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Mihaly Csikszentmihalyi
Philip Latter
Christine Weinkauff Duranso
LAUFEN IMFlow
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1. Auflage 2018
© 2018 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
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Übersetzung: Martina Walter
Redaktion: Gerdi Killer, bookwise GmbH, München
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, München
Umschlagabbildung: RyanJLane/iStockphoto
Grafiken: © Human Kinetics
Fotos im Innenteil: iStockphoto: Juanmonino: 149; kieferpix: 75; nd3000: 163; Neustockimages: 154; SWKrull-Imaging: 69, 121
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Layout: Katja Muggli, www.katjamuggli.de
Satz: Carsten Klein für bookwise GmbH
Druck: Florjancic Tisk d.o.o., Slowenien
Printed in the EU
ISBN Print 978-3-7423-0302-8
ISBN E-Book (PDF) 978-3-95971-789-2
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95971-788-5
Mihaly Csikszentmihalyi
Philip Latter
Christine Weinkauff Duranso
LAUFEN IM
Flow
Die Mentaltechnik für
ein perfektes Lauferlebnis
und maximale Leistung
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Inhalt

Vorwort
Teil 1 Die Essenz von Flow
KAPITEL 1 Laufen im Flow erleben
KAPITEL 2 Die neun Bausteine des Flow
KAPITEL 3 Die Flow-Persönlichkeit
KAPITEL 4 Warum Flow wichtig ist
Teil 2 Den Flow finden
KAPITEL 5 Vorbedingungen für Flow
KAPITEL 6 Flow im Alltagslauftraining
KAPITEL 7 Flow im Wettkampf
KAPITEL 8 Die Grenzen von Flow
KAPITEL 9 Flow über das Laufen hinaus
Glossar
Über die Autoren
Dank
Quellenangaben
Register
bodymatter

Vorwort

Erinnern Sie sich an Ihren liebsten Laufmoment. Einen Wettkampf, bei dem Sie einer schwierigen Herausforderung die Stirn zeigten – Ihr Geist und Ihr Körper waren so im Einklang, dass Sie mühelos Bestzeit laufen konnten. Oder einen Lauf durch eine Landschaft, die so beschaulich war, dass Ihr sonst so unruhiger Geist gar nicht anders konnte als abzuschalten und Sie den unverfälschten Genuss erlebten, einfach nur durch die Gegend zu laufen. Vielleicht spürten Sie das gleiche Engagement bei sich aber auch im Gespräch mit Freunden auf einem langen Lauf, bei dem zwei Stunden zu 20 Minuten wurden.
Diese Momente sind Flow-Momente und gehören meist zu den erfüllendsten und erinnerungswürdigsten Zeiten im Leben. Flow bezeichnet ein als optimal empfundenes Erleben, bei dem Geist und Körper im harmonischen Einklang funktionieren, während man sich auf eine spezifische Aufgabe konzentriert. Flow wird oft mit Peak Performances, Spitzenleistungen, assoziiert. Im Flow gibt es keine Ablenkungen, keine Termindeadlines, keine Partneransprüche und keine Erwartungen von außen. Es zählt einfach nur der Moment; der Glücksgenuss ergibt sich rein aus der Aktion.
Flow mag sich nach einem geheimnisvollen, vorübergehenden Erlebnis anhören. Tatsächlich handelt es sich dabei aber um ein gründlich erforschtes psychologisches Phänomen. Co-Autor Mihaly Csikszentmihalyi, dem wir hier fortan den Spitznamen »Dr. Mike« geben, identifizierte es bereits in den 1970er-Jahren. In den letzten 40 Jahren untersuchten Hunderte von Wissenschaftlern dieses Phänomen. Das gängige Fazit ihrer Arbeit: Menschen, die regelmäßig im Flow sind, führen ein glücklicheres, erfüllteres Leben.
