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Jochen Silex

Hass ist dicker als Blut





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Kapitel 1

Der Abend des dritten Julis schien wie jeder Abend zu werden.

Die kleine Kurstadt im äußersten Norden Unterfrankens, nicht weit von der ehemaligen Demarkationslinie, war wie jeden Abend, fast ausgestorben. Trotz Kurstatus hatte es die Stadt in all den Jahren nicht geschafft, sich so attraktiv zu gestalten, dass sich ein abendlicher Bummel lohnen würde.

Die zwei kleinen Cafés um den Marktplatz schlossen pünktlich, und die Preise der renommierten Gaststätten konnten sich bald nur noch die Kurgäste leisten. Das Kurhaus war zu Fuß in fünf Minuten vom Marktplatz aus zu erreichen. Dazwischen lag die Trinkhalle, ein paar Geschäfte und das einzige Kino. Viele der Einwohner hatten ihre Beschäftigung im Gesundheitswesen gefunden oder arbeiteten in einem der zahlreichen Gästehäuser, Hotels oder Pensionen. Durch den Kurbetrieb hatte sich eine Reihe von Ärzten angesiedelt.


Darunter waren auch einige Ausländer, was in dieser konservativen Gegend in der Anfangszeit für einiges Aufsehen sorgte. Die überwiegend katholische Bevölkerung brauchte lange, bis sie diese Tatsache akzeptierte.

Immerhin gab es zwei Grundvoraussetzungen, die jeder, der sich in der kleinen Stadt niederlassen wollte, zu erfüllen hatte, um angenommen zu werden.

Erstens: es durfte niemand aus den neuen Bundesländern sein. Und zweitens (was noch wichtiger war): der Glaube musste katholisch sein. Die berufliche Qualifikation spielte dabei eine untergeordnete Rolle.

Ausländer erfüllten in der Regel zumindest die erste Voraussetzung. Dann wurde es allerdings schwierig. Immerhin hatten es Moslems und Drusen noch einfacher als Protestanten. Vielleicht war das der Grund, warum man Ali Abdani die Möglichkeit gab, sich vor zwölf Jahren in der Kurstadt niederzulassen.



An diesem Abend war alles wie immer. Die letzte Vorstellung im Kino ging um zehn Uhr zu Ende. Der Film mit Arnold Schwarzenegger hatte die Phantasien der meist jugendlichen Zuschauer angestachelt. Während der übelsten Gewaltszenen blieb es auf den Rängen totenstill. Nach der Vorstellung allerdings entstanden heftige Diskussionen. Die Jugendlichen sammelten sich schnell in ihren Gruppen und zogen in die verschiedensten Richtungen davon.

Eine Gruppe von drei Jungen und einem Mädchen, alle im Alter zwischen siebzehn und neunzehn Jahren, stiegen in einen VW Golf. Ihr Ziel, der Franzosengraben. Sie brauchten Mut, um das zu tun, was sie nach ihrer Ansicht tun müssten. Wir sind ein Volk und Deutschland den Deutschen. Diese Parolen hatte dieser Staat selbst hervorgebracht. Als Bürger dieses Staates war es die Pflicht eines jeden, danach zu leben. Erst recht für die junge Generation, den Motor einer funktionierenden Wirtschaft, die Hoffnung der Zukunft. So oder so ähnlich drückten sich die Politiker aller Parteien ständig aus. So belog man ein Volk.

Im Kofferraum des Golfs lagen, neben vier gefüllten Benzinkanistern, zwei Flaschen Bacardi und ein Kasten Bier. Sie fuhren am Kurzentrum vorbei und bogen in den Birkenpfad ein.

Die Straßen waren und diese Zeit leer. Die Laternen an den Seiten tauchten Häuser, Sträucher und Bäume in ein gespenstisches Licht. Am israelitischen Friedhof hielten sie an. Der Fahrer löschte das Licht und die Jugendlichen stiegen aus. Das Mädchen öffnete die Heckklappe des Fahrzeugs und holte die beiden Flaschen Wermut heraus.


Der Film hatte die Gemüter erhitzt. Doch noch fehlte der letzte Mut. Alkohol war da der beste Helfer.

Dann öffnete das Mädchen eine der Flaschen und tat einen tiefen Zug. Sie reichte die angebrochene Flasche weiter, und nachdem jeder zweimal daraus getrunken hatte, war sie leer. Einer der Jungen öffnete die zweite Flasche, und nach wenigen Minuten war auch diese leer. Alles geschah ohne Worte und völlig geräuschlos. Der Himmel war klar. Trotz der späten Stunde war es noch hell und die Sicht gut.

„Wir müssen noch warten“, sagte der Fahrer. „Es ist zu hell. Es darf uns auf keinen Fall irgendjemand sehen“

„Die kommen erst nach zwei zurück, bis dahin haben wir auf jeden Fall Zeit“, bemerkte das Mädchen.

Dann herrschte wieder Schweigen. Einer der beiden anderen Jungs holte den Kasten Bier aus dem Wagen, öffnete ihn mit einem Flaschenöffner, den er an seinem Schlüsselbund trug, und gab jedem eine Flasche.

An diesem Sommerabend war es noch warm. Selbst um elf Uhr nachts stand das Thermometer auf neunzehn Grad.

Nach einer Weile zeigte der Alkohol seine ersten Auswirkungen. Einer der Jungs hatte sich eine halbe Flasche Bier über seine Jeans gegossen. Er zog sie aus und legte sie auf die Motorhaube. Das Mädchen hatte seine Bluse abgestreift. Darunter war es nackt. Es legte sich mit dem Rücken ins Gras und ließ eine leere Bacardi Flasche auf dem Bauch kreisen.

Der Fahrer hatte sich auf die Beine des Mädchens gesetzt und flößte ihm mit der rechten Hand Bier aus einer halbvollen Flasche ein. Mit der linken Hand knetete er die Brust. Hin und wieder drangen gespenstische Geräusche vom Judenfriedhof an ihr Ohr. Nachttiere scharrten am Boden und verursachten die merkwürdigsten Töne. Die vier Jugendlichen störte das längst nicht mehr. Die den meisten Menschen innewohnende natürliche Angst vor nächtlichen Friedhöfen hatten sie längst abgelegt.

Alle vier stammten aus normalen und sogenannten besseren Verhältnissen. Die Väter waren in ihrer Freizeit kommunalpolitisch tätig und die Mütter, die ihre beruflichen Tätigkeiten schon vor Jahren aufgegeben hatten, engagierten sich in karitativen Einrichtungen, waren in Vorständen von Schulen und Kindergartenvereinen oder sangen im Kirchenchor. Es war schon nach Mitternacht, als das Mädchen plötzlich aufstand und sich anzog. Es versuchte, sich gerade auf den Beinen zu halten, brauchte aber einige Minuten, bis es das Gleichgewicht wiederfand.


