Hermann Hesse

Das Leben bestehen

Krisis und Wandlung

Ausgewählt von Volker Michels

Insel Verlag

Kleine Freuden

Die hohe Bewertung der Minute, die Eile, als wichtigste Ursache unserer Lebensform, ist ohne Zweifel der gefährlichste Feind der Freude. Mit sehnsüchtigem Lächeln lesen wir die Idyllen und empfindsamen Reisen vergangener Epochen. Wozu haben unsere Großväter nicht Zeit gehabt? Als ich einmal Friedrich Schlegels Ekloge auf den Müßiggang las, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren: Wie würdest du erst geseufzt haben, wenn du unsere Arbeit hättest tun müssen!

Daß diese Eiligkeit unseres heutigen Lebens uns von der frühesten Erziehung an angreifend und nachteilig beeinflußt hat, erscheint traurig, aber notwendig. Leider aber hat sich diese Hast des modernen Lebens längst auch unserer geringen Muße bemächtigt; unsere Art zu genießen ist kaum weniger nervös und aufreibend als der Betrieb unserer Arbeit. »Möglichst viel und möglichst schnell« ist die Losung. Daraus folgt immer mehr Vergnügung und immer weniger Freude. Wer je ein großes Fest in Städten oder gar Großstädten angesehen hat, oder die Vergnügungsorte moderner Städte, dem haften diese fieberheißen, verzerrten Gesichter mit den starren Augen schmerzlich und ekelhaft im Gedächtnis. Und diese krankhafte, von ewigem Ungenügen gestachelte und dennoch ewig übersättigte Art, zu genießen, hat ihre Stätte auch in den Theatern, in den Opernhäusern, ja in den Konzertsälen und Bildergalerien. Eine moderne Kunstausstellung zu besuchen ist gewiß selten ein Vergnügen.

Von diesen Übeln bleibt auch der Reiche nicht verschont. Er könnte wohl, aber er kann nicht. Man muß mitmachen, auf dem laufenden bleiben, sich auf der Höhe halten.

So wenig als andere weiß ich ein Universalrezept gegen diese Mißstände. Ich möchte nur ein altes, leider ganz unmodernes Privatmittel in Erinnerung bringen: Mäßiger Genuß ist doppelter Genuß. Und: Überseht doch die kleinen Freuden nicht!

Also: Maßhalten. In gewissen Kreisen gehört Mut dazu, eine Premiere zu versäumen. In weiteren Kreisen gehört Mut dazu, eine literarische Novität einige Wochen nach ihrem Erscheinen noch nicht zu kennen. In den allerweitesten Kreisen ist man blamiert, wenn man die heutige Zeitung nicht gelesen hat. Aber ich kenne einige, welche es nicht bereuen, diesen Mut gehabt zu haben.

Wer einen abonnierten Sitz im Theater hat, der glaube nicht, etwas zu verlieren, wenn er nur jede zweite Woche einmal davon Gebrauch macht. Ich garantiere ihm: er wird gewinnen.

Wer gewohnt ist, Bilder in Masse zu sehen, der versuche einmal, falls er dazu noch fähig ist, eine Stunde oder mehr vor einem einzelnen Meisterwerk zu verweilen und sich damit für diesen Tag zu begnügen. Er wird dabei gewinnen.

