Mike Gayle

Nur zusammen ist man nicht allein

Roman

Aus dem Englischen von Katja Bendels

Insel Verlag

 
 
 
 
 
 
 
Für meine Mädchen.
Danke, dass ihr so seid, wie ihr seid.

Erster Teil

»Wer seine Trauer verbirgt,
wird keine Linderung erfahren.«
Türkisches Sprichwort

 

1


Ich würde ja gern mehr Zeit
mit euch verbringen

Tom

Es war schon spät, als ich von der Arbeit nach Hause kam.

»Zu Hause«, das ist ein Haus mit vier Schlafzimmern in Reigate, Surrey. Laura hat es damals aufgetan. Ich glaube, es war noch gar nicht offiziell auf dem Markt, als sie mich mitgenommen hat, um es uns anzusehen. Die Vorbesitzerin hatte ihr ganzes Leben in diesem Haus verbracht und war, wie man uns sagte, friedlich im Schlaf verstorben. Sie hatte kein Testament hinterlassen, und so war eine dieser Erbenermittlungs-Firmen auf den Plan getreten, die für eine angemessene Provision eine Buchhalterin mittleren Alters in Llanelli darüber informierte, dass sie gerade von ihrer Großtante, die sie bis dato nicht gekannt hatte, ein Haus geerbt hat. Und da die Dame keinerlei Neigung verspürte, in einen Vorort von London zu ziehen, beauftragte sie einen Makler auf der High Street damit, das Haus für sie zu verkaufen. Der hatte den Hörer noch gar nicht ganz aufgelegt, als Laura bei ihm hineinmarschiert kam, hochschwanger und fest entschlossen, nie wieder Miete zu zahlen. Noch am selben Abend sahen wir uns das Haus an, und Laura war sofort über beide Ohren verliebt. Am nächsten Morgen überredete sie mich, ein Angebot über den gesamten geforderten Preis abzugeben, auch wenn das Haus von oben bis unten renoviert werden musste. Es war ein ziemliches Glücksspiel, aber es hatte sich ausgezahlt, denn nun wohnten wir in einem Haus, das wir uns später, nachdem die Immobilienpreise in die Höhe geschossen waren, im Traum nicht mehr hätten leisten können. Aber das war typisch Laura: Alles, was sie anfasste, wurde zu Gold.

Jedenfalls: Ich war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen — oder genauer gesagt von einem Dinner mit ein paar Agenten, die den ganzen Abend lang ihre Künstler in den höchsten Tönen gepriesen hatten, damit ich sie in einer meiner Shows auftreten ließ. Ich bin Fernsehproduzent, hauptsächlich im Entertainment-Bereich, also für die Sendungen, die die Leute samstagabends so sehen wollen. Ein Artikel im Broadcast Magazine hatte mir sogar einmal den Namen »Mr Saturday Night« verpasst.

Im Haus war es ruhig, und das hatte ich zu dieser Uhrzeit auch nicht anders erwartet. Wenn man es den Kindern überlassen würde, zu entscheiden, wann sie ins Bett gingen, würden sie Zirkus machen, bis ihnen die Augen aus dem Kopf fielen, aber zum Glück hatten sie Linda. Und Linda hatte sie. Ein perfektes Arrangement für alle Beteiligten. Und das Beste an Linda war: Sie ging in der Regel früh schlafen. Wenn sie es verhindern konnte, war sie selten nach zehn im Bett, was bedeutete, dass ich, wenn ich es richtig abpasste — also an den meisten Abenden —, das Erdgeschoss für mich allein hatte. Heute allerdings nicht. Ich stand gerade in der Küche, die Weinflasche in der einen, ein leeres Glas in der anderen Hand, als meine Schwiegermutter in ihrem flauschigen blauen Pünktchenbademantel im Türrahmen erschien.