„Wir wollen jetzt gehen“, sagte das Mädchen mit erstaunlich sicherer Stimme, die im Gegensatz zum Verhalten stand. Die Jungs erhoben sich wortlos. Auch sie brauchten einige Zeit, sich zu orientieren. Dann räumten sie die leeren Flaschen in den Kasten. Bis auf vier Stück hatten sie alle ausgetrunken.

„Lasst uns unseren Kreis bilden“, sagte der Fahrer. Sie stellten

sich zu einem Kreis auf und umfassten jeweils mit dem linken Arm die Schulter des Nachbarn. Den rechten Arm streckten sie in die Mitte, wobei sich ihre Hände umschlossen. So standen sie fast fünf Minuten regungslos da. Dann senkte der Fahrer seinen Kopf, und zu Boden gerichtet sagte er:

„Dein Volk, mein Volk, unser Volk. Die Einheit ist eine Einheit der Deutschen. Wir haben gerade genug Platz für uns. Und so soll es bleiben. Was wir tun, tun wir im Namen Deutschlands, unseres Landes und somit im Namen des Volkes.“


Zum Schluss umarmte jeder jeden, und sie stiegen in den Wagen. Der Fahrer startete den Motor, und ohne Licht fuhren sie etwa zweihundert Meter weiter geradeaus.

„Möge Gott mit uns sein“, sagte der Fahrer.

Dann stiegen sie wieder aus, und jeder nahm sich einen gefüllten Benzinkanister aus dem Kofferraum. Das Auto ließen sie unverschlossen.

Mittlerweile war es dunkler geworden. In diesem Teil des Ortes gab es nur wenige Straßenlampen. In ihrem angetrunkenen Zustand dachte niemand der Jugendlichen daran, gesehen zu werden, erst recht nicht um diese Zeit.

So gingen sie unbeschwert in Richtung Franzosengraben. Alle hatten Turnschuhe an. Der Asphalt verschluckte jeden ihrer Schritte. Niemand sprach. Selbst nach dem enormen Alkoholgenuss blieben die vier diszipliniert und versuchten, nicht unnötig aufzufallen. An einem Spielplatz setzten sie sich an die Kinderrutsche und überlegten noch einmal, wie sie vorgehen wollten.


Der Spielplatz lag völlig im Dunkeln. In den Häusern rund¬ herum brannte nirgendwo Licht. Alles entsprach der typischen Vorstellung vom biederen Kleinstadtmilieu. Obwohl die Häuser hier alles andere als kleinbürgerlich waren. Großzügige Ein- und Mehrfamilienhäuser und kleine Villen wechselten sich ab. Ein Gerichtsvollzieher hatte sich ionische Säulen um seine Terrasse errichten lassen, das dem Haus einen kitschig griechischen Charakter gab.

Es herrschte Windstille. Den vier Jugendlichen war es warm geworden. Die Aufregung trieb allen den Schweiß auf die Stirn, und das Mädchen hatte sich eines dieser Stirnbänder umgebunden, die mehr Modezierde waren, als einen Zweck zu erfüllen.

„Bist du sicher, dass niemand im Haus ist?“ fragte der Fahrer.

„Ganz sicher“, antwortete das Mädchen.

„Die Alten sind im Theater und die Kinder bei der Oma in Würzburg. Das weiß ich genau.“

„Gut“, sagte der Fahrer, „dann im Namen des Volkes.“

„Im Namen des Volkes“, erwiderten die anderen leise.


Ali Abdani hatte das Haus vor zehn Jahren bauen lassen. Nach vier Jahren Tätigkeit im städtischen Krankenhaus als Gynäkologe hatte er endlich die Möglichkeit, sich als Arzt niederzulassen. Man hatte es ihm in den vier Jahren nicht leichtgemacht. Es gab einfach zu viele Vorurteile gegen Ausländer. Dabei war das Glück noch auf seiner Seite.


Zwar war er Perser, doch hatte er in Deutschland studiert und eine deutsche Frau geheiratet. Seine beiden Kinder hatten westliche Namen, und seine Ehe konnte man als mustergültig bezeichnen.


Das und ein ungewöhnlicher Leistungswille sowie ein unerschütterlicher Humor machten ihn bei den Patienten sehr beliebt. Er schaffte es bereits nach einem Jahr, die Beliebtheit der gesamten Klinik zu steigern.

Mit der Beliebtheit kamen allerdings auch die Neider. Seine Kollegen behandelten ihn freundlich, aber mit entsprechender Distanz. In der Öffentlichkeit zollte man ihm Respekt, klammerte ihn aber im internen Bereich zusehends aus.

Seinen einzigen Förderer hatte er im Direktor des Krankenhauses. Das trug im Wesentlichen dazu bei, dass er seine Stelle in der Klinik sicher hatte.

Trotzdem war es Abdani nach vier Jahren zu viel, ständig unter dem Druck zu stehen, sich nicht den kleinsten Fehler erlauben zu dürfen.

Also machte er und seine Frau Angela Bestandsaufnahme. Sie erwogen das Für und Wider ab, sich als Gynäkologe niederzulassen. Schließlich wagten sie den Schritt, sehr zum Bedauern des Krankenhausdirektors. Sie bereuten es nicht. Innerhalb weniger Monate hatte Abdani einen festen Patientenstamm, der sich ständig ausdehnte. Sie bauten auf dem Grundstück, das Angela von ihren Eltern bekommen hatte, ein Haus und gliederten eine Praxis ein.

Da das Haus Hanglage hatte, eignete sich der Keller hervorragend für eine großzügige Praxis mit drei Behandlungszimmern und separatem Eingang. Die weiträumige Wohnung lag im Erdgeschoß, und im ausgebauten Dachgeschoß waren die beiden Kinderzimmer, ein Gästezimmer und ein weiteres Bad.

Die knapp bemessene Freizeit teilten sich die Abdanis genau ein. So gingen sie einmal im Monat zu einer Theaterveranstaltung und verbanden das mit einem ausgedehnten Abendessen. Die Kinder brachten sie im Allgemeinen dann zu Angelas Eltern nach Würzburg. Auch am dritten Juli stand eine Theateraufführung in Würzburg auf dem Plan. Da die Eltern allerdings einer anderen Verpflichtung nachkommen mussten, luden sie sich die sechzehnjährige Claudia Merkel ein. Sie half gelegentlich als Kindermädchen aus und war seit einem Jahr regelmäßig zu Gast im Hause der Abdanis.