Jeder Mensch kann zufällig Flow erleben. Solche Erfahrungen zu kultivieren und davon zu profitieren braucht allerdings Wissen und Übung. Läufer haben das Glück, dass ihr Sport ihnen zahlreiche Möglichkeiten für Flow-Erlebnisse bietet. Wettkampfathleten können sich Rennen als Ziele setzen, ihr Kompetenzniveau verbessern und von sich selbst immer fordern, besser als am Vortag zu sein. Doch auch Alltagsläufe bieten viele Challenges, was das Flow-Erlebnis selbst für Freizeitläufer zugänglich macht. Mit Zielen und Aufgaben wie noch weiter in den Wald hineinzulaufen als vorher, oder beim Joggen auf einem stark frequentierten Radweg im Moment zu bleiben, verschafft man sich selbst die beste Gelegenheit, Flow zu erleben.
Laufen im Flow möchte Ihnen das benötigte Wissen vermitteln, damit Sie Flow regelmäßig erleben können. Wenn Sie die grundlegenden Variablen von Flow verstehen, können Sie die Wahrscheinlichkeit für Flow-Erlebnisse steigern und ein glücklicheres, erfüllteres Leben führen. Flow-Erlebnisse gehen oft mit persönlichen Bestleistungen oder herausragenden Leistungen einher, was sie zu einem wunderbaren (und legalen) Leistungssteigerer macht.
Gleichwohl gibt es keine Zauberformel für das Herbeirufen von Flow. Sie können ihn nicht durch Abarbeiten eines Rezepts oder bestimmter Schritte heraufbeschwören Einige Bedingungen sind zwar Voraussetzung dafür, dass Flow eintritt, garantieren dies aber nicht. Körper und Geist so weit zu konditionieren, dass sich Flow einstellen kann, verlangt Zeit und Mühe. Das erklärt vielleicht, warum er kein kurzlebiger Trend ist. Seine Unvorhersehbarkeit erschwert es, ihn als schnelle Lösung anzubieten.
Sie können Flow zwar nicht herbeizaubern, aber fördern. Die Wissenschaft erforschte im letzten Jahrzehnt die Vorbedingungen, die zu Flow führen, wie auch das Flow-Erleben selbst und den Nutzen, der damit einhergeht. Funktionelle Kernspin- und computertomografische Technologien, kombiniert mit individuelleren Fragebogen- und Persönlichkeitsbeurteilungsmethoden, zeigen uns heute deutlicher, welche Personen Flow am häufigsten erleben, welche Rolle das Gehirn dabei spielt und wie Flow die Lebensqualität verbessern könnte.
All dies klingt hohl, wenn Flow abstrakt bleibt. Daher untersucht der erste Teil von Laufen im Flow das Flow-Erleben im Detail: Kapitel 1 beschreibt die Flow-Erfahrung einer Läuferin und zeigt an diesem Beispiel, warum sie so einzigartig und kraftvoll ist. Darauf aufbauend, definiert Kapitel 2 die neun Komponenten von Flow. Dazu gehört, dass die gestellte Herausforderung (Challenge) den eigenen Fertigkeiten entspricht (Challenge–Skills-Balance) bzw. dem Kompetenzniveau (Skill Level), dass man klare Ziele hat und dass man Laufen um des Laufens willen genießt und nicht, weil man sich Belohnungen von außen verspricht (autotelisches Erleben). Kapitel 3 untersucht, was uns für das Flow-Erleben prädisponiert und wie diese Momente durch Gehirnchemie und persönliche Charakterzüge beeinflusst werden. Abschließend untersucht Kapitel 4, warum Flow sowohl im Sport als auch im Privatleben von Bedeutung ist.
Teil II wendet diese Ideen und Konzepte spezifisch auf Läufer an. Aus gutem Grund ist Kapitel 5 das längste – es untersucht die Faktoren im Detail, die für das Auftreten von Flow nötig sind. Kapitel 6 überträgt dieses Wissen auf das Alltagslauftraining. Die hier gelebten Flow-Momente lassen Sie Ihr Lauftraining noch mehr genießen und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Sie auch Rennen im Flow laufen werden. Kapitel 7 ist dem Wettkampf gewidmet und zeigt, wie ein Flow-Erlebnis Sie dabei unterstützt, noch schneller zu laufen, obwohl Ihr Fokus sich immer mehr nach innen kehrt. Da er nie garantiert auftritt, widmet sich das vorletzte Kapitel den Grenzen von Flow und zeigt auf, wie Sie mit Versagen umgehen können. Kapitel 9 beleuchtet abschließend, wie Läufer ihr Flow-Erleben auf andere Aspekte ihres Lebens übertragen können.