Ebenso versuche es der Vielleser usw. Er wird sich einigemal ärgern, über etwas Neues nicht mitreden zu können. Er wird einigemal Lächeln erregen. Aber bald wird er selber lächeln und es besser wissen. Und jedermann, der zu keiner andern Beschränkung sich verstehen mag, versuche es mit der Gewohnheit, mindestens einmal in der Woche um 10 Uhr schlafen zu gehen. Er wird sich wundern, wie glänzend dieser kleine Verlust an Zeit und Genuß sich ersetzt. Mit der Gewohnheit des Maßhaltens ist die Genußfähigkeit für die »kleinen Freuden« innig verknüpft. Denn diese Fähigkeit, ursprünglich jedem Menschen eingeboren, setzt Dinge voraus, die im modernen Tagesleben vielfach verkümmert und verlorengegangen sind, nämlich ein gewisses Maß von Heiterkeit, von Liebe und von Poesie. Diese kleinen Freuden, namentlich dem Armen geschenkt, sind so unscheinbar und sind so zahlreich ins tägliche Leben gestreut, daß der dumpfe Sinn unzähliger Arbeitsmenschen kaum noch von ihnen berührt wird. Sie fallen nicht auf, sie werden nicht angepriesen, sie kosten kein Geld! (Sonderbarerweise wissen gerade auch die Armen nicht, daß die schönsten Freuden immer die sind, die kein Geld kosten.) Unter diesen Freuden stehen diejenigen obenan, welche uns die tägliche Berührung mit der Natur erschließt. Unsere Augen vor allem, die viel mißbrauchten, überangestrengten Augen des modernen Menschen, sind, wenn man nur will, von einer ganz unerschöpflichen Genußfähigkeit. Wenn ich morgens zu meiner Arbeit gehe, eilen mit mir und mir entgegen täglich zahlreiche andere Arbeiter, eben aus dem Schlaf und Bett gekrochen, schnell und fröstelnd über die Straßen. Die meisten gehen rasch und halten die Augen auf den Weg oder höchstens auf die Kleider und Gesichter der Vorübergehenden gerichtet. Kopf hoch, liebe Freunde! Versucht es einmal – ein Baum oder mindestens ein gutes Stück Himmel ist überall zu sehen. Es muß durchaus kein blauer Himmel sein, in irgendeiner Weise läßt sich das Licht der Sonne immer fühlen. Gewöhnt euch daran, jeden Morgen einen Augenblick nach dem Himmel zu sehen, und plötzlich werdet ihr die Luft um euch herum spüren, den Hauch der Morgenfrische, der euch zwischen Schlaf und Arbeit gegönnt ist. Ihr werdet finden, daß jeder Tag und jeder Dachgiebel sein eigenes Aussehen, seine besondere Beleuchtung hat. Achtet ein wenig darauf, und ihr werdet für den ganzen Tag einen Rest von Wohlgefallen und ein kleines Stück Zusammenleben mit der Natur haben. Allmählich erzieht sich das Auge ohne Mühe selber zum Vermittler vieler kleiner Reize, zum Betrachten der Natur, der Straßen, zum Erfassen der unerschöpflichen Komik des kleinen Lebens. Von da bis zum künstlerisch erzogenen Blick ist die kleinere Hälfte des Weges, die Hauptsache ist der Anfang, das Augenaufmachen.

Ein Stück Himmel, eine Gartenmauer, von grünen Zweigen überhangen, ein tüchtiges Pferd, ein schöner Hund, eine Kindergruppe, ein schöner Frauenkopf – das alles wollen wir uns nicht rauben lassen. Wer den Anfang gemacht hat, der kann innerhalb einer Straßenlänge köstliche Dinge sehen, ohne eine Minute Zeit zu verlieren. Dabei ermüdet dieses Sehen keineswegs, sondern stärkt und erfrischt, und nicht nur das Auge. Alle Dinge haben eine anschauliche Seite, auch interesselose oder häßliche; man muß nur sehen wollen …

Einem Hause, in welchem ich längere Zeit arbeitete, lag eine Mädchenschule gegenüber. Die Klasse der etwa Zehnjährigen hatte auf dieser Seite ihren Spielplatz. Ich hatte tüchtig zu arbeiten und litt jeweils auch unter dem Lärm der spielenden Kinder, aber wieviel Freude und Lebenslust ein einziger Blick auf diesen Spielplatz mir gewährte, ist nicht zu sagen. Diese farbigen Kleider, diese lebhaften, lustigen Augen, diese schlanken, kräftigen Bewegungen erhöhten in mir die Lust am Leben. Eine Reitschule oder ein Hühnerhof hätte mir vielleicht ähnliche Dienste getan. Wer die Wirkungen des Lichtes auf einer einfarbigen Fläche, etwa einer Hauswand, einmal beobachtet hat, der weiß, wie genügsam und genußfähig das Auge ist.

Wir wollen uns mit diesen Beispielen begnügen. Manchem Leser sind gewiß schon viele andere kleine Freuden eingefallen, etwa die besonders herrliche des Riechens an einer Blume oder an einer Frucht, des Horchens auf die eigene und auf fremde Stimmen, des Belauschens von Kindergesprächen. Auch das Summen oder Pfeifen einer Melodie gehört hieher und tausend andere Kleinigkeiten, aus denen man eine helle Kette von kleinen Genüssen in sein Leben flechten kann.