»Guter Tag?«

»Langer Tag.« Ich seufzte und stellte die Flasche und das leere Glas zurück auf den Küchentresen. »Kannst du nicht schlafen?«

»Ehrlich gesagt, habe ich auf dich gewartet. Hast du einen Augenblick Zeit? Es gibt etwas, über das ich dringend mit dir sprechen muss, und … nun, du scheinst meine Nachrichten nicht bekommen zu haben.«

Mir sank das Herz. Alles, woran ich während der gesamten Taxifahrt nach Hause hatte denken können, war die folgende Stunde meines Lebens: Wie ich mir ein großes Glas Wein einschenken, ein wenig Musik auflegen und mich im Halbdunkel auf dem Küchensofa ausstrecken würde, um an möglichst gar nichts zu denken. Aber dank Linda würde es dazu nun nicht kommen.

Wir setzten uns aufs Sofa, auf dem ich, wie gesagt, eigentlich mein Glas Wein hatte genießen wollen. Ich sah Linda an. Kennen Sie diesen Moment, wenn Sie jemanden ansehen und Ihnen klar wird, dass dieser jemand überhaupt nicht so aussieht, wie Sie ihn sich vorstellen? In meinem Kopf war ein Bild von Linda als junggebliebener Sechsundsechzigjährigen. Klar, sie hatte graue Haare und ein paar Fältchen im Gesicht, aber was sie eigentlich auszeichnete, war ein stetes Funkeln in den Augen und ein gewisser Schwung in ihren Schritten. Und dazu ein wundervoll lautes Lachen. Die Frau allerdings, die gerade neben mir saß, sah aus, als wollte sie für die Rolle einer alten Dame in einer Comedy-Sendung vorsprechen. Noch nicht ganz Halbmondbrille und Gehstock, aber allzu weit davon entfernt war sie auch nicht. Sie wirkte alt. Ernsthaft alt. Alt in dem Sinne, dass man, würde sie jetzt sterben, sagen würde: Sie hat ihr Leben wirklich gelebt. Dabei ist sechsundsechzig heutzutage doch wirklich kein Alter. Oder sollte es zumindest nicht sein. Ich fragte mich, ob sie in letzter Zeit vielleicht auch nicht besonders gut schlief. Ein paar schlaflose Nächte können hier und da schnell ein paar Jahre dazuaddieren. Ich überlegte kurz, ob ich ihr ein paar von den Schlaftabletten anbieten sollte, die ich von meiner letzten Dienstreise aus den USA mitgebracht hatte, aber sie wartete eindeutig darauf, dass ich sie fragte, worüber sie mit mir reden wollte, und so tat ich ihr den Gefallen — auch wenn es mich einige Überwindung kostete.

»Es geht um übernächstes Wochenende.« Sie blickte mir forschend in die Augen, um zu sehen, ob mir die Bedeutung dieses Datums bewusst war. Als glaubte sie tatsächlich, dass ich so etwas vergessen könnte. »Die Mädchen und ich haben darüber gesprochen, was sie gerne machen möchten, und sie haben gesagt, sie würden gerne nach Southwold fahren. Und … nun ja, ich finde, das ist eine großartige Idee. Du weißt, wie sehr Laura Southwold geliebt hat.«

Linda hatte recht. Laura hatte Southwold wirklich geliebt. Es war ihr Zufluchtsort gewesen, wann immer sie eine Auszeit aus dem Alltag gebraucht hatte, auch schon vor der Geburt der Mädchen. Sie hatte oft davon gesprochen, später einmal dort hinzuziehen, wenn wir nicht mehr arbeiten müssten, und mit unseren Enkelkindern am Strand spazieren zu gehen. Southwold und Laura gehörten zusammen, und es war der beste Ort, um sich an sie zu erinnern. Ich war voll und ganz einverstanden.

»Das ist eine schöne Idee. Du solltest unbedingt mit den Mädchen hinfahren. Gönnt euch was richtig Schönes, sie haben es verdient.«

»Was ist mit dir?«

»Mit mir? Ich würde gern mitkommen, Linda, wirklich, aber im Büro brennt im Moment die Luft — wir haben zwei Sendungen in Produktion und mehr in der Entwicklung, als wir eigentlich bewältigen können. Ich kann jetzt unmöglich freinehmen. Du weißt selbst, wie wenig ich in der letzten Zeit am Wochenende zu Hause war.«

»Ja, das habe ich allerdings bemerkt«, sagte Linda spitz. »Man könnte fast denken, du wohnst im Büro, so viel Zeit, wie du da verbringst. Musst du wirklich so viel arbeiten? Die Mädchen vermissen dich. Sehr.«