Obwohl dieses Buch auf wissenschaftlichen Forschungsergebnissen basiert, ist Flow eine so kraftvolle, persönliche Erfahrung, dass wir eine Reihe von profilierten Läufern um ihre Erfahrungen baten, um von ihrem Flow-Erleben zu lernen. Diese Olympiateilnehmer und Alltagsläufer beleuchten das Thema aus neuen Perspektiven. So führt dieses Buch den Flow aus der Theorie hinaus in ein Umfeld, in dem Läufer aller Leistungsstufen ihn erleben können. Es liefert praktische Werkzeuge, einschließlich Abbildungen und Tabellen zur besseren Visualisierung, und Übungen für Geist und Körper, die helfen, in den Flow zu finden.
Das Ziel von Dr. Mikes 40-jähriger Forschungsarbeit zum Flow ist so einfach wie edel – sie soll Menschen helfen, ein glücklicheres, freudvolleres Leben zu führen. Dieses Buch, das den Flow in die Laufwelt weiterträgt, verfolgt das gleiche Ziel. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg auf Ihrer Mission.
TEIL I
Die Essenz von Flow
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KAPITEL 1

Laufen im Flow erleben

Am wichtigsten Tag ihres Lebens wachte Shelby Hyatt auf und konnte nicht mehr atmen. Die 16-jährige Studentin der Swain Highschool in Bryson City, North Carolina, tastete fieberhaft ihr Nachtkästchen nach ihrem Notfallinhalator ab – vergeblich, in der pechschwarzen Finsternis des Motelzimmers. Sie setzte sich im Bett auf und versuchte, Ruhe zu bewahren, doch setzte ihr die stickige Heizungsluft zu. Sie musste nach draußen, bevor es schlimmer wurde.
»Mein Brustkorb war so angespannt«, sagt sie. »Ich konnte einatmen, aber nicht tief. Ich hatte aber weniger Panik, als man denken würde, weil ich meine Teamkolleginnen nicht aufwecken wollte. Also versuchte ich, ruhig und gefasst zu bleiben.«
Draußen herrschte eine andere Welt. Starker Regen prasselte auf das Dach des Motels und setzte den Parkplatz unter Wasser. In Shelbys Heimatregion schneite es bereits, doch hier, in den Hügeln des amerikanischen Piedmonts, war es nur stürmisch und ungemütlich. Shelby drückte sich gegen die Hotelmauern und inhalierte die kalte, frische Luft. Langsam stabilisierte sich ihre Atmung. Es war 5:30 Uhr morgens.
Seit mehr als einem Jahr träumte Shelby von der landesweiten Crosslaufmeisterschaft dieses Tages und hatte darauf hintrainiert. Im Vorjahr, im ersten Semester, war sie als Elfte ins Ziel gekommen – und verpasste damit die Landesplatzierung um einen Platz. Im folgenden Jahr wurde Laufen ihre Leidenschaft; es definierte sie als Person. Diese Zuversicht übertrug sich auch auf andere Bereiche. Sie erhielt einen Ehrenplatz bei den Homecoming-Feierlichkeiten ihrer Highschool und begann mit einem beliebten Klassenkameraden auszugehen. Beflügelt durch diese positiven Ereignisse, schien sie genau auf der Spur zu sein, um ihren Traum vom Sieg im landesweiten Crosslauf zu verwirklichen.
Eine Lungenentzündung veränderte alles. Über sechs Wochen lang, mitten in der entscheidenden Trainingssaison, keuchte sich Shelby durch anstrengende und weniger anstrengende Läufe. Manche Tage waren okay, an anderen hielt sie nur mit Mühe die Tränen zurück. Als von Natur aus stille Person äußerte Shelby sich nur selten dazu, wie die körperlichen Symptome sie geistig belasteten. Als die harten Tage zusehends überhandnahmen, waren sie jedoch kaum noch zu übersehen. Ihre Teamkolleginnen und Trainer versuchten sie aufzumuntern, angesichts ihrer übergroßen Anstrengungen mit meist dürftigem Ergebnis. Ärzte verschrieben Antibiotika, Inhalatoren und Kortikosteroide, doch mit minimalem Erfolg. Als sie in jedem größeren Wettlauf schlechter abschnitt, wurde das ganze Training immer mehr zur Glaubensübung.