Jeden Tag so viel nur möglich von den kleinen Freuden erleben und die größeren, anstrengenden Genüsse sparsam auf Ferientage und gute Stunden verteilen, das ist, was ich jedem raten möchte, der an Zeitmangel und Unlust leidet. Zur Erholung vor allem, zur täglichen Erlösung und Entlastung sind uns die kleinen, nicht die großen Freuden gegeben.

Vergiß es nicht

Es ist kein Tag so streng und heiß,

Des sich der Abend nicht erbarmt,

Und den nicht gütig, lind und leis

Die mütterliche Nacht umarmt.

Auch du, mein Herz, getröste dich,

So heiß dein Sehnen dich bedrängt,

Die Nacht ist nah, die mütterlich

In sanfte Arme dich empfängt.

Es wird ein Bett, es wird ein Schrein

Dem ruhelosen Wandergast

Von fremder Hand bereitet sein,

Darin du endlich Ruhe hast.

Vergiß es nicht, mein wildes Herz,

Und liebe sehnlich jede Lust

Und liebe auch den bittern Schmerz,

Eh du für immer ruhen mußt.

Es ist kein Tag so streng und heiß,

Des sich der Abend nicht erbarmt,

Und den nicht gütig, lind und leis

Die mütterliche Nacht umarmt.

Die Kunst des Müßiggangs

Je mehr auch die geistige Arbeit sich dem traditions- und geschmacklosen, gewaltsamen Industriebetrieb assimilierte, und je eifriger Wissenschaft und Schule bemüht waren, uns der Freiheit und Persönlichkeit zu berauben und uns von Kindesbeinen an den Zustand eines gezwungenen, atemlosen Angestrengtseins als Ideal einzutrichtern, desto mehr ist neben manchen anderen altmodischen Künsten auch die des Müßigganges in Verfall und außer Kredit und Übung geraten. Nicht als ob wir jemals eine Meisterschaft darin besessen hätten! Das zur Kunst ausgebildete Trägsein ist im Abendlande zu allen Zeiten nur von harmlosen Dilettanten betrieben worden.

Desto wunderlicher ist es, daß in unseren Tagen, wo doch so viele sich mit sehnsüchtigen Blicken gen Osten wenden und sich mühsam genug ein wenig Freude aus Schiras und Bagdad, ein wenig Kultur und Tradition aus Indien und ein wenig Ernst und Vertiefung aus den Heiligtümern Buddhas anzueignen streben, nur selten einer zum Nächstliegenden greift und sich etwas von jenem Zauber zu erobern sucht, den wir beim Lesen orientalischer Geschichtenbücher uns aus brunnengekühlten maurischen Palasthöfen entgegenwehen spüren.

Warum haben eigentlich so viele von uns an diesen Geschichtenbüchern eine seltsame Freude und Befriedigung, an Tausendundeine Nacht, an den türkischen Volkserzählungen und am köstlichen »Papageienbuch«, dem Decamerone der morgenländischen Literatur? Warum ist ein so feiner und originaler jüngerer Dichter wie Paul Ernst in seiner »Prinzessin des Ostens« diesen alten Pfaden so oft gefolgt? Warum hat Oscar Wilde seine überarbeitete Phantasie so gern dorthin geflüchtet? Wenn wir ehrlich sein wollen und von den paar wissenschaftlichen Orientalisten absehen, so müssen wir gestehen, daß die dicken Bände der Tausendundeine Nacht uns inhaltlich noch nicht ein einziges von den Grimmschen Märchen oder eine einzige von den christlichen Sagen des Mittelalters aufwiegen. Und doch lesen wir sie mit Genuß, vergessen sie in Bälde, weil eine Geschichte darin der anderen so geschwisterlich ähnlich ist, und lesen sie dann mit demselben Vergnügen wieder.

Wie kommt das? Man schreibt es gern der schönen ausgebildeten Erzählerkunst des Orients zu. Aber da überschätzen wir doch wohl unser eigenes ästhetisches Urteil: denn wenn die seltenen wahren Erzählertalente unserer eigenen Literatur bei uns so verzweifelt wenig geschätzt werden, warum sollten wir dann diesen Fremden nachlaufen? Es ist also auch nicht die Freude an erzählerischer Kunst, wenigstens nicht diese allein. In Wahrheit haben wir für diese ja überhaupt sehr wenig Sinn; wir suchen beim Lesen, neben dem grob Stofflichen, eigentlich nur psychologische und sentimentale Reize auf.

