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Wolfgang W. Liebelt

ENNEAS - Enneagramm & Transformation

Die system- und prozesstheoretischen Grundlagen des Enneagramms


Für Georg I. Gurdjieff, dessen Leben, Lehre und Werk mich seit mehr als 20 Jahren faszinieren und inspirieren


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1 Meine Begegnung mit dem Enneagramm

Es war im Jahr 1995, als ich ein einwöchiges Projektmanagement-Seminar in Bad Godesberg (D) durchführte. Bei einem der abendlichen Spaziergänge entdeckte ich beim Stöbern in einer Buchhandlung das Enneagramm-Buch von Rohr und Ebert, damals eine der ersten deutschen Buchveröffentlichungen über das Enneagramm.

Schon das Anlesen des Buches im Laden faszinierte mich. So kaufte ich das Buch und musste mich gegen Mitternacht zwingen, das Buch zur Seite zu legen, hatte ich doch am nächsten Tag ein anstrengendes Seminar zu absolvieren.

War ich beim Kauf schon fasziniert, so steigerte sich dieses Gefühl noch, als ich beim Lesen auf meinen Typ stiess. Das war so unbezweifelbar richtig und treffend, was dort stand, dass ich wie elektrisiert war.

Warum ich mich so genau an Ort, Zeit und Umstände meiner ersten Begegnung mit dem Enneagramm erinnere und dies auch noch 2017 in diesem Buch beschreibe? Nun, es war eines dieser Schlüsselerlebnisse, durch die Lebensweichen gestellt werden.

Für mich war es der Anfang einer intensiven Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Enneagramm und - zunächst - seiner psychologischen Typenlehre.

Aber schon bei Rohr/Ebert und weiteren Büchern über die Typologie des Enneagramms fielen immer wieder Hinweise über seine geheimnisvolle Herkunft, Gurdjieff, den Vierten Weg und das Enneagramm als universelles Symbol. So kam ich durch Bücher u.a. von Klaus-Bernd Vollmar, Anthony Blake, P. Ouspensky und Bruno Martin immer mehr in Berührung mit der Lehre Gurdjieffs und seiner zentralen Ikone, dem Enneagramm.

Aufgrund meines Berufs als Organisator, der viel mit Modellbildung zu tun hat, verstand ich das Enneagramm schliesslich als ein systemisch-prozessuales (eben universales) Darstellungs-, Erklärungs- und Lern-Modell.

 

2 Systemische und prozessuale Grundlagen des Enneagramms

 

 

2.1 Überblick

"Allgemein gesprochen, muss man verstehen, dass das Enneagramm ein universales Symbol ist. Alles Wissen kann im Enneagramm zusammengefasst und mit Hilfe des Enneagramms gedeutet werden. Und so kann man sagen, dass man nur das weiss, beziehungsweise versteht, was man in das Enneagramm einfügen kann. Was man nicht in das Enneagramm einfügen kann, versteht man nicht.“

 

Dieses Zitat Gurdjieffs, überliefert von Ouspensky in seinem Buch „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“, bringt die Intention dieses und weiterer Essays rund um das Enneagramm sehr gut zum Ausdruck. Das Enneagramm hat zwar einen grossen Bekanntheitsgrad über seine Typologie der Persönlichkeiten erreicht; diese stellt aber nur eine der vielen Anwendungsgebiete des Enneagramms dar.

Ich habe mir die Aufgabe gestellt, die Logik bzw. die Grammatik des Enneagramms als systemisch-prozessuales Modell zu ergründen und anwendbar zu machen. Dabei gehe ich von einigen bereits gewonnenen Erkenntnissen aus, beschäftige ich mich doch seit mehr als 20 Jahren sehr intensiv mit dem Enneagramm.