»Und ich sie«, antwortete ich. »Sobald es etwas ruhiger wird, machen wir alle zusammen Ferien, du, die Kinder und ich, irgendwas Besonderes. Ich sehe es schon vor mir: Die Mädchen toben im Pool, während du dich im Bikini in der Sonne rekelst und einen Cocktail schlürfst.«

Noch vor ein paar Jahren hätte sie jetzt ihr Lachen hören lassen und eine entsprechende Antwort gegeben, aber heute kommt gar nichts. Null. Tatsächlich scheint sie ernsthaft wütend zu sein.

»Du denkst, das ist alles nur ein Witz, oder?«

»Ganz im Gegenteil.«

»Die Mädchen brauchen dich, Tom. Sie brauchen ihren Vater, und im Moment bist du einfach nie da.«

»Ich habe dir doch gesagt, Linda, ich muss arbeiten. Ich würde ja gern mehr Zeit mit euch verbringen, aber ich kann nicht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe befürchtet, dass du das sagen würdest — weswegen ich die Dinge selbst in die Hand genommen habe.«

Sie starrte mich mit stählernem Trotz an. Das hier war kein Bluff. Sie hatte etwas Hinterhältiges getan, und ich hatte es nicht kommen sehen.

»Wovon redest du?« In meiner Stimme schwang eine Spur Anspannung mit.

»Du hast mir keine andere Wahl gelassen.«

»Was hast du gemacht?« Die Panik in meiner Stimme wurde deutlicher.

»Ich habe heute Morgen deinen Chef angerufen und ihn gebeten, dir das Wochenende freizugeben.«

Jetzt fiel auch der letzte Rest Selbstbeherrschung von mir ab. »Du hast was

»Du hast gerade selbst gesagt, dass du mitkommen würdest, wenn du nicht arbeiten müsstest. Nun, dein Chef meint, dass du das Wochenende freinehmen kannst. Er hat gesagt, es wäre überhaupt kein Problem und er wäre sogar froh darüber.«

Ich war so wütend, so außer mir, dass ich aufsprang, und die ebenso wütende Linda tat es mir gleich. Mit zornig geschwellter Brust standen wir uns gegenüber: meine eins dreiundachtzig gegen ihre eins fünfundsechzig, wie zwei ungleiche Boxer.

»Du hattest kein Recht, so etwas zu tun!«

»Und du hast kein Recht, dich wie ein egoistischer Mistkerl aufzuführen! Die Mädchen brauchen dieses Wochenende, Tom. Und sie brauchen dich, wenn sie sich an ihre Mutter erinnern. Es sind deine Töchter, um die ich mir Sorgen mache. Und wenn ich hinter deinem Rücken mit deinem Chef sprechen muss, um sicherzustellen, dass du mit ihnen nach Southwold fährst, dann tue ich das verdammt noch mal, ohne mich dafür zu entschuldigen! Ich bin die einzige Großmutter, die diese beiden Mädchen haben, und du kannst mir glauben, dass es auf dieser Welt nichts gibt, was ich nicht für sie tun würde.«

Linda

Tom sprach die ganze Woche kein Wort mit mir. Seine Taktik hätte allerdings mehr Effekt gehabt, wenn wir — wie sonst üblich — abends beim Essen alle an einem Tisch gesessen und uns unterhalten hätten. Aber in letzter Zeit redeten wir ohnehin kaum noch miteinander. Im Lauf des Jahres, das ich nun bei ihm und den Mädchen wohnte, hatte sich mein Verhältnis zu ihm in eine beunruhigende Mischung aus Haushälterin, Kinderfrau und platonischem Ehefrau-Ersatz verwandelt. Ich hielt das Haus in Ordnung, wusch und bügelte die Wäsche und kümmerte mich um seine Kinder, und im Gegenzug gab er mir ein eigenes Zimmer und mehr Haushaltsgeld, als ich ausgeben konnte. Wir waren keine Freunde mehr, zumindest nicht in der Form, wie wir es einmal gewesen waren. Wir waren einfach zwei Menschen, die in einem unendlich tiefen Ozean Seite an Seite auf der Stelle schwammen, viele, viele Meilen vom Strand entfernt und ohne Hoffnung auf Rettung. Und wir wurden mit jedem Tag müder.