Der Hintergrund jener morgenländischen Kunst, der uns mit so großem Zauber fesselt, ist einfach die orientalische Trägheit, das heißt der zu einer Kunst entwickelte, mit Geschmack beherrschte und genossene Müßiggang. Der arabische Geschichtenerzähler hat, wenn er am spannendsten Punkt seines Märchens steht, immer noch reichlich Zeit, ein königliches Purpurzelt, eine mit Edelsteinen behängte gestickte Satteldecke, die Tugenden eines Derwisches oder die Vollkommenheiten eines wahrhaft Weisen bis in alle Einzelheiten und Kleinigkeiten zu schildern. Ehe er seinen Prinzen oder seine Prinzessin ein Wort sagen läßt, beschreibt er uns Zug für Zug das Rot und den Linienschwung ihrer Lippen, den Glanz und die Form ihrer schönen weißen Zähne, den Reiz des kühn flammenden oder des schämig gesenkten Blickes und die Geste der gepflegten Hand, deren Weiße untadelhaft ist, und an welcher die opalisierenden, rosigen Fingernägel mit dem Glanze kleinodbesetzter Ringe wetteifern. Und der Zuhörer unterbricht ihn nicht, er kennt keine Ungeduld und moderne Lesergefräßigkeit, er hört die Eigenschaften eines greisen Einsiedlers mit demselben Eifer und Genusse schildern, wie die Liebesfreuden eines Jünglings oder den Selbstmord eines in Ungnade gefallenen Veziers.

Wir haben beim Lesen beständig das sehnsüchtig neidische Gefühl: Diese Leute haben Zeit! Massen von Zeit! Sie können einen Tag und eine Nacht darauf verwenden, ein neues Gleichnis für die Schönheit einer Schönen oder für die Niedertracht eines Bösewichts zu ersinnen! Und die Zuhörer legen sich, wenn eine um Mittag begonnene Geschichte am Abend erst zur Hälfte erzählt ist, ruhig nieder, verrichten ihr Gebet und suchen mit Dank gegen Allah den Schlummer, denn morgen ist wieder ein Tag. Sie sind Millionäre an Zeit, sie schöpfen wie aus einem bodenlosen Brunnen, wobei es auf den Verlust einer Stunde und eines Tages und einer Woche nicht groß ankommt. Und während wir jene unendlichen, ineinander verflochtenen, seltsamen Fabeln und Geschichten lesen, werden wir selber merkwürdig geduldig und wünschen kein Ende herbei, denn wir sind für Augenblicke dem großen Zauber verfallen – die Gottheit des Müßiggangs hat uns mit ihrem wundertätigen Stabe berührt.

Bei gar vielen von jenen Unzähligen, welche neuerdings wieder so müde und gläubig an die heimatliche Wiege der Menschheit und Kultur zurück pilgern und sich zu Füßen des großen Konfutse und des großen Laotse niederlassen, ist es einfach eine tiefe Sehnsucht nach jenem göttlichen Müßiggang, die sie treibt. Was ist der sorgenlösende Zauber des Bacchus und die süße, schläfernde Wollust des Haschisch gegen die abgrundtiefe Rast des Weltflüchtigen, der auf dem Grat eines Gebirges sitzend, den Kreislauf seines Schattens beobachtet und seine lauschende Seele an den stetigen, leisen, berauschenden Rhythmus der vorüberkreisenden Sonnen und Monde verliert? Bei uns, im armen Abendland, haben wir die Zeit in kleine und kleinste Teile zerrissen, deren jeder noch den Wert einer Münze hat; dort aber fließt sie noch immer unzerstückt in stetig flutender Woge, dem Durst einer Welt genügend, unerschöpflich, wie das Salz des Meeres und das Licht der Gestirne.

Es liegt mir fern, dem die Persönlichkeiten fressenden Betrieb unserer Industrie und unserer Wissenschaft irgend einen Rat geben zu wollen. Wenn Industrie und Wissenschaft keine Persönlichkeit mehr brauchen, so sollen sie auch keine haben. Wir Künstler aber, die wir inmitten des großen Kulturbankrotts eine Insel mit noch leidlich erträglichen Lebensmöglichkeiten bewohnen, müssen nach wie vor anderen Gesetzen folgen. Für uns ist Persönlichkeit kein Luxus, sondern Existenzbedingung, Lebensluft, unentbehrliches Kapital. Dabei verstehe ich unter Künstlern alle die, denen es Bedürfnis und Notwendigkeit ist, sich selber lebend und wachsend zu fühlen, sich der Grundlage ihrer Kräfte bewußt zu sein und auf ihr nach eingeborenen Gesetzen sich aufzubauen, also keine untergeordnete Tätigkeit und Lebensäußerung zu tun, deren Wesen und Wirkung nicht zum Fundament in demselben klaren und sinnvollen Verhältnis stünde, wie in einem guten Bau das Gewölbe zur Mauer, das Dach zum Pfeiler.