Schon bald merkte Ali, dass er sich auf Claudia verlassen konnte. Ihre Eltern, die Mutter war auch Abdanis Patientin, hatte nichts dagegen, dass Claudia manchmal bei den Abdanis übernachtete. Sie wusste, dass der Arzt und seine Frau nur wenig Freizeit hatten und ließ die Tochter gewähren. Außerdem hatte Claudia vor, als Aupairmädchen für ein Jahr in die USA zu gehen. Voraussetzung war dafür unter anderem der Nachweis über Babysitting bei einer Familie.

Nach einem Jahr als selbständig praktizierender Arzt kam Mariam zur Welt, zwei Jahre später Janosh. Wenn Claudia auf die Kinder aufpasste, übernachtete sie im Gästezimmer. Alle Zimmer hatten Fenster zum Garten. Allerdings konnte man diesen nicht voll einsehen, da jedes Fenster in der Dachschräge eingebaut waren. Über den Dachrand hinaus war es unmöglich, an der Hauswand herunterzuschauen und somit auch niemand zu erkennen, der sich direkt am Haus entlang bewegte.


Die vier Jugendlichen näherten sich vorsichtig dem Haus der Abdanis. Die Eingänge zur Praxis und zur Wohnung waren unbeleuchtet. Das hölzerne Tor der Doppelgarage war verschlossen. Das Grundstück hatte eine Größe von fast zweitausend Quadratmetern. Deshalb bestand zu den benachbarten Häusern ein Abstand von fast dreißig Metern. Umzäunt war das Anwesen mit einem Holzlattenzaun, den man allerdings aufgrund des starken Bewuchses mit Bäumen und Sträuchern kaum noch erkennen konnte. Ali Abdani hatte jedes Jahr im Herbst zwei volle Tage damit zu tun, die Hecke, Büsche und Sträucher auf ein erträgliches Maß zu schneiden.


„Tina, du nimmst die Garage bis um die Ecke“, sagte der Fahrer ganz leise.

„Andi, du machst den Bereich um die Praxis. Uwe, du den Wohnungseingang bis links ums Haus, und ich nehme die Rückfront.“


Alle nickten. Plötzlich schien der Alkohol vergessen. Plötzlich gab es nur noch Hass.

'Wir sind ein Volk, wir wollen ein Volk bleiben'.


Fast gleichzeitig öffneten sie die Benzinkanister. Der Geruch stachelte sie noch mehr an. Tina ging als erste los. Dicht über dem Boden goss sie die Flüssigkeit aus, um möglichst jedes Geräusch zu vermeiden. Einen Teil des Benzins ließ sie das Garagentor runterlaufen.

Gleichmäßig verteilten die Jungs die Inhalte der Kanister. Stefan, der Fahrer, kletterte geräuschlos über den Zaun und drückte sich eng am Haus entlang. Er tränkte die Korbmöbel auf der Terrasse und lief dann an den Terrassentüren vorbei. Es war geplant, das Benzin zusammenhängend um das Haus zu verteilen. Bis auf Stefan klappte das auch. Da er aber über den Zaun steigen musste, wurde der Benzinring durch die breit stehenden Büsche unterbrochen. Außerdem kam er nicht um die Garage herum, die genau auf der Grenze zum Nachbargrundstück gebaut wurde und an die sich ein zirka zwei Meter hoher Maschendrahtzaun anschloss.

Stefan registrierte das Hindernis mit Unwillen, kam aber zu der Überzeugung, dass sich der Brennstoff durch die Hitze schon entzünden würde. Diesem Umstand verdankte Janosh Abdani sein Leben.



Es dauerte keine fünf Minuten, bis sich die vier vor dem Haus wieder trafen. Wortlos gaben sie sich mit erhobenem Daumen das Zeichen, dass sie alle ihre schmutzige Arbeit getan hatten. Bis auf Stefan schlichen die anderen drei zum Auto zurück. Der wartete genau fünf Minuten, wobei er sich in den Büschen neben der Eingangstür versteckte. Noch immer war niemand zu sehen. Der Himmel hatte sich sogar etwas zugezogen, und die Umgegend wurde von der Dunkelheit verschluckt.

'Mochten diese ausländischen Nichtsnutze einen Denkzettel bekommen, der sie endlich dahin schickte, woher sie gekommen waren', dachte Stefan. Außerdem sollte das Haus nicht ganz abbrennen. Sie wollten nur die Praxis ein wenig beschädigen, damit dieser iranische Bastard nicht mehr praktizieren konnte.

Stefans Vater war bei der Feuerwehr, und Stefan hatte schon vor


längerer Zeit angefangen, seinen Vater auszufragen.

„Du bist aber neugierig“, hatte er gesagt, „wieso dein plötzliches Interesse an der Tätigkeit der Feuerwehr?“

„Vielleicht möchte ich ja dem Verein beitreten, Vater.“

„Bei deinen merkwürdigen Interessen ist das ja was ganz Neues. Wenn du rechts, links oder Mitte wieder auseinanderhalten kannst, können wir darüber reden“.

„Immer musst du dem Jungen gegenüber so zynisch sein“, hatte Stefans Mutter eingeworfen und damit einen neuen Streit provoziert.

Stefan verließ das Zimmer, hatte aber die Informationen, die er brauchte. Bei konventionell gebauten Häusern konnte die Feuerwehr den Brand erfolgreich bekämpfen, wenn sie innerhalb von fünf bis zehn Minuten vor Ort war. Hatte sein Vater sich nicht immer damit gebrüstet, dass seine Truppe bei einem Brand innerhalb der Stadt in weniger als zehn Minuten vor Ort war? Jetzt konnten sie einmal beweisen, ob das Geprahle nicht nur Schaumschlägerei war.

Stefan schaute sich noch einmal um, ob die Luft rein war. Bis zur Telefonzelle brauchte er eine Minute. Würde es die hoch gepriesene Feuerwehr so schaffen, wie es sein Vater immer prophezeite, wenn er nach einer Versammlung vom Schlundhaus nach Hause kam, dann würde maximal die Praxis ausbrennen. Er und sein kleines Komitee hätten das geplante Ziel genau erreicht. Diese Zulukaffer wären sie dann wahrscheinlich los.


Stefan kam hinter den Büschen hervor und schlich sich bis zum Garagentor. Er holte ein Päckchen Streichhölzer aus seiner Hosentasche und zündete eines an. Dann warf er es gegen das Garagentor. Nichts passierte. Offenbar war das Zündholz durch den Luftwiderstand ausgegangen. Er ging näher an die Garage und zündete erneut ein Streichholz an. Dann wartete er, bis das Hölzchen zur Hälfte abgebrannt war und warf es vorsichtig an das Garagentor.


Diesmal musste er nicht vergeblich warten. In Bruchteilen von Sekunden breitete sich das Feuer im Garagen-, und Eingangsbereich aus. Es würde etwa sechs bis acht Minuten dauern, bis die Flammen das Holz angegriffen hatten und in den Vorhängen und Kunststoffteilen der Praxis genug Nahrung fanden, ihre grausame Aufgabe durchzuführen.