Während ihre drei Teamkolleginnen schliefen, saß Shelby vor der Zimmertür auf dem Boden und versuchte, sich nicht selbst zu bemitleiden. Obwohl sie nicht 100 Prozent fit war, hatte sie doch große Ziele für den Tag. Was, wenn es heute beim Laufen wieder passiert, dachte sie. Was, wenn ich nicht mein Bestes geben oder meinem Team nicht helfen kann?
Endlich beruhigte sich ihre Atmung, sie kehrte ins Zimmer zurück. Draußen regnete es weiter.
Beim Frühstück erzählte sie ihren Trainern von ihrer Atemnot, spielte sie dabei aber schon wieder herunter. Der Rest des Morgens verging wie im Flug, mit Teamcoaching und Wettkampfvorbereitungen. Als Shelby und ihr Team sich am Start einfanden, war sie ruhig und gefasst. Ihr Gesicht zeigte weder Angst noch Besorgnis. Das Warm-up war gut verlaufen, ihre Beine waren frisch. Am wichtigsten: Ihre Lunge konnte Luft aufnehmen. Ob die Panikatmungsepisode sie entspannt hatte oder nur die Ruhe vor dem Sturm gewesen war, konnte niemand wissen. Also hörte sie auf, darüber nachzudenken.
»Ich war wirklich zuversichtlich, so, als ob ich wüsste, dass es für mich nicht gut aussah, nach allem, was vorgefallen war. Doch es ging mir gut«, sagt sie. »Das half gegen den Druck. Ich wusste, dass von mir heute keine besonders gute Leistung erwartet wurde.«
Der Starter gab den einminütigen Countdown durch. Shelby stand neben ihren Kolleginnen an der aufgeweichten Startlinie und inspizierte die Pfützen und matschigen Grasinseln, die vor ihr lagen. Tief einatmen; tief ausatmen. Es hatte, unbemerkt von ihr, zu regnen aufgehört. Ihr Blick zeigte stählerne Entschlossenheit, sie war hoch konzentriert. Nichts sonst zählte.
Peng!
Im Chaos des Schlammstarts blieb Shelby gelassen. Die Anführer schoben sich durch den Matsch und kämpften gegen den Track und gegeneinander. Der Nordwind pfiff ihnen konstant mit 32 km/h entgegen. Shelby ging bei einigen ihrer Teamkolleginnen in Deckung, zuversichtlich, dass dies die beste Strategie war. Die ersten sieben Minuten vergingen in einer Schlammwolke, in der die Läufer um ihre Positionen rangelten. An der 1-Meilen-Marke (1,6 Kilometer) lag sie auf Platz 40. Sie wollte wegen ihrer Probleme mit mittlerem Einsatz starten und das Tempo dann, wenn möglich, kontinuierlich steigern. Ihre Atmung blieb gleichmäßig und störungsfrei.
»Angesichts dessen, wie gut ich mich nach der ersten Meile fühlte, dachte ich, okay, ich muss mich jetzt steigern«, sagt sie, »obwohl ich nicht sicher war, ob das gut oder schlecht ausgehen würde. Ich entschied nur, dass ich versuchen würde, mich so weit wie möglich zu steigern, und dann sehen würde, was passiert.«
Die nächste Meile bestätigte ihre Vermutung. Sie fühlte sich mit jedem Schritt besser. Ihre Zweifel bezüglich ihrer Atmung verschwanden immer mehr, und sie arbeitete sich im Feld weiter vor, erst auf Platz 20, dann auf Platz 15. Die 2-Meilen-Marke (3,2 Kilometer) passierte sie knapp hinter den ersten zehn. Als ihr klar wurde, dass ihr einjähriger Traum Erfolg haben würde, verdoppelte sie ihre Anstrengungen. Vor ihr lief ihre talentierte Teamkollegin Emma. Als Shelbys Lunge gegen die Entzündung kämpfte, hatte Emma die Führung im Team übernommen. Mit einem klaren Ziel vor Augen und ohne körperliche Hindernisse machte Shelby sich daran, ihre junge Teamkollegin einzuholen.