Wie anders war es gewesen, als wir uns zum ersten Mal begegneten, im Sommer 1997. Laura war damals mitten in ihrem Fotografie-Studium in London. Ich hatte mich frisch von Tony getrennt, nach gerade einmal neun Monaten, nachdem ich herausgefunden hatte, dass seine Beziehung zu seiner Ex-Frau nicht annähernd so beendet war, wie er mich hatte glauben lassen. Laura hatte mich übers Wochenende zu sich nach London eingeladen, und um nicht allein zu Hause sitzen zu müssen und Tony nachzutrauern, nahm ich ihre Einladung an und machte mich am Freitag gleich nach der Arbeit auf den Weg.

Am nächsten Morgen gingen Laura und ich auf der Oxford Street shoppen, und beim Mittagessen in einem hübschen kleinen Café auf der Monmouth Street erzählte sie mir von dem neuen Mann in ihrem Leben: Tom Hope. Tom war fünfundzwanzig und kam ursprünglich aus Reading, lebte aber seit vier Jahren in London, wo er als Researcher für eine Produktionsfirma arbeitete. Laura schwärmte davon, wie groß und gutaussehend er war, und dass er der netteste Mann sei, den sie jemals getroffen habe. Wie es sich für eine besorgte Mutter gehört, fragte ich sie nach Toms Eltern und hoffte inständig, sie mochten besser sein als die letzten — ein Hippiepärchen, das mir ganz selbstverständlich einen Joint anbot, gerade einmal fünf Minuten nachdem wir uns vorgestellt hatten. Laura erzählte mir, dass Toms Mutter mit einem anderen Mann durchgebrannt war, als Tom noch ganz klein war, und dass sein Vater vor zwei Jahren nach langem Kampf gegen Lungenkrebs gestorben war. Obwohl ich wusste, dass er ein erwachsener Mann war und sich ohne Zweifel mit seiner Situation arrangiert hatte, kam ich nicht umhin, Mitleid mit dem armen Kerl zu empfinden. Selbst erwachsene Kinder brauchten ihre Eltern. Und das galt auch für junge, unabhängige Männer wie Tom.

Nach dem Essen fuhren wir zurück zu Lauras Wohnung in Hammersmith und trafen ihre Mitbewohnerinnen. Der deutliche Altersunterschied zwischen mir und den Mädchen hielt uns nicht davon ab, uns bei ein paar Flaschen Wein über Männer und ähnliche Dinge auszulassen. Jedes der Mädchen gab ihren Senf zu meiner Erfahrung mit Tony dazu, und nach ein paar Gläsern begannen wir Pläne zu schmieden, wie ich mich an ihm rächen könnte. Und wenn man vom Teufel spricht — genau in diesem Moment klingelte das Telefon, und wer war am anderen Ende? Tony. Er sagte, er müsse mit mir reden, und obwohl ich es besser hätte wissen müssen, ließ ich mich darauf ein. Um mir ein wenig Privatsphäre zu ermöglichen, verließen die Mädchen die Wohnung und gingen los, um ein paar Dinge fürs Abendessen einzukaufen.

Mein Gespräch mit Tony war so aufreibend, wie ich es erwartet hatte, doch ich ließ mich nicht beirren: Zwischen uns war es aus. Und als ich dann allein in Lauras Wohnung saß und noch einmal die Monate Revue passieren ließ, die ich schon wieder auf den falschen Mann verschwendet hatte, wurde mir deutlich, wie viel Pech ich mein ganzes Leben lang in der Liebe gehabt hatte. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich glauben können, unter einem Fluch zu stehen. Vor Tony war ich mit Andrew zusammen gewesen (der unsere Beziehung nach zwei Jahren beendete, weil er sich in seine Sekretärin verliebt hatte), vor Andrew mit Christopher (dem es nicht so sehr um mich ging als um einen Babysitter für seine Kinder), vor Christopher mit Stephen (dem es beinahe Spaß zu machen schien, mich aus der Fassung zu bringen, indem er wie ein Fähnchen im Wind seine Launen änderte) und vor Stephen mit Edward (der wie Tony eine Ex-Frau hatte, die alles andere als »ex« war). Die Liste zog sich über vierzig Jahre, und ganz oben stand der eine, der das Ganze ursprünglich ins Rollen gebracht hatte — Frank Smith, Lauras Vater. Der erste Mann, der mir das Herz gebrochen hatte.

