einen Thersites29 zu spotten, der schöner als Phaon und Adonis zu seyn wähnt, oder einen Zwerg lächerlich zu finden, der sich unter einer sechs Schuh hohen Thür bückt, aus Furcht im Durchgehen die Stirne anzustoßen: so sehe ich nicht, warum es so unrecht seyn sollte, über einen Ehrenmann zu lachen, der, zum Beispiel, sich einbildete, vermittelst ich weiß nicht welches eigenen Sinnes das Gras wachsen zu hören, und den Umstand, daß das Gras wirklich gewachsen ist, als eine Bestätigung dieser ihm beiwohnenden Gabe geltend machen wollte.

Peregrin.

Und ich sehe eben so wenig, wie man ihm beweisen könnte, daß er diesen Sinn nicht habe, als warum man ihm seinen Wahn, wenn es auch Wahn wäre, nicht unverspottet lassen sollte, zumal wenn er sonst ein unschuldiger und guter Mensch ist.

Lucian.

Es gibt wohl unter der ganzen unermeßlichen Last von Thorheiten, woran der Verstand der armen Erdenkinder krank ist, wenige, die nicht an sich selbst so unbedeutend und unschuldig sind oder scheinen, daß sie nicht mit gleichem Rechte sollten fordern können, unverspottet ihren Weg gehen zu dürfen: und doch sind eben diese kleinen unschuldigen Thorheiten zusammengenommen die Quellen der größten Uebel, von denen das Menschengeschlecht geplagt wird. Keine Thorheit, wie unschuldig sie auch scheinen mag, kann also einen Freibrief gegen den Spott verlangen, der beinahe das einzige wirksame Verwahrungsmittel gegen ihren schädlichen Einfluß ist.

Peregrin.

Gut! aber gestehe mir auch, daß gerade dieser große Hang der Menschen zur Thorheit, und diese fast allgemeine Bethörung, womit selbst diejenigen, die sich die klügsten dünken, unwissend angesteckt sind, es ihnen oft schwer macht, sich in ihren raschen Urtheilen über das, was thöricht oder nicht thöricht ist, vor Irrthum zu bewahren. Immer wird viel Behutsamkeit vonnöthen seyn, damit wir den Menschen, indem wir ihnen Gutes zu thun glauben, nicht Schaden zufügen, wenn unsre Arznei noch viel schlimmere Wirkungen thut, als das Uebel ist, dem wir abhelfen wollen. Welcher weise und gute Mann wird sich gern der beschämenden Reue aussetzen, eine Meinung, die den Menschen veredelt, die ihn über sich selbst erhebt und zu allem was schön und groß ist begeistert, als einen thörichten Wahn dem Spotte der Narren und Gecken Preis gegeben zu haben?

Lucian.

Nicht alles was gleißt ist Gold, mein edler Freund, und manche Meinung, die kein guter Mensch ihrer selbst wegen anfechten würde, wird durch den thörichten Gebrauch, welchen alberne oder brennende Köpfe von ihr machen, belachenswürdig. Ueberhaupt, lieber Peregrin, hat mich ein ruhiger Blick auf die menschlichen Dinge in jenem Leben etwas mißtrauisch gegen alle hoch fliegenden Anmaßungen gewisser Leute, deren Absichten selten lange zweideutig bleiben, gemacht; und ich argwohne immer eine Natter unter den Blumen, wenn ich von Mysterien oder magischen Operationen höre, wodurch die menschliche Natur über sich selbst erhoben, wo nicht gar vergöttert werden soll. Meistens habe ich gesehen, daß diese Dinge nichts als goldfarbige Fliegen sind, womit Betrüger ihre Angeln bestecken und gutherzige Schwindelköpfe damit anlocken, um, wenn sie einmal in den Hamen gebissen haben, etwas weniger als Menschen, oder, rund heraus zu reden, Narren und blinde Werkzeuge ihrer geheimen Absichten aus ihnen zu machen. Wer zum Menschen geboren wurde, soll und kann nichts Edleres, Größeres und Besseres seyn als ein Mensch – und wohl ihm, wenn er weder mehr noch weniger seyn will!

Peregrin.