Die letzte Meile des Rennens spielte sich wie in einem Hollywoodfilm ab. Shelby arbeitete sich unter die ersten zehn vor, dann unter die Top acht. 800 Meter vor der Ziellinie holte sie Emma ein. Ihr Schwung katapultierte sie an ihrer Teamkollegin vorbei, während Trainer und Zuschauer sie anfeuerten. Sie lag auf dem sechsten Platz und arbeitete sich auf den fünften vor.
Das Mädchen mit Lungenentzündung – das so hart gearbeitet hatte – lief jetzt schneller als je zuvor in seinem Leben. Im Sprint und vor dem Hintergrund der Abendsonne erklomm Shelby einen kleinen Hügel. In immer noch höherem Tempo überholte sie eine letzte Gegnerin und setzte sich nur 200 Meter vor dem Finish auf Platz 4. Auf der letzten Geraden entglitt ihr ein kleines Lächeln, als ihr Fokus wieder weiter wurde und das Ausmaß des Geschehenen zu ihr durchdrang. Sie, die sich am gleichen Morgen noch ins Aus gezählt hatte, rannte den Lauf ihres Lebens und ging bei der Landesmeisterschaft als Vierte durchs Ziel. Damit hatte sie nicht nur ihr gestecktes Ziel erreicht, sondern trug auch ihr Team auf Platz 3, das beste je gelaufene Schulergebnis. Das Sahnehäubchen war dabei ein PR für sie, eine persönliche Bestleistung, bei Starkwind und durch Schlammpfützen.
»Das ergibt für mich zwar keinen Sinn, doch fühlte es sich leichter an [als alle anderen Rennen]«, erzählt Shelby. »Atmung, Körper, Beine – alles fühlte sich an, als ob ich ewig weitermachen könnte.« Nach dem Rennen, als die erschöpften Athleten und Athletinnen ihre Eltern und Trainer aufsuchten, wurde Shelby von ihrem Team getrennt. Als sie ihren Trainer schlussendlich fand, umarmten die beiden sich fest und lange, geschockt und überrascht gleichermaßen. Danach trat Shelby zurück und lächelte: »Ich glaube, heute war ich im Flow«, sagte sie.

Das Phänomen Flow

Shelby hatte recht. Sie hatte ein Flow-Erlebnis, ein Phänomen, das dafür bekannt ist, dass nur wenige Erfahrungen im Leben denkwürdiger sind. Ein großer Vorteil von Flow ist, dass dieser Bewusstseinszustand jedem Menschen zugänglich ist, der seinen Leidenschaften und Vorlieben nachgeht und entschlossen ist, seine Ziele zu erreichen.
Laufen ist einzigartig: Es bietet Gelegenheiten, Flow in verschiedensten Situationen relativ häufig zu erleben. Rennen geben Wettkampfathleten eine strukturierte, herausfordernde Umgebung, in der sie ihre Fertigkeiten testen können. Crossläufe bieten technische Herausforderungen und beschauliche, entspannende Szenerien. Laufen am Strand kann den Sporttreibenden in meditative Trance hüllen, wenn die Wellen leise auf das Ufer auslaufen. Selbst Straßenläufe können genussvoll sein und glücklich machen, wenn man sich ganz auf den Schrittrhythmus eingestellt hat und auf das herrliche Gefühl der Leichtigkeit, das der Lauf mit sich bringt.
Dieses Buch legt den Schwerpunkt zwar auf Läufer und deren Flow-Erleben, doch es kann sich immer einstellen, wenn Sie einer herausfordernden Aufgabe Ihre volle Aufmerksamkeit widmen. Forscher haben Flow-Erleben auch bei Schachspielern, Tänzern, Radfahrern, Gärtnern, Schwimmern, Basketballspielern, Autoren und Schauspielern festgestellt. Die Details variieren zwar je nach gelebter Leidenschaft, doch sind die Ursachen und die dabei erlebten Gefühle allgemeingültig.