Mitten in diesen schmerzlichen Erinnerungen klingelte es an der Tür. Nicht einmal oder zweimal, nein, fünfmal hintereinander! Ich mochte es normalerweise schon nicht, wenn man meine Gedanken unterbrach, aber in dieser Situation verlor ich die Nerven und stapfte wütend die Treppe hinunter. Als ich die Tür aufriss, um dem Störenfried ordentlich die Meinung zu sagen, wurde ich von dem freundlichen Gesicht eines großen, ein wenig schlampig gekleideten jungen Mannes überrascht. Durch Lauras Erzählungen, die Flasche Sekt und den Tankstellen-Strauß frischer Blumen wusste ich sofort, wen ich vor mir hatte: Das hier war der neue Mann in ihrem Leben.

Mein Gegenüber blickte mich verwirrt an. »Das muss eine Verwechslung sein. Ich habe bei Nr. 3 geklingelt.«

»Ja, das ist mir bewusst. Meine Ohren klingeln immer noch.«

»Also … ich wollte zu Laura Wood?«

Ich lachte und hob eine Braue. »Das will ich doch hoffen.« Es war ein bisschen gemein, aber ich konnte es einfach nicht lassen.

Es dauerte einen Moment, aber schließlich fiel der Groschen. »Sie sind Lauras Mutter, nicht wahr?«

Ich nickte. »Und Sie sind sicher Tom. Müssen Sie dieses Wochenende nicht arbeiten?«

»Wir sind früher fertig geworden als geplant. Ich hatte ganz vergessen, dass Sie übers Wochenende zu Besuch sind. Ich sollte besser wieder gehen.«

»Unsinn. Laura muss jeden Augenblick zurück sein. Wenn Sie möchten, können Sie gern reinkommen und auf sie warten.«

Sie hätten die Panik in seinen Augen sehen sollen. Smalltalk mit der Mutter seiner neuen Freundin? Er sah aus, als würde er sich lieber den Arm abbeißen.

»Nein, wirklich, ich komme später noch mal vorbei«, sagte er nervös und wollte mir den Sekt und die Blumen in die Hand drücken. »Könnten Sie Laura das hier geben?«

»Das können Sie selbst tun«, sagte ich. »Sie steht direkt hinter Ihnen.«

Das strahlende Lächeln, das über Lauras Gesicht zog, als sie ihn sah, bewies mir unmissverständlich, wie verliebt sie war. Sie sah aus, als hätte jemand in ihrem Innern ein Licht angeschaltet. Meine Tochter leuchtete aus allen Poren. Wenn jemand Sie so glücklich machen kann, bloß weil er unerwartet auftaucht, dann haben Sie ohne Zweifel das große Los gezogen.

Laura schlang die Arme um Toms Hals und starrte ihm in die Augen, als wollte sie ihm bis tief in die Seele blicken. »Du hast mir gefehlt, Tom Hope.«

Sie küssten sich und hätten wohl auch noch eine Weile damit weitergemacht, wenn Tom sich nicht daran erinnert hätte, dass ich noch immer im Türrahmen stand.

»Äh … Laura, deine Mutter ist hier.«

Laura lachte. »Ich weiß. Ich habe sie eingeladen.«

»Aber …«

»Macht sie dir Angst?«

Tom nickte.