Dennoch sehe ich in der Publikation des printBooks ENNEAS bzw. der als eBooks aus ENNEAS ausgekoppelten Kapitel nur den ersten Schritt, mit dem jede grosse Reise beginnt. Das Enneagramm ist eben nicht nur ein Symbol, in das man vorhandenes Wissen und vorhandene Erfahrungen hineinlegen kann - ich habe es auch als ein Modell erfahren, welches Lernprozesse fördert, so dass man durch seine Anwendung auf ein bestimmtes Sujet schliesslich mehr weiss als vorher.

Dieses Kapitel ist ein erster Überblick über die Anwendungsregeln des Enneagramms. Weitere vertiefende Betrachtungen folgen in den nächsten Kapiteln. Was Anwendungsbeispiele anbelangt, die das Eingangszitat und den darin geäusserten Anspruch belegen, sei auf das printBook und die ausgekoppelten eBooks verwiesen (siehe „4. Weitere Enneagramm-Bücher von Wolfgang W. Liebelt“).

Beginnen wir mit einigen grundlegenden Betrachtungen. Die darin eingestreuten Zitate stammen sämtlich aus Ouspenskys Buch „Auf der Suche nach dem Wunderbaren“.

2.1.1 Der Kreis

Das Symbol als Ganzes … ist ein Kreis - ein vollendeter Kreis. Es ist die Null unseres Dezimalsystems, deren Ziffernzeichen ein geschlossener Kreis ist.“

 

Eigentlich ist das Enneagramm ein Dekagramm, wenn der Punkt „Null“ mitgezählt wird. Der zehnte Punkt ist dann die „Neun“, wobei die „0“ von der „9“ im grafischen Modell überdeckt wird. Gleichwohl ist sie als Startpunkt des Gesamtprozesses vorhanden. Doch auch, wenn es eigentlich zehn Punkte sind, bleibe ich bei der von Gurdjieff gewählten traditionellen Bezeichnung.

Im Sefer Jezirah*, einem alten kabbalistischen Text, wird gefragt: „Was zählst Du vor der „1“?“

 

*Anmerkung: Die Datierung für das Sefer Jezirah ist sehr unsicher. Gershom Scholem geht von einer Entstehung im 2./3. Jhdt. n. Chr. aus. Es spricht aber vieles dafür, dass bereits im 1. Jhdt. n.Chr. mündliche Überlieferungen verschriftlicht wurden., vor allem wegen der Parallelen zur Philosophie des Philos von Alexandria (25 v.Chr-50 n.Chr.). So oder so ist fraglich, ob der/die Verfasser des Sefer Jezirah die Null bereits kannte(n), da sie erst 300 v.Chr. bis 600 n.Chr. in Indien in Verbindung mit einem dezimalen Stellenwertsystem und Zahlzeichen für 1 bis 9 entstand und von arabischen Gelehrten nach Europa gebracht wurde.

 

Die obige Anmerkung ist informativ, aber nicht entscheidend für die grundlegende Aussage, dass die „Null“ nicht zählt bzw. nicht gezählt wird.

Das ergibt sich auch aus der etymologischen Betrachtung. Unsere Bezeichnung „Null“ stammt aus dem Lateinischen: „nullus“ (= keiner, nicht) und in anderen Sprachen lautet die Übersetzung „nichts“, in Indien seit dem 5. Jhdt. „Leere“ (śūnya).

Die Null ist weder positiv noch negativ, sie ist sozusagen präexistent. So verhält es sich auch mit dem Enneagramm, dessen Kreis von Gurdjieff ja im obigen Zitat mit der Null gleichgesetzt wird.

Wird das Enneagramm nicht angewendet, befindet es sich in einem präexistenten Zustand in der „Leere“, ist reines Potenzial (siehe dazu auch: W. Liebelt, Leere und Form, BoD, 2016). Durch eine Willensäusserung bzw. Benennung eines Themas wird das Potenzial des Enneagramms aktiviert, und ein Kosmos wird geschaffen. Dazu mehr im nächsten Kapitel „Kosmos und System“.