Allgemein erleben Sie Flow, wenn Sie daran glauben, dass Sie über die Fertigkeiten zum Meistern einer Herausforderung verfügen. Ihr Zeitgefühl ist verzerrt, während sich Ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Aufgabe fokussiert. Dieser Fokus ist so scharf, dass alle nicht relevanten Gedanken sowie Bedenken verschwinden. Klare Ziele treiben Sie an; internes und externes Feedback bestätigen, dass das Ziel erreichbar ist. Sie fühlen sich unbesiegbar und sind gleichzeitig erhaben über das, was andere von Ihnen denken, da Ihr Ichbewusstsein in den Hintergrund tritt. Es zählt nur, den Moment zu meistern.
Flow gibt Kraft, motiviert und bietet vor allem einen Glücksgenuss. Flow-Erfahrungen sind sogar so genussvoll, dass Menschen dafür hohe Risiken eingehen, ohne Garantie auf materiellen Ertrag für ihr körperliches, emotionales oder ökonomisches Investment. Das kommt daher, dass Flow-Erfahrungen autotelisch sind – die Aktivität selbst ist die Belohnung. Ein Läufer im Flow läuft allein wegen des Laufens. Was jedoch nicht heißt, dass Flow-Erlebnisse nicht von außen gewürdigt werden: Viele der Weltklasseathleten in diesem Buch berichten über ihre Flow-Erfahrungen bei Rennen, auf die olympische Medaillen folgten oder Landesmeistertitel. Die gleichen Läufer werden aber auch die Ersten sein, die berichten, dass es das Flow-Erleben ist, nicht das Ergebnis, das in ihrer Erinnerung am lebendigsten ist.
Das überwältigende Glücks- und Wohlgefühl, das mit Flow-Erlebnissen einhergeht, hilft zu erklären, warum herausfordernde Unterfangen auch heute noch einen so hohen Stellenwert haben, obwohl Smartphones und Laptops es kaum noch nötig machen, vom Sofa aufzustehen. Co-Autor Mihaly Csikszentmihalyi (»Dr. Mike«!) erklärte bereits 1990 in seinem Bestseller Flow, dass sich dieses Glücks- und Wohlgefühl immer dann einstellt, wenn man sich aktiv seinen Leidenschaften widmet. »Entgegen dem landläufigen Glauben«, schrieb er, »sind solche Momente die besten unseres Lebens, nicht die passiv-rezeptiven, entspannenden … Die besten Momente sind für gewöhnlich diejenigen, in denen unser Körper oder Geist an seine Grenzen stößt, in einer freiwilligen Anstrengung, etwas Schwieriges und Lohnenswertes zu vollbringen« (S. 3). Das ist der Grund, warum für Läufer ein 16-Kilometer-Lauf am Morgen meist ein größerer Glücksgenuss ist als ein Frühstück im Bett.
Während das Flow-Erleben im Bewusstsein nachhallt, erhöht es das Verlangen, die Aufgabe oder Tätigkeit weiterzuverfolgen, die den Flow ausgelöst hat. Diese intrinsische Motivation steigert das Verlangen, die eigenen Fertigkeiten (Skills) zu perfektionieren, was wiederum das Vertrauen in sie erhöht. Je höher der Skill-Level, desto besser gelingen noch größere Herausforderungen (Challenges). Dies wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit von Flow – ein äußerst positiver Kreislauf.
»Der Flow ließ mich meiner Laufzukunft richtig begeistert entgegensehen«, sagt Shelby. »Er änderte meine Einstellung. Wegen meiner angeschlagenen Gesundheit durch die Lungenentzündung hatte ich eine gehörige Portion Selbstmitleid; nach dem Lauf war das ganz vorbei. Oft rufe ich mir diese Erinnerung daran zurück, bevor ich laufe, und sie hilft.«
Jeder Läufer verdient die Chance, eine optimale Erfahrung, wie sie Shelby erlebt hat, zu machen. Allerdings ist Flow ein wechselhaftes Phänomen, das nicht direkt auf Intentionen reagiert. Um die Wahrscheinlichkeit, dass Sie Flow regelmäßig erleben können, zu erhöhen, hilft es zu verstehen, wie sich das Phänomen zu seiner heutigen Form entwickelte.