»Keine Bange«, sagte sie und drehte sich zu mir um. Sie sah so wunderschön aus, so glücklich, dass ich meinen Blick nicht von ihr wenden konnte. »Du beißt nicht, oder, Mum?«

»Nein«, antwortete ich und zwinkerte Tom zu. »Und wenn, dann nicht allzu fest.«

Die Leichtigkeit unserer ersten Begegnung hatte den Grundton für unsere Beziehung gelegt. Und während die Sache zwischen Tom und Laura ernster wurde, kamen auch er und ich uns näher. Als Laura und ich im darauffolgenden Jahr in die Ferien fuhren, war ich es, die darauf bestand, dass Tom uns begleitete, und als Lauras Großvater einige Monate später starb, war es nur natürlich, dass auch Tom an der Trauerfeier teilnahm, schließlich gehörte er mittlerweile zur Familie. Und als Tony sich weigerte, mir das Geld zurückzuzahlen, das ich ihm für seine Druckerei geliehen hatte, war es Tom, der — ohne dass ich ihn darum gebeten hätte — nach York fuhr und ihn davon überzeugte, mir das Geld samt Zinsen zurückzugeben.

Es war nicht nur, was Tom tat, sondern seine ganze Art. Er liebte es, die Menschen um ihn herum zum Lachen zu bringen; er arbeitete hart und wusste immer, was zu tun war, egal in welcher Situation. Ich hätte mir keinen pflichtbewussteren, gütigeren und liebevolleren Mann für meine Laura wünschen können. Wenn ich in Liebesdingen verflucht war, so schien meine Tochter mit Tom den Hauptgewinn gezogen zu haben.

Dennoch muss ich gestehen, dass ich mir ernsthaft Sorgen machte, als Laura plötzlich schwanger war. Das Baby war nicht geplant gewesen — die beiden waren erst seit zwei Jahren ein Paar und Laura gerade einmal vierundzwanzig. Als alleinerziehende Mutter wusste ich aus eigener Erfahrung, was für eine Herausforderung es war, ein Kind großzuziehen, selbst mit dem Luxus, einen verlässlichen Partner an seiner Seite zu haben.

»Ach Mum, wir kriegen das schon hin«, sagte Laura, als gäbe es überhaupt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.

»Aber was ist mit deiner Fotografie?«, fragte ich, »Du stehst kurz vor deinem Studienabschluss. Wie willst du das machen, wenn du jetzt ein Baby bekommst?«

»Ich lasse es einfach auf mich zukommen«, antwortete sie. »Ich kann den Abschluss nachholen, oder ich suche mir einen Job oder mache mich selbständig. Die Dinge laufen nicht immer so, wie wir sie planen, Mum, aber weißt du was? Ich möchte es gar nicht anders. Ich habe mein ganzes Leben noch vor mir, und mehr als genug Zeit, meine Träume zu verwirklichen. Alles, was jetzt zählt, sind Tom, ich und dieses kleine Würmchen, das in meinem Bauch wächst.«

Das »kleine Würmchen« erblickte acht Monate später in den frühen Morgenstunden des 2. Februar das Licht der Welt. Evie war das hübscheste Baby, das ich je gesehen hatte. Man musste nur ihren Blick erhaschen, und schon strahlte sie einen an, als wäre man ihr der liebste Mensch auf Erden. Fünf Jahre später folgte ein zweites Würmchen, am 3. September um 16.10 Uhr. Sie nannten sie Lola, und ich verliebte mich sofort in meine kleine Lolly.

Trotz ihres jungen Alters schien Laura in ihrer Mutterrolle mindestens genauso aufzugehen wie in ihrer Fotografie. Und obwohl es Zeiten gab, in denen ich mich fragte, ob sie sich nicht zu früh zu viel zugemutet hatte, wirkte sie oft glücklicher und lebensfroher, als ich sie jemals zuvor gesehen hatte.

Und ich? Zu behaupten, die beiden Mädchen hätten mein Leben verändert, wäre eine massive Untertreibung. Sie erhellten jeden Winkel meines Daseins, sodass es keinen einzigen dunklen Fleck mehr gab. Ich hörte auf, mir Sorgen darüber zu machen, ich könnte alt werden und müsste einsam und allein mein Dasein fristen. Ich hörte auf, mich über meine unerzogenen Grundschüler zu ärgern, die ich unterrichtete, oder über ihre mindestens ebenso unerzogenen Eltern und die scheinbar endlose Lawine an Aufgaben, die die Schulleitung auf mich abwälzte. Seit es die beiden gab, hatte all das an Bedeutung verloren. Nach einem Leben voller Herzschmerz hatte ich endlich das Glück gefunden, und niemand würde es mir wieder wegnehmen.