Stefan rannte gebückt vom Haus weg. Etwa einhundertfünfzig Meter weiter, in einer Nebenstraße, stand die Telefonzelle. Stefan, athletisch gebaut und im Sport immer einer der Besten gewesen, schaffte es in zwanzig Sekunden. Er legte ein Papiertaschentuch auf die Sprechmuschel und steckte eine Telefonkarte in den dafür vorgesehenen Schlitz des Apparates. Dann wählte er die Notrufnummer der Feuerwehr. Eine männliche Stimme meldete sich. Stefan wusste sofort, um wen es sich handelte. Schließlich las er immer die Einsatzpläne seines Vaters, die im Flur an der Pinnwand hin¬ gen.

„Hallo, es brennt. Das Haus von Doktor Abdani brennt“, sagte Stefan. Dann legte er auf.

So schnell ihn seine Beine trugen, rannte er zum Wagen. Seine Freunde warteten bereits. Andi saß am Steuer. Stefan ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder, und Andi startete den Wagen.


Ohne Licht fuhren sie bis zum Judenfriedhof. Dort schaltete er das Licht an und ohne von irgendjemand gesehen zu werden, erreichten sie den Marktplatz der kleinen Kurstadt. Sie fuhren weiter bis zur katholischen Kirche und parkten den Wagen am Kirchplatz. Dort warteten sie.

Stefan kurbelte das Seitenfenster herunter. Es dauerte nicht lange, da hörten sie den Feueralarm der Sirenen. Um jedes Risiko auszuschließen, duckten sich alle tief in ihre Sitze. Von außen war niemand zu erkennen. Dann hörten sie die typischen Geräusche von Polizei- oder Feuerwehrautos. Nach¬ dem sie verklungen waren, stiegen Tina, Andi und Uwe aus. Stefan rutschte auf den Fahrersitz und startete den Golf. Ohne Licht fuhr er bis zum Marktplatz und dann auf dem kürzesten Wege nach Hause. Die anderen verschwanden im allmählich aufsteigenden Nebel.

Richard Schuhmacher hatte den Anruf entgegengenommen. Er war seit zwölf Jahren bei der Feuerwehr, und seit seine Frau gestorben war, meldete er sich regelmäßig für die Bereitschaft. Der Anrufer hatte seine Stimme verstellt. Das merkte Schuhmacher sofort. Obwohl der Ort klein und Brände eher selten waren, so hatte Schuhmacher in seiner Zeit bei der Feuerwehr doch einige Erfahrungen gesammelt. Es waren nicht immer nur ernst gemeinte Anrufe, die er entgegennahm. Nicht selten entpuppte sich eine Meldung als bewusst falsch und vorgetäuscht. Das hatte seit Bestehen der Feuerwehr zu insgesamt achtzehn Negativeinsätzen geführt, also einem Einsatz zu einem nicht vorhandenen Brand. Schuhmacher zögerte.

Die Stimme hörte sich nicht an, als ob es sich um einen Spaß handele. In den meisten Fällen fragte er nach Adresse und

Telefonnummer des Anrufenden und machte dann einen Kontrollrückruf. Doch der Anrufer hatte sofort wieder aufgelegt. Noch war sich Schuhmacher nicht sicher. Ein unnötiger Feuerwehreinsatz führte auch zu unnötigen Kosten. Erst in der letzten Versammlung hatte das Kostenproblem zu heftigen Diskussionen geführt. Man hatte sogar auf einige Übungseinsätze verzichtet, um die ständig wachsenden Kosten einzudämmen.

Inzwischen waren mehr als drei Minuten seit dem Anruf vergangen. Erst jetzt entschloss sich Schuhmacher, Alarm zu schlagen. Nachher musste er sich wegen seiner verspäteten Meldung gerichtlich verantworten.

Routinemäßig löste er Alarm aus. Gleichzeitig informierte er die Polizei und versuchte, im Hause Abdani anzurufen. An seinem freien Tag allerdingst stellte Abdani das Telefon auf geringe Lautstärke, um die Kinder nicht unnötig zu wecken. Ansonsten hatte er es in seinem Schlafzimmer, wo es die Kinder sowieso nicht wahrnehmen konnten. Jetzt war ja außerdem Claudia da.

Entgegen ihrer üblichen Gewohnheit hatte Claudi die Tür zum Gästezimmer geschlossen. Bei ihr war eine Erkältung zu befürchten und sie wollte sich nicht einem Durchzug aussetzen. So konnte sie nicht hören, wie Schumacher versuchte, bei ihr anzurufen. Die logische Schlussfolgerung für Schumacher war, dass sich niemand im Haus aufhielt.

Es dauerte drei Minuten, bis die ersten Feuerwehrleute auftauchten. Dann ging alles blitzschnell. Nach einer weiteren Minute war das erste Löschfahrzeug unterwegs. Zur gleichen Zeit, als Schuhmacher den Anruf erhielt, befuhr ein Lkw mit Anhänger die Umgehungsstraße im Norden der Stadt.

Seit der Grenzöffnung war der Durchgangsverkehr erheblich stärker geworden. Der Fernverkehr wurde um den Ort herumgeleitet. Viel Verkehr kam auch aus der ehemaligen DDR. Vor allem Lkws. Dieser Lkw hatte Frischgemüse und Obst geladen und war unterwegs nach Schweinfurt, um Einzelhändler zu beliefern. Für den Fahrer waren Einsätze um diese nächtliche Stunde nicht ungewöhnlich. Insgesamt musste er sechzehn Einzelgeschäfte anfahren, und so hatte er alle Hände voll zu tun, um seine Lieferung bis vor Geschäftsbeginn vollständig auszufahren. Außerdem kannte er die Strecke nicht, und so würde er noch zusätzliche Zeit benötigen, die Geschäfte in Schweinfurt zu finden. Er hatte schon längst gelernt, dass auf sein Navigationsgerät nicht immer Verlass war.

So geschah es, dass der Fahrer das Hinweisschild nach Schweinfurt zu spät erkannte. Instinktiv schaute er in den Rückspiegel. Da um diese Zeit niemand auf der Straße war, bremste er den fast achtzehn Meter langen Lastzug ab und brachte ihn zum Stehen. Die Abzweigung hatte der Fahrer um fast zwanzig Meter verpasst. Er schaltete das Fernlicht ein, konnte aber keine günstige Wendemöglichkeit entdecken. So entschloss er sich, den Lkw bis zur Einfahrt zurückzusetzen.

Im Stadtrandbereich war die Umgehungsstraße nur mäßig beleuchtet. Selbst für einen geübten Kraftfahrer ist ein Zurücksetzen bei undeutlichen Sichtverhältnissen keine Kleinigkeit. Der Fahrer verzog leicht das Lenkrad, und der Lkw samt Hänger standen quer auf der Fahrbahn.