Aber Künstler haben von jeher des zeitweiligen Müßigganges bedurft, teils um neu Erworbenes sich klären und unbewußt Arbeitendes reif werden zu lassen, teils um in absichtsloser Hingabe sich immer wieder dem Natürlichen zu nähern, wieder Kind zu werden, sich wieder als Freund und Bruder der Erde, der Pflanze, des Felsens und der Wolke zu fühlen. Einerlei ob einer Bilder oder Verse dichtet oder nur sich selber bauen, dichten und schaffend genießen will, für jeden sind immer wieder die unvermeidlichen Pausen da. Der Maler steht vor einer frisch grundierten Tafel, fühlt die nötige Sammlung und innere Wucht noch nicht gekommen, fängt an zu probieren, zu zweifeln, zu künsteln und wirft am Ende alles zornig oder traurig hin, fühlt sich unfähig und keiner stolzen Aufgabe gewachsen, verwünscht den Tag, da er Maler wurde, schließt die Werkstatt zu und beneidet jeden Straßenfeger, dem die Tage in bequemer Tätigkeit und Gewissensruhe hingehen. Der Dichter wird vor einem begonnenen Plane stutzig, vermißt das ursprünglich gefühlte Große darin, streicht Worte und Seiten durch, schreibt sie neu, wirft auch die neuen bald ins Feuer, sieht klar Geschautes plötzlich umrißlos in blassen Fernen schwanken, findet seine Leidenschaften und Gefühle plötzlich kleinlich, unecht, zufällig, läuft davon und beneidet gleicherweise den Straßenfeger. Und so weiter.

Manches Künstlerleben besteht zu einem Drittel, zur Hälfte aus solchen Zeiten. Nur ganz seltene Ausnahmemenschen vermögen in stetigem Flusse fast ohne Unterbrechung zu schaffen. So entstehen die scheinbar leeren Mußepausen, deren äußerer Anblick von jeher Verachtung oder Mitleid der Banausen geweckt hat. So wenig der Philister begreifen kann, welche immense, tausendfältige Arbeit eine einzige schöpferische Stunde umschließen kann, so wenig vermag er einzusehen, warum so ein verdrehter Künstler nicht einfach weiter malt, Pinselstriche nebeneinander setzt und seine Bilder in Ruhe vollendet, warum er vielmehr so oft unfähig ist, weiterzumachen, sich hinwirft und grübelt und für Tage oder Wochen die Bude schließt. Und der Künstler selbst wird jedesmal wieder von diesen Pausen überrascht und getäuscht, fällt jedesmal in dieselben Nöte und Selbstpeinigungen, bis er einsehen lernt, daß er den ihm eingeborenen Gesetzen gehorchen muß und daß es tröstlicherweise oft ebenso sehr Überfülle als Ermüdung ist, die ihn lahmlegt. Es ist etwas in ihm tätig, was er am liebsten heute noch in ein sichtbares, schönes Werk verwandelte, aber es will noch nicht, es ist noch nicht reif, es trägt seine einzig mögliche, schönste Lösung noch als Rätsel in sich. Also bleibt nichts übrig als warten.

Für diese Wartezeiten gäbe es ja hundert schöne Zeitvertreiber, vor allem die Weiterbildung im Kennenlernen von Werken bedeutender Vorgänger und Zeitgenossen. Aber wenn du eine ungelöste dramatische Aufgabe wie einen Pfahl im Fleische mit dir herumträgst, ist es zumeist eine mißliche Sache, Shakespeare zu lesen, und wenn das erste Mißlingen eines Bildentwurfes dich plagt und elend macht, wird Tizian dich vermutlich wenig trösten. Namentlich junge Leute, deren Ideal der »denkende Künstler« ist, meinen nun, die der Kunst entzogene Zeit am besten aufs Denken zu verwenden und verrennen sich ohne Ziel und Nutzen in Grübeleien, skeptische Betrachtungen und andere Grillenfängereien.