Geschichte rund um Flow

Das Streben nach Glück ist nichts Neues. Welche Motivation und Sehnsüchte unsere Vorfahren in den Zeiten vor der Agrarrevolution bewegten, können wir zwar unmöglich genau wissen, doch lässt sich annehmen, dass Menschen immer auf die eine oder andere Weise nach Genuss strebten. Um dieses Wohlgefühl zu mehr als einem vorübergehenden Erleben anwachsen zu lassen und ein wirklich glückliches, erfülltes Leben zu führen, braucht man gewisse Fertigkeiten. Was das heißt, darüber macht sich die Philosophie bereits seit Jahrhunderten Gedanken. So glaubte Aristoteles, dass man das Glück um des Glücks willen anstreben sollte. Nietzsche hingegen postulierte, der sogenannte Übermensch solle mehr aus dem Leiden lernen. Das Streben nach Glück um seiner selbst willen sei »lächerlich und verachtenswert – das macht die Vernichtung [der Menschheit] wünschenswert« (von Tevenar 2007).
In unserer heutigen kommerzialisierten Gesellschaft ist es beinahe unmöglich, die Konzepte »Glück« und »Geld« zu trennen. Auf der einfachsten Ebene ist Geld nicht interessant: kleine Papier- oder Metallstücke, denen aufgrund einer nicht schriftlich festgemachten kulturellen Übereinkunft ein bestimmter Wert zugeschrieben ist. Was man damit erwerben kann (materielle Güter, Macht, Seelenfrieden) suggeriert uns, mit Geld könne man sich Glück kaufen – obwohl wir immer wieder die Floskel zitieren, dass dies gar nicht stimmt.
Harvard-Professor Daniel Gilbert veröffentlichte umfangreiche Forschungsarbeiten zu diesem Thema. Er kommt zu dem Schluss, dass Geld wichtig ist, solange der Mensch darum ringt, seine Grundbedürfnisse zu decken (Dunn, Gilbert & Wilson 2011). Wenn das gelungen ist, tragen Erlebnisse am meisten zum Glück bei, und insbesondere deren Qualität. Menschen, die ihre Erfahrungen als sinnstiftend empfinden und ihre Beziehungen dadurch verbessert sehen, berichten von einem größeren langfristigen Glücks- und Wohlgefühl. Offensichtlich ist Engagement ein wesentlicher Faktor.
Östliche Religionen wie der Buddhismus (insbesondere die Zen-Bewegung) beschäftigen sich schon seit Jahrtausenden mit dem Problem dauerhaften Glücks und Engagements. Sie sind mit Aristoteles der Meinung, dass es sich lohnt, Glück um seiner selbst willen anzustreben, doch gehen sie einen anderen Weg. Zen-Buddhisten legen den Fokus stark darauf, im gegenwärtigen Moment zu bleiben, was die westliche Gesellschaft oft als Achtsamkeit beschreibt. (Dieses heutige Achtsamkeitsbild ist allerdings die Kreation des amerikanischen Psychologen Jon Kabat-Zinn, ohne religiösen Bezug). Sehen Sie sich einige der berühmtesten buddhistischen Sprüche an (Allan 2014):
Vor der Erleuchtung: Holz hacken und Wasser tragen. Nach der Erleuchtung: Holz hacken und Wasser tragen.
Wenn du gehst, gehe. Wenn du sitzt, sitze. Aber was immer du tust, schwanke nicht hin und her!
Wenn du hungrig bist, iss deinen Reis. Wenn du müde bist, schließe die Augen. Dummköpfe mögen mich auslachen, aber Weise wissen, was ich meine.
Im »Jetzt« geerdet zu sein und dabei die Ereignisse des Lebens wertfrei zu betrachten, steht in dieser Philosophie an erster Stelle. Praktiken wie Meditation vertiefen dies, indem sie den Ausübenden lehren, Denkmuster zu identifizieren und zu kontrollieren, bis der Geist ruhig ist. Mentale Disziplin ist entscheidend; in der buddhistischen Philosophie erwächst wahres Glück aus dem Kultivieren positiver Denkmuster und dadurch, dass man sich nicht auf materielle Dinge als »Freudenbringer« verlässt (Gunaratana 2002).