Da immer noch niemand zu sehen war, entschloss sich der Fahrer auszusteigen und sich erst einmal zu orientieren. Schnell erkannte er die Lage. Das Gespann blockierte zwar jetzt die gesamte Straße, aber das würde er in wenigen Minuten geklärt haben.

In diesem Augenblick sah er, aus der Richtung, in die er wollte, ein Blaulicht. Er begriff sofort, dass das Einsatzfahrzeug, noch konnte er nicht erkennen, worum es sich handelte, bei ihm vorbei wollte. Er sprang in die Fahrerkabine und ließ den schweren Dieselmotor an. Kurz darauf hatte das Feuerwehrfahrzeug den Lkw erreicht. Es dauerte aber immer noch eine Minute, bis der Lkw soweit zur Seite gefahren war, damit das Einsatzfahrzeug passieren konnte.

Wieder war wertvolle Zeit verstrichen. Der Fahrer des Löschzuges holte jetzt alles aus seinem Fahrzeug heraus. Nach weiteren zwei Minuten waren sie am Brandherd, ohne auf irgendein anderes Fahrzeug zu stoßen.

Was sie sahen, ließ ihren Atem stocken. Abdanis Haus stand bereits in hellen Flammen. Da sie davon ausgingen, dass sich keine weiteren Leute im Hause aufhielten, was später noch zu einer Untersuchung führte, konzentrierte sich ihre Tätigkeit voll auf das Löschen des Brandes. Die vielen Holzteile des Hauses boten den Flammen reichlich Nahrung. Das Feuer hatte sich gleichmäßig auf der gesamten Breite des Hauses verteilt. Die Flammen schlugen bereits über die Dachrinne hinaus. Die Praxis war schon vollständig abgebrannt. Das Feuer hatte die unteren Wohnräume erreicht und blockierte die Treppe. Die in der Sommerzeit ausgetrockneten Büsche und Bäume waren ein Raub der Flammen geworden, die viele Meter in den Himmel schossen und die Szene gespenstisch beleuchteten.




Janosh hatte den Geruch zuerst bemerkt. Er schaute aus dem Fenster in den Garten, konnte aber nichts entdecken.

Am Abend hatten sie ausgelassen zu dritt gespielt, und so war er sehr müde. Er rieb sich die Augen, gähnte, schloss das Fenster und legte sich wieder ins Bett. Der Geruch blieb ihm aber in der Nase. Obwohl er krampfhaft versuchte, wieder einzuschlafen, gelang es ihm nicht. Irgendetwas stimmte nicht. Außerdem war es draußen so merkwürdig hell.

Nach wenigen Minuten stand er schlaftrunken wieder auf und ging zu Claudia ins Zimmer. Claudia schlief fest. Durch die aufkommende Erkältung war ihre Nase zu, und sie schnarchte leise. Janosh lachte, als er sie hörte und begann zaghaft, an ihrer Schulter zu rütteln. Als das nicht half, schüttelte er ihren Kopf solange hin und her, bis Claudia widerwillig die Augen aufschlug.

„Was ist los?“ fragte sie. „Warum bist du hier?“

„Es riecht so merkwürdig“, sagte Janosh.

„Ich rieche nichts.“

„Es ist auch so komisch hell draußen.“

„Sei mal still, sagte Claudia und lauschte angespannt. „Das hört sich an wie starker Wind.“


Dann sah sie das merkwürdige Flackern durch die geschlossenen Vorhänge des Zimmers. Sie sprang aus dem Bett und riss die Vorhänge zur Seite. Sofort erkannte sie die Situation. Sie versuchte, das Licht anzumachen. Es ging nicht. Längst hatten die Flammen den Zählerkasten erreicht und durch die zahlreich verbrannten Lampen war ein Kurzschluss entstanden.

„Wo ist Mariam?“ schrie sie Janosh an.

„Noch in ihrem Zimmer.''

„Ich hole sie. Du bleibst hier und wartest.“


Schon rannte sie los. Mariams Zimmer lag am Ende des Ganges gegenüber der Treppe. Claudia sah die Flammen die Treppen emporschlagen. Das Treppengeländer war aus Buchenholz und kunstvoll geschnitten. Dieses Holz brauchte lange, bis es brannte, dann aber umso intensiver. Die enorme Hitzeentwicklung hatte dafür gesorgt, dass die Treppe wie Wachs schmolz. Die Stufen waren zwar aus Marmor, aber für Claudia war klar, dass die Flammen eine Flucht über die Treppe unmöglich machten. Offenbar schien die ganze Front zu brennen und das Feuer sich rasend schnell auszubreiten. Die einzige Fluchtmöglichkeit bestand durch die Gauben Fenster. Dann konnten sie bis zur Dachrinne rutschen und auf die Terrasse springen. Es waren zwar immer noch mehr als zwei Meter fünfzig. Aber das würde wahrscheinlich ohne Verletzungen abgehen. Sie würde zuerst springen und die Kinder auffangen. Außerdem musste doch die Feuerwehr auch jeden Moment kommen. Irgendjemand würde das Feuer schon gesehen und Meldung gemacht haben.


Claudia riss die Tür zu Mariams Zimmer auf. Es war fast unvorstellbar, aber Mariam schlief noch. Claudia wusste, dass Mariam sehr aggressiv wurde, wenn man sie aus dem Tiefschlaf holte. Sie beschloss, unverzüglich zu handeln und hob das noch schlafende Kind aus dem Bett.

Während sie im Laufschritt zum Fenster rannte, wachte Mariam auf. Sie schrie sofort hysterisch, ohne zu erkennen, in welch einer Situation sie sich befanden. Claudia nahm darauf keine Rücksicht.

Inzwischen brodelte und kochte es im ganzen Haus. Da alle Materialien im Haus sofort brannten, war die Rauchentwicklung gering. Allerdings verschlug einem die Hitze fast die Sprache. Claudia stellte das inzwischen schreiende und weinende Mädchen auf den Boden ab und riss das Fenster auf. Dann schrie sie nach Janosh, der in seinem Zimmer gewartet hatte. Er kam sofort.


„Du zuerst. Rutsch bis zur Dachrinne. Sie ist stabil und wird dich halten. Dann Mariam und dann ich. Ich springe dann zuerst runter und fange euch auf. Alles klar?“

„Alles klar“, sagte Janosh tapfer.

Trotzdem hörte Claudia grenzenlose Angst aus seinen wenigen Worten. Sie selbst hatte keine Zeit, über Angst nachzudenken. Ihr einzige Aufgabe war es jetzt, die Kinder zu retten. Janosh war mit seinen sieben Jahren sehr klein gewachsen. Er wirkte fast wie ein Fünfjähriger. In diesem Augenblick höchster Gefahr benahm er sich aber wie ein Erwachsener. Er tat genau das, was Claudia gesagt hatte. Claudia hob ihn ein Stück hoch, und er hangelte aus dem Fenster.