Andere, welche noch nicht dem auch unter Künstlern neuerdings erfolgreich werdenden heiligen Krieg wider den Alkohol beigetreten sind, finden den Weg zu Orten, wo man einen Guten schenkt. Diese haben meine volle Sympathie, denn der Wein als Ausgleicher, Tröster, Besänftiger und Träumespender ist ein viel vornehmerer und schönerer Gott, als seine vielen Feinde uns neuestens glauben machen möchten. Aber er ist nicht für jedermann. Ihn künstlerisch und weise zu lieben und zu genießen und seine schmeichlerische Sprache in ihrer ganzen Zartheit zu verstehen, dazu muß einer so gut wie zu anderen Künsten von Natur begabt sein, und auch dann noch bedarf er der Schulung und wird, wo er nicht einer guten Tradition folgt, es selten zu einiger Vollkommenheit bringen. Und wäre er auch ein Auserwählter, so wird er doch gerade in den unfruchtbaren Zeiten, von denen wir reden, selten die zum wahren Kult eines Gottes notwendigen Denare in der Tasche haben.

Wie findet sich nun der Künstler zwischen den beiden Gefahren – der unzeitigen, lustlosen Arbeit und der grüblerischen, entmutigenden Leere – mit heiler Haut und heiler Seele hindurch?

Geselligkeit, Sport, Reisen usw. sind alles Zeitvertreiber, die in solchen Lagen nicht dienen, zum Teil auch nur für Wohlhabende in Betracht kommen, und zu diesen zu zählen ist nie ein Künstlerehrgeiz gewesen. Auch die Schwesterkünste pflegen einander in bösen Zeiten meist im Stich zu lassen: der Dichter, der an einer ungelösten Aufgabe leidet, wird nur selten beim Maler oder der Maler beim Musiker seine Ruhe und Balance wiederfinden. Denn tief und völlig genießen kann der Künstler nur in den klaren, schöpferischen Zeiten, während jetzt in seinen Nöten alle Kunst ihm entweder schal und blaß oder aber erdrückend übermächtig erscheint. Den zeitweise Entmutigten und Hilflosen kann eine Stunde Beethoven ebenso leicht vollends umwerfen als heilen.

Hier ist der Punkt, an welchem ich eine durch solide Tradition befestigte und geläuterte Kunst des Faulenzens schmerzlich vermisse und wo mein sonst unbefleckt germanisches Gemüt mit Neid und Sehnsucht nach dem mütterlichen Asien hinüber äugt, wo eine uralte Übung es vermocht hat, in den scheinbar formlosen Zustand vegetativen Daseins und Nichtstuns einen gewissen gliedernden und adelnden Rhythmus zu bringen. Ich darf ohne Ruhmrednerei sagen, daß ich an die experimentierende Beschäftigung mit dem Problem dieser Kunst viel Zeit gewendet habe. Meine dabei gewonnenen Erfahrungen müssen einer späteren, besonderen Mitteilung aufbehalten bleiben – es genüge meine Versicherung, daß ich es annähernd gelernt habe, in kritischen Zeiten das Nichtstun mit Methode und großem Vergnügen zu pflegen. Damit jedoch etwaige Künstler unter den Lesern sich nicht, statt nun selber an die Arbeit des methodischen Faulenzens zu gehen, enttäuscht wie von einem Scharlatan abwenden, gebe ich noch in wenigen Sätzen einen Überblick über meine eigene erste Lehrlingszeit im Tempel dieser Kunst.

1. Ich holte eines Tages, von dunkler Ahnung getrieben, die vollständigsten deutschen Ausgaben von Tausendundeiner Nacht und den »Fahrten des Sajjid Batthal« von der Bibliothek, setzte mich dahinter – und fand, nach anfänglichem kurzem Vergnügen, etwa nach Tagesfrist, beide langweilig.

2. Den Ursachen dieses Mißerfolges nachdenkend, erkannte ich schließlich, daß jene Bücher durchaus nur liegend oder doch am Boden sitzend genossen werden dürfen. Der aufrechte abendländische Stuhl beraubt sie aller Wirkung. Nebenher ging mir dabei zum ersten Male ein Verständnis für die völlig veränderte Anschauung des Raumes und der Dinge auf, die man im Liegen oder Kauern gewinnt.

3. Bald entdeckte ich, daß die Wirkung der orientalischen Atmosphäre sich verdoppelte, wenn ich mir, statt selber zu lesen, vorlesen ließ (wobei es jedoch erforderlich ist, daß auch der Vorleser liege oder kauere).