In den USA versuchte in den 1950er-Jahren Abraham Maslow als Gründervater der Humanistischen Psychologie, viele dieser grundverschiedenen Ideen zu einer schlüssigen psychologischen Theorie zusammenzufassen. Anders als die meisten seiner Zeitgenossen untersuchte er gesunde Personen und wie sie ihr volles Potenzial erreichen könnten. Sobald sie ihre Grundbedürfnisse gedeckt sahen – körperliche Bedürfnisse, das Verlangen nach Sicherheit, Liebe und Selbstachtung –, konnten sie sich darauf konzentrieren, ihr wahres Potenzial zu erschließen, fand er heraus. Maslow nannte diese höchste Stufe »Selbstverwirklichung« (Maslow 1954).
»Selbstverwirklichte« Menschen akzeptieren im Allgemeinen sich und ihre Lebensumstände und machen sich mehr Gedanken um gesellschaftliche als um persönliche Probleme. Sie schätzen Privatsphäre und Autonomie, stehen den Meinungen anderer aber offen gegenüber. Vor allem schätzen sie das Leben und die Erfahrungen, die es bietet. Maslow war der Meinung, dass sich jeweils weniger als ein Prozent der Bevölkerung auf dieser Stufe befindet.
Ein mit Selbstverwirklichung verwandtes Phänomen ist die Gipfelerfahrung. Sie ist durch Stimulierung und Euphorie geprägt, kombiniert mit einem intensiven Gefühl des Verbundenseins mit der Welt um einen herum. Gipfelerfahrungen haben viel mit Flow gemeinsam, inklusive Fehlen von Ichbewusstsein, Gefühlen der Mühelosigkeit, eines kompletten Eintauchens im gegenwärtigen Moment und eines anderen Zeitgefühls. Anders als beim Flow bringen sie aber auch Energieschübe und werden von externen Ereignissen ausgelöst. Menschen sehen sich und die Welt danach meist mit positiveren Augen und versuchen aktiv, solche Momente wieder zu erleben. Nicht nur, dass Gipfelerfahrungen für Menschen kraftvolle Momente sind – Maslow war auch der Überzeugung, dass sie Ausdruck der Selbstverwirklichung sind (Maslow 1962).
Ihr Mangel an empirischen Beweisen war es, der der Humanistischen Psychologie den Ruin brachte; Theorien blieben oft nur Theorien. Die von ihr geschaffenen Ideen waren jedoch kraftvoll und führten zum heutigen Forschungsfeld der Positiven Psychologie, unter der Leitung von Dr. Mike. Als Professor an der University of Chicago in den frühen 1970er-Jahren erforschte er die Verhaltensmuster spielender Kinder. Damals galt die Lehrmeinung, dass Kinder spielten, um die Aktivitäten der Erwachsenen in einer Art von Nachahmungslernen zu imitieren, mit dem sie die nötigen Fertigkeiten für das Erwachsenenleben erwarben. Dr. Mike stellte fest, dass Kinder auch rein aus dem im Spielen verwurzelten Genuss spielen, selbst wenn sie daraus keinen Gewinn zogen (Csikszentmihalyi 2003).
Philosophisch entwickelte sich daraus die Flow-Idee, als Dr. Mike den roten Faden bei Erwachsenen suchte, die ebenfalls aktiv ihren Leidenschaften folgten, in denen sie voll aufgingen. Zunächst konzentrierte er sich dabei auf erfolgreiche Personen, wie hochbegabte Jugendliche, Profimusiker, Nobelpreisträger aus Wissenschaft und Forschung sowie Spitzenathleten. Psychologen, die sich ihm anschlossen, erforschten Menschen im Alltag. Nach jahrelangen Beobachtungen, Interviews und Experimenten definierte Dr. Mike, dass es immer dann zu einem Flow-Erleben kam, wenn Menschen sich einer spezifischen Herausforderung gewachsen sahen (Csikszentmihalyi 1975; 1988). Diese Arbeit führt er seither an der Claremont Graduate University in Southern California weiter, wo er das Quality of Life Research Center begründete.
Seit den 1970er-Jahren führten Wissenschaftler zahlreiche Studien mit Tausenden von Probanden durch, um das Phänomen Flow besser zu verstehen. Eigenberichte erhellten die Ähnlichkeiten und Abweichungen bei individuellen Flow-Erlebnissen. Studien beleuchteten mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRI) sogar die neuralen Übereinstimmungen beim