In dem Moment, als sein rechtes Bein die Dachpfannen berührte, brachen die Holzregale in der Garage unter mächtigem Krachen zusammen. Claudia hatte nicht mitbekommen, dass die Feuerwehr bereits vor Ort war und mit den ersten Löscharbeiten begann. Auf der anderen Seite hatten sich einige der Nachbarn versammelt. Sie waren teilweise in Morgenmäntel gekleidet. Ihre Gesichter verrieten Entsetzen, manche aber auch grausame Gelassenheit. Das Zusammenbrechen der Holzregale verursachte bei Mariam einen Schock. Einen Moment stand sie


wie versteinert. Dann schrie sie, als ob sie von Sinnen wäre.

„Mama, ich will hier raus. Hol' mich. Ich bin hier oben. Ich komme zur Treppe.“


Claudia hörte mit Entsetzen zu. Sie war gerade noch dabei, Janosh beim Hinausklettern zu helfen, als sie sah, wie Mariam auf die Treppe zuging. Obwohl die Hitze fast unerträglich war, schien es, als würde das Mädchen keinerlei Wärme empfinden. Mit ausgestreckten Händen ging es zur Treppe. Claudia ließ Janosh los, der nun verzweifelt versuchte, mit dem linken Bein einen Halt zu finden und schließlich auf dem Heizkörper Tritt fand. Sie lief hinter dem Mädchen her. Kurz vor der Treppe erwischte sie Mariam und hielt sie an der Schulter fest.

In diesem Moment stieg ein Hitzeschwall nach oben, der den beiden Mädchen den Atem nahm. Sofort waren die Augenbrauen versengt. Die Baumwollschlafanzüge fingen Feuer. Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte hob Claudia das neunjährige Mädchen auf.

Dann war ihre Kraft zu Ende. Sie stolperte, und die beiden Mädchen fielen die Treppe hinunter in das Flammeninferno. Sie hatten nicht einmal mehr Zeit zu schreien, als die Flammen über ihnen zusammenschlugen.


Janosh war langsam bis zur Dachrinne gerutscht. Er lag auf den Dachpfannen, schaute zum Fenster und hoffte jeden Moment, das Gesicht von Mariam oder Claudia zu sehen. Nichts passierte. Bis auf diesen Teil des Hauses waren die Flammen inzwischen überall.


Plötzlich schien es zu regnen. Es war allerdings das Spritzwasser aus den großen C-Rohren der Feuerwehr.

Inzwischen kam es durch das Löschwasser der Feuerwehr zu starker Rauchentwicklung. Janosh, der immer noch auf das Fenster starrte, begann stark zu husten.


Die Feuerwehrleute hatten zunächst große Probleme, an die Rückseite des Hauses zu kommen.

Der Maschendrahtzaun und die lichterloh brennenden Bäume versperren den Weg. Schließlich war ein Löschwagen über das Nachbargrundstück gefahren und hatte mit dem Kühler den Zaun eingedrückt. Jetzt stand der Wagen zwischen Blumenbeeten auf dem Rasen, und die Feuerwehrleute begannen, in Windes¬ eile Schläuche zu legen, um die noch relativ intakte Rückseite des Hauses mit einem Wasserteppich zu belegen. Die Zusatzscheinwerfer waren auf die Terrasse und das Dach gerichtet. Dann erfasste einer der Scheinwerfer den Jungen, der bis jetzt nicht geschrien hatte.

In den ihn tausendfach umgebenden Geräuschen hatte Janosh den Feuerwehrmann nicht erkennen können. Seine ganzen Sinne waren zu sehr damit beschäftigt, auf das Fenster zu achten.

Jetzt mussten sie doch endlich kommen. Wo waren seine Schwester und Claudia nur? Erst als der Scheinwerfer ihn erfasste, brach die Angst durch.

„Mariam, Mariam. Claudia hol' mich hier weg“, schrie er.

„Ich habe Angst“.

Der Fahrer des Löschzuges, der den Scheinwerfer eingestellt hatte, sah den Jungen zuerst, konnte aber nicht hören, was er sagte. Er rannte auf die Terrasse.

„Junge, hier bin ich“, rief er. Dabei versuchte er, seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben.

Janosh hörte den Mann nicht. Er starrte auf das Fenster, und seine Angst wurde größer. Warum kam niemand? Wo war Claudia nur?

Wieder rief der Feuerwehrmann. Diesmal schrie er fast.

„Junge, hier bin ich. Schau mal runter. Hier unten stehe ich.“ Diesmal hatte Janosh den Mann verstanden. Er drehte seinen Kopf nach vorne und sah den Feuerwehrmann, der ihm zu winken schien.

„Komm, hab' keine Angst. Spring, ich fange dich auf. Nur keine Angst.“

Warum sollte er springen? Er musste doch auf Claudia warten. Immer war alles eingetreten, wie sie gesagt hatte. Seine Eltern hatten das beste Kindermädchen gefunden, das es auf der Welt gab. Und neben seinen Eltern und seiner Schwester liebte er Claudia am meisten.


Wieder hörte er den Mann rufen. Die Worte drangen wie durch einen Schleier an seine Ohren. Springen sollte er. Ja, er würde in Claudias Arme springen. Wo blieb sie nur?

Der Feuerwehrmann wurde ungeduldig. Warum sprang dieser Junge nicht? Das konnte nur eines bedeuten.

Er wartete auf jemanden. Da mussten noch andere im Haus sein. Doch das Innere des Hauses stand total in Flammen. Wenn noch jemand im Hause war, dann hatte er keine Überlebensmöglichkeit. Wenn der Junge jetzt nicht sprang, wurde es auch für ihn gefährlich.


Der Feuerwehrmann entschloss sich zu einer Notlüge. Für das Kind würde der Feuerwehrmann dadurch zwar zu einem Lügner, und er würde ihn hassen, aber Janosh würde leben.


„Nun spring endlich Junge. Die anderen sind schon hier unten“, schrie er so laut er konnte, um sicher zu gehen, dass der Junge ihn auch hörte.

Janosh zögerte. Konnte der Mann recht haben? Aber schließlich war es ein Feuerwehrmann, und die waren so etwas wie Polizisten. Polizisten sagten die Wahrheit. Also auch Feuerwehrmänner. Janosh nahm all seinen Mut zusammen und sprang. Der fremde Mann fing ihn auf, lief mit ihm sofort zum Löschfahrzeug. Janosh lebte.

Noch während der Feuerwehrmann mit dem jetzt weinenden Kind zum Löschfahrzeug rannte, rief er:

„Da ist noch jemand im Haus!''