4. Die nun endlich rationell betriebene Lektüre erzeugte bald ein resigniertes Zuschauergefühl, das mich befähigte, nach kurzer Zeit auch ohne Lektüre stundenlang in Ruhe zu verharren und meine Aufmerksamkeit mit scheinbar geringen Gegenständen zu beschäftigen (Gesetze des Mückenfluges, Rhythmik der Sonnenstäubchen, Melodik der Lichtwellen usw.). Daraus entsprang ein wachsendes Erstaunen über die Vielheit des Geschehens und ein beruhigendes, völliges Vergessen meiner selbst, womit die Basis eines heilsamen, niemals langweilenden far niente gewonnen war. Dies war der Anfang. Andere werden andere Wege wählen, um aus dem bewußten Leben in die für Künstler so notwendigen und schwer zu erreichenden Stunden des Selbstvergessens unterzutauchen. Sollte meine Anregung einen etwa vorhandenen abendländischen Meister des Müßigganges zur Rede und Mitteilung seines Systems verlocken, so wäre mein heißester Wunsch erfüllt.

Schönes Heute

Morgen – was wird morgen sein?

Trauer, Sorge, wenig Freude,

Schweres Haupt, vergoßner Wein –

Du sollst leben, schönes Heute!

Ob die Zeit im schnellen Flug

Wandelt ihren ewigen Reigen,

Dieses Bechers voller Zug

Ist unwandelbar mein eigen.

Meiner losen Jugend Brand

Lodert hoch in diesen Tagen.

Tod, da hast du meine Hand,

Willst du mich zu zwingen wagen?

Schlaflose Nächte

Du liegst in später Nacht zu Bett und kannst nicht schlafen. Die Straße ist still, in den Gärten rührt der Wind zuweilen die Bäume. Irgendwo schlägt ein Hund an; in einer fernen Straße fährt ein Wagen. Du hörst ihn genau, du erkennst am wiegenden Geräusch, daß es ein Wagen auf Federn ist, du folgst ihm in Gedanken, er biegt um eine Ecke, er fährt plötzlich schneller, und bald zerrinnt das eilige Rollen leis in die große Stille. Dann ein später Fußgänger. Er geht rasch, sein Tritt hallt sonderbar in der leeren Straße. Er bleibt stehen, schließt eine Tür auf, zieht sie hinter sich zu, und wieder ist große Stille. Wieder und noch einmal klingt ein kleines Stück Leben herein, immer seltener, immer schwächer, und dann kommen die Stunden, wo alles müde ist und jeder leiseste Wind und jedes feine Mörtelkorn, das hinter den Tapeten niederrinnt, laut hörbar und mächtig wird und dir die Sinne erregt. Und kein Schlaf. Nur die Müdigkeit zieht einen feinen Schleier über Augen und Gedanken, du hörst ein rastloses Blut im Ohre klingen, du hörst im schmerzenden Kopf das feine, fiebernde Leben, du spürst in aufliegenden Adern den gleichmäßigen und doch verwirrenden Takt der Pulse.

Es hilft dir nichts, dich hin und her zu werfen, aufzustehen und dich wieder zu legen. Es ist eine von den Stunden, in denen du dir selbst auf keine Weise entrinnen kannst. Gedanken und Bewegungen des Gemüts und der Erinnerung werden in dir Herr, und du hast keine Gesellschaft, sie wie sonst totzureden. Dem, der in der Fremde lebt, tritt Haus und Garten der Heimat und Kindheit vor das Auge, die Wälder, in denen er seine freiesten und unvergeßlichsten Knabentage verlebt hat, die Zimmer und Treppen, in denen seine Knabenspiele gelärmt haben. Die Bilder der Eltern fremd, ernst und gealtert, mit Liebe, Sorge und leisem Vorwurf im Blick. Er streckt die Hand aus und sucht vergebens eine entgegengebotene Rechte, eine große Traurigkeit und Vereinsamung kommt über ihn, darüber treten andere Gestalten hervor, und in der befangenen und ernsten Stimmung dieser Stunde machen sie uns fast alle traurig. Wer hat nicht in jungen Jahren seinen Nächsten schwere Tage gemacht, Liebe zurückgewiesen und Wohlwollen verachtet, wer hat nicht irgend ein Glück, was einmal für ihn bereit stand, in Trotz und Übermut versäumt, wer hat nicht fremde oder eigene Ehrfurcht einmal verletzt oder gegen Freunde durch ein törichtes Wort, durch ein ungehaltenes Versprechen, durch eine unschöne und wehtuende Gebärde sich vergangen? Jetzt stehen sie vor dir, reden kein Wort und sehen dich aus ruhigen Augen seltsam an, und du schämst dich vor ihnen und vor dir selber.