Aber, lieber Lucian, gerade um nicht weniger zu werden als ein Mensch, muß er sich bestreben mehr zu seyn. Unläugbar ist etwas Dämonisches in unsrer Natur; wir schweben zwischen Himmel und Erde in der Mitte, von der Vaterseite, so zu sagen, den höhern Naturen, von unsrer Mutter Erde Seite den Thieren des Feldes verwandt. Arbeitet sich der Geist nicht immer empor, so wird der thierische Theil sich bald im Schlamme der Erde verfangen, und der Mensch, der nicht ein Gott zu werden strebt, wird sich am Ende in ein Thier verwandelt finden.

Lucian.

Es wäre denn, daß ihn die wohlthätige Natur, wie Mercur den Ulysses beim Homer, mit einem Moly30 beschenkt hätte, durch dessen Tugend er allen solchen Bezauberungen Trotz bieten kann.

Peregrin.

Und wie nennest du diesen wundervollen Talisman? Denn so viel ich mich aus meinem Homer besinne, ist Moly nur der Name, den ihm die Götter gaben.

Lucian.

Verstand nenne ich ihn, lieber Peregrin, gemeinen, aber gesunden Menschenverstand.

Peregrin (indem er ihm scharf in die Augen sieht).

Und dieses Moly hätte dich in deinem Leben immer vor der Zauberruthe der schönen Circe verwahrt?

Lucian.

Vor ihren Verwandlungen allerdings: es setzte mich ungefähr in das nämliche Verhältniß mit ihr, worein Ulysses durch die Kraft seines Moly mit der Sonnentochter kam. Denn seinem Moly allein, so wie ich dem meinigen, hatte er es zu danken, daß er jenes Aristippische exo oyk exomai31 sagen konnte, worauf in solchen Dingen alles ankommt, wie du weißt.

Peregrin.

Daß du hier bist, beweiset viel für dich – aber Abschälungen32 mag es doch gekostet haben!

Lucian.

Davon kann wohl niemand besser aus Erfahrung sprechen als Proteus.

Peregrin.

Die Luft, die wir hier athmen, lieber Lucian, macht uns zu Freunden, wie verschieden wir auch noch immer in unsrer Vorstellungsweise seyn mögen. Aber gestehe nur aufrichtig, du wunderst dich, wie ein so verächtlicher und nichtswürdiger Mensch, als du den armen Peregrin geschildert hast, eine Thür ins Elysium offen finden konnte?

Lucian.

Ich schilderte dich damals wie ich dich sah oder zu sehen glaubte. Freilich muß indessen entweder mit meinen Augen, oder mit deinem inwendigen Menschen eine große Veränderung vorgegangen seyn.

Peregrin.

Vermuthlich mit beiden. Aber doch bin ich's der Wahrheit schuldig, dir, wenn du Muße hast mich anzuhören, eine etwas bessere Meinung von dem, was ich in meinem Erdeleben war, beizubringen, als du der Nachwelt davon hinterlassen hast.

Lucian.

Ich bin zwar im Begriff eine kleine Reise in unser altes Mutterland zu machen; aber mein Geschäft ist nicht so dringend, daß es Eile erforderte. Ueberdieß können mir die Nachrichten, die ich über gewisse Stellen deiner Lebensgeschichte von dir selbst am zuverlässigsten erhalten könnte, vielleicht bei dem, was der hauptsächlichste Gegenstand meiner Absendung ist, nicht ohne Nutzen seyn.

Peregrin.

Desto besser. Wenigstens gewinnest du immer so viel dabei, daß du nichts von mir hören wirst, als was ich selbst für Wahrheit halte.

Lucian.

Wir sind zwar sogar im Elysium nicht gänzlich von den geheimen Einflüssen der Eigenliebe frei: aber da es unmöglich ist, daß wir vorsetzlich gegen unser Gefühl und Bewußtseyn reden sollten, so bin ich gewiß, daß ich über alles, was du selbst am besten wissen kannst, die reine Wahrheit von dir erfahren werde. Die Quellen, woraus ich ehemals meine Nachrichten schöpfte, mögen wohl nicht immer die lautersten gewesen seyn, wiewohl ich allerdings den Willen hatte dir kein Unrecht zu thun.

Peregrin.

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