Zwei seiner Kollegen rissen Äxte, die hinter einem Rollladen an der Fahrzeugseite befestigt waren, aus ihrer Halterung und liefen auf die Terrasse zu. Die Hitze hatte das Glas der Terrassentüren bereits zum Bersten gebracht. Es war unmöglich, das Haus noch zu betreten.


Die Männer wichen zurück, während sie Hände und Arme schützend vor ihre Gesichter hielten. Wer immer jetzt noch im Hause sein mochte, für den kam jede Hilfe zu spät.

Inzwischen war auch der Notarzt eingetroffen, der sich Janosh angenommen hatte. Der Junge weinte und rief ständig die Namen Mariam und Claudia sowie nach seinen Eltern.

Der Notarzt nahm den Jungen mit zu seinem Einsatzfahrzeug. Während er versuchte, ihn zu beruhigen, untersuchte er ihn flüchtig, konnte aber keine Verletzungen feststellen. Wie durch ein Wunder hatte das Kind die Katastrophe unverletzt über¬ standen.

Das Haus brannte jetzt auf allen Seiten. Obwohl jeder Feuerwehrmann wusste“, dass ein Löschen nicht mehr möglich war, taten alle ihren traurigen Dienst. Sie brauchten noch fast eine Stunde, bis das Feuer endgültig unter Kontrolle war. Dichte Rauchschwaden stiegen in den Himmel.

Der Notarzt hatte mit einer Engelsgeduld den Jungen beruhigt und von ihm erfahren, dass nur noch Mariam und Claudia im Hause waren. Der Tod fragte nicht wann, wo und wen. Er schlug einfach zu.

Noch während die Feuerwehrmänner mit Löscharbeiten beschäftigt waren, hatte man über Funk die örtliche Polizei verständigt, die sofort kam. Sie sperrte das Gelände ab und fragte bei den Menschen, die sich inzwischen um das Haus versammelt hatten nach, ob jemand etwas über den Verbleib von Herrn und Frau Abdani wisse.

„Einmal im Monat gehen sie ins Theater“, sagte ein Nachbar.

„Die Claudia Merkel passt dann auf die Kinder auf.“

„Und die bleibt dann über Nacht?“ fragte ein Polizist.

„Manchmal schon, aber genau kann ich Ihnen das auch nicht sagen.“

„Wir sollten bei Merkels nachfragen“, sagte Richard Finster, einer der Polizisten.

„Nein, Richard. Noch nicht. Zuerst müssen wir Gewissheit


haben, bevor wir alle Pferde scheu machen.“

Der das sagte, war Polizeihauptmeister Carsten Heilmann. Er war schon lange Polizist und hatte viele Einsätze hinter sich. Unter anderem war er auch bei den Unruhen in Rostock dabei, bei denen sich Rechtsradikale und Skinheads Straßenschlachten lieferten. Er hatte mit ansehen müssen, wie sich unter anderem sein eigener Sohn mit der Polizei eine Straßenschlacht lieferte. Als sie dann eine Reihe Verhaftungen vornehmen mussten, hatte er seinem Sohn die Möglichkeit gegeben, unbemerkt zu verschwinden. Heilmann war schon auf der Polizeischule in Münster bekannt für sein extremes Rechtsempfinden.

Sobald es sich aber um seinen Sohn handelte, versagte sein sonst so logisches und auf Recht ausgerichtetes Denken.

Ihn musste er auf alle Fälle raushalten. Andi war sein zweites Kind gewesen. Das erste starb eine Woche nach der Geburt an einer Lungenentzündung. Somit blieb Andi das einzige, was für Carsten Heilmann auf dieser Welt wirklich wichtig war und vor allem anderen Vorrang hatte, auch Vorrang vor seinem Rechtsempfinden. Heilmann ging zum Notarzt.

„Kann ich mit dem Jungen reden?“ fragte er.

„Ja, aber nur kurz. Er steht unter einem Schock. Aber viel¬ leicht fragen Sie mich. Ich glaube, ich kann Ihnen besser helfen.“

„Kennen Sie den Jungen?“

„Nein. Nur dass der Vater, Doktor Abdani, ein guter Gynäkologe ist. Wir kennen uns flüchtig vom Krankenhaus her.“

„Wissen Sie etwas über andere Menschen, die vermutlich im Hause waren?''

Der Notarzt überlegte einen Moment, und es schien, als wolle er seine Gedanken sortieren.

„Der Junge erwähnte ständig die Namen Mariam und Claudia. Claudia Merkel kenne ich. Der Vater hat bei der Post gearbeitet. Mariam ist, glaube ich, die Schwester des Jungen. Wenn ich ihn richtig verstanden haben, müssen alle drei im Haus gewesen sein.“

„Also kann man davon ausgehen, dass seine Schwester und diese Claudia in den Flammen umgekommen sind?“

„Ja, das ist furchtbar, Claudia war die einzige Tochter der Merkels. Wann wollen Sie es den Eltern sagen?“


Heilmann zögerte. Er wusste, dass es seine Aufgabe war. Wenn er etwas an seinem Job hasste, dann waren es Momente wie diese, in denen er solch schlechte Nachrichten zu überbringen hatte.

„Am liebsten gar nicht“, sagte er, „aber es wird mir nicht erspart bleiben. Ich fahre in ein paar Minuten.“

„Ich würde gerne mitkommen, Herr Heilmann.“

„Haben Sie einen besonderen Grund dafür?“

„Nein. Aber ich weiß, dass Frau Merkel sehr labil ist. Sie war vor ein paar Jahren lange krank, und die Nachricht vom Tode ihrer Tochter könnte zu einem Zusammenbruch führen. Dann wäre es vielleicht gut, sofort einen Arzt zur Stelle zu haben.''

„Gut, einverstanden. Ich nehme an, Sie brauchen Ihre Tasche. Ich warte im Wagen.“

„Ich hole sie sofort. Aber noch eine Frage. Haben Sie in¬ zwischen die Abdanis erreicht?“

„Nein. Wir haben es im Theater versucht. Die Vorstellung war allerdings längst aus. Wir werden wohl warten müssen, bis sie hier ankommen.“

Einen Augenblick herrschte Stille. Obwohl eine Unmenge von Geräuschen von allen Seiten an ihre Ohren drang, hörten die beiden Männer sie nicht. Sie sahen sich an, und in diesem Augenblick wurde jeder von einer tiefen Trauer erfasst.

Dann sagte der Arzt: „Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?“

„Bitte, wenn es hilft.“

„Den beiden nicht mehr, aber vielleicht den Eltern. Abdanis haben nur wenige Freunde. Einer der besten ist der Direktor des Krankenhauses, Herr Leitner. Ich glaube, wenn die Beiden kommen, könnten sie einen Freund gebrauchen. Man sollte ihn holen.“


„Ich glaube die Beiden haben noch mehr Freunde. Sie sind auch einer. Ich sage meinem Kollegen Bescheid. Er soll ihn holen.“

„Danke.“

„Jetzt sollten wir fahren, Herr Doktor. Hier können wir nichts mehr tun. Was ist mit dem Kind?“

„Ich habe ihm eine Beruhigungsspritze gegeben. Ich tue das nicht gerne bei Kindern. Aber ohne seine Eltern kommt er mit der Situation nicht zurecht. Er liegt im Krankenwagen und müsste jetzt schlafen. Gehen Sie schon vor. Ich schaue noch kurz nach ihm. Wir treffen uns an Ihrem Wagen.“


Schweigend fuhren Heilmann und Doktor Bachmann zu Merkels. Es war kurz nach drei Uhr morgens. Eineinhalb

Stunden waren seit Auslösung des Feueralarms vergangen. Merkels wohnten in der Hindenburgstraße. Heilmann parkte den Wagen im absoluten Halteverbot. Als er die Klingel zur Wohnung drückte, schlug die Kirchturmuhr einmal, das Zeichen für die ersten fünfzehn Minuten der angefangenen Stunde. Heilmann drückte ein zweites Mal auf den Klingelknopf. Es dauerte ein paar Minuten. Dann sahen sie durch das Glasteil der Haustür Licht im Flur aufflammen.

Herr Merkel öffnete die Haustür. Er trug einen gestreiften Bademantel und machte einen mürrischen Eindruck. Heilmann kannte ihn flüchtig von seinen wenigen Gängen zur Post. Meist erledigte seine Frau diese Wege.

Merkel erkannte den Polizisten nicht, wohl aber den Arzt, der seinerzeit auch seine Frau im Krankenhaus mit behandelt hatte.


„Was wollen Sie denn um diese Zeit?“ fragte er schlaftrunken.

„Herr Merkel, es geht um ihre Tochter. Dürfen wir einen Moment reinkommen?“ fragte Heilmann.


„Wer sind Sie überhaupt? Den Doktor kenne ich ja.“

„Ist was mit meiner Tochter? Wo ist sie? Ist sie im Krankenhaus. Sie ist doch bei Doktor Abdani. Nun reden Sie schon.“

„Wer ist denn da?“ fragte eine Frau, die wohl Frau Merkel war. „Doktor Bachmann und ein Herr von der Polizei“, sagte Merkel.

Es wurde einen Moment still. Dann kam Frau Merkel in den Flur. Sie trug ebenfalls einen weißen, weiten Bademantel. Offenbar hatte sie Teile des Gespräches mitbekommen, denn sie fragte direkt.

Ohne auf die Frage einzugehen, sagte Heilmann. „Dürfen wir uns vielleicht setzen?“


„Im Hause von Doktor Abdani hat es einen Brand gegeben“, sagte er ruhig.

„Bitte bleiben Sie jetzt ruhig.“

„Wir müssen davon ausgehen, dass Ihre Tochter das Haus nicht mehr rechtzeitig verlassen konnte.“

Heilmann nickte wortlos dem Arzt zu, der daraufhin seine mitgebrachte Arzttasche aufmachte und eine Beruhigungsspritze aufzog. Frau Merkel machte Anstalten, sich zu wehren, woraufhin ihr Mann seine Hände auf ihren Arm legte.

„In einigen Minuten werden Sie sehr müde sein'', sagte Bachmann. „Am besten Sie legen sich hin.“


„Wenn es anschließend noch Schwierigkeiten geben sollte, lassen Sie Ihren Hausarzt kommen. Auf jeden Fall wird das Schlimmste vorbei sein.“

„Was ist mit den anderen Kindern?“

Seine Wortwahl war wie aus einem Polizeilehrbuch. Auf der Schule hatte man ihm beigebracht, in solchen Fällen nicht direkt vom Tod zu reden. Das war ein kaltes Wort und traf wie ein Stich, direkt ins Herz.

„Nein, danke. Wissen Sie. Claudia war das Einzige, was




„Herr Merkel, es tut uns sehr leid. Ich möchte gerne, dass Sie noch einmal aufs Revier kommen. Es muss nicht gleich morgen

Merkel nickte nur. Die beiden Männer verließen wortlos die Wohnung. Der Arzt zog die Haustür hinter sich zu.

„Da haben Sie recht“, erwiderte Heilmann.

„Vergessen Sie es. Fahren wir erst einmal zurück, damit ich nach dem Jungen sehen kann. Mein Kollege wird schon warten.“

Jemand machte Fotos. Offenbar der Mitarbeiter irgendeiner Regionalzeitung. Zwei der Löschfahrzeuge waren bereits abgefahren. Andere Feuerwehrleute rollten Schläuche zusammen. Ein Mann in einem feuerfesten Schutzanzug kam aus dem, was einmal ein Haus war. Er hatte die verkohlten Überreste eines Pantoffels in der Hand und ein kleines Gold-armband. Er ging direkt auf Heilmann zu.

„Das habe ich gerade an der Treppe gefunden. Dort liegen

eindeutig die Überreste von Menschen“, sagte er.

Jetzt schien es endgültig. Mariam Abdani und Claudia Merkel waren verbrannt.

„Legen Sie es dort auf den Polizeiwagen“, sagte Heilmann,

„Sehen Sie die Abdanis irgendwo?“


Jetzt, wo die Flammen verlöscht waren, brach die Kälte des Morgens durch. Auch Heilmann und der Arzt spürten, wie der leichte Wind und feuchter Tau in ihre Kleidung zogen. Bevor Heilmann zu Direktor Leitner ging, sprach er mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr.

„Nein. Aber offenbar hat das Feuer gleichmäßig auf breiter Front angefangen.“

„Zumindest ist es ungewöhnlich“, sagte der Einsatzleiter.

„Danke für Ihre Ehrlichkeit“, sagte der Polizist.

„Geht in Ordnung. Ich sorge dafür.“

Heilmann ging nun zu Direktor Leitner. Er sah, wie sich Bachmann mit ihm unterhielt.

„Ja, ich bin entsetzt“, sagte Leitner. „Ich begreife es nicht.“


„Herr Leitner, es ist immer schwer, Eltern zu sagen, dass sie ein Kind verloren haben.“

wie war Ihr Name?“

„Also, Herr Heilmann. Ich habe Doktor Abdani immer als meinen Freund betrachtet. Er ist ein ganz besonderer Mensch. Trotz aller Probleme und Vorbehalte, die man ihm entgegengebracht hat, ist er immer ein einfacher und freundlicher Mensch geblieben. Ein Mann, der nie aufgibt und in seiner Tätigkeit aufgeht. Ich werde es ihm sagen und diese undankbare Aufgabe übernehmen.“