Es fällt dir ein, wie viele Nächte du im Bette sorglos schliefst zwischen Tagen voll von Bewegung, Lärm und Zerstreuung, und wie undenkbar lange her es ist, seit du so wie heute dich selber zum stummen, ungeschminkten Gesellschafter hattest. Du hattest drauflosgelebt, du hattest in dieser Zeit unendlich viel gesehen, geredet, gehört, gelacht, und nun ist das alles, als wäre es nicht gewesen, ist dir fremd und fällt von dir ab, während die blauen Himmel deiner Kinderzeit, die langvergessenen Bilder deiner Heimat und die Stimmen von lang Verstorbenen dir unheimlich nahe und gegenwärtig sind.

Der Schlaf ist eine der köstlichsten Gaben der Natur, ein Freund und Hort, ein Zauberer und leiser Tröster, und jeder tut mir in der Seele leid, der die Qual langdauernder Schlaflosigkeit kennt, der gelernt hat, sich mit halben Stunden eines fiebrigen Eindämmerns zu begnügen. Aber ich könnte einen Menschen nicht lieben, von dem ich wüßte, daß er in seinem Leben keine schlaflose Nacht gehabt hat, er müßte denn ein Naturkind von naivster Seele sein.

In unsrem raschen, betäubenden Leben gibt es erschreckend wenig Stunden, in denen die Seele ihrer bewußt werden kann, in denen das Leben der Sinne und das des Geistes zurücktritt und die Seele unverhüllt dem Spiegel der Erinnerung und des Gewissens gegenübersteht. Das geschieht vielleicht beim Erleben eines großen Schmerzes, vielleicht am Sarg einer Mutter, vielleicht auf einem Krankenbett, vielleicht auch am Ende einer längeren einsamen Reise in den ersten Stunden des Wiederdaseins, aber immer geschieht es unter Störungen und Trübungen. Hier liegt der Wert solcher wacher Nächte. In diesen allein vermag die Seele ohne gewaltsame äußere Erschütterungen zu ihrem Recht zu kommen, es sei zum Erstaunen oder zum Erschrecken, zum Richten oder zum Trauern. Das Gemütsleben, das wir tagsüber führen, ist nie so rein; die Sinne leben heftig mit, der Verstand drängt sich vor, indem er den Regungen des Gefühls die Stimme des Urteils, den feinen Reiz des Vergleichens und den feinen, zersetzenden des Witzes beimischt. Die Seele, halb schlummernd, läßt es geschehen und lebt in dieser Abhängigkeit und Unterdrückung Tage und Monate lang ein halbes Leben hin, bis ihre Stunde da ist, bis sie in einer bangen, schlaflosen Nacht die Fessel abstreift und uns mit der ganzen ungebrochenen Fülle ihres eigenwilligen Lebens überrascht oder entsetzt. Es ist uns heilsam, zuzeiten wahrzunehmen, daß unser Leben nicht nur Form ist, daß wir eine Macht in uns tragen, welche von allem Äußeren unverändert bleibt und unbestechlich ist, daß Stimmen in uns reden, über welche wir keine Herrschaft haben. Wer wahrhaftig ist und irgend eine Art von Glauben hat, der beugt sich diesen Stimmen gern und geht aus solchen Stunden mit vertieftem Blick hervor.

Ich möchte auch von der Schlaflosigkeit als Krankheit noch ein Wort sagen, obwohl es vielleicht überflüssig ist, denn die Schlaflosen alle wissen wohl, was ich sagen will. Doch lesen sie vielleicht gerne etwas ausgesprochen, was ihnen bekannt, aber sonst kein Gegenstand des Redens ist. Ich meine die innere Erziehung, welche das Nichtschlafenkönnen geben kann. Jedes Kranksein und Wartenmüssen ist ja ein nicht mißzuverstehender Lehrmeister. Doch ist die Schule aller nervösen Leiden besonders eindringlich. »Der muß viel gelitten haben«, sagt man von Menschen, die in Bewegung und Rede ein ungewöhnliches Maß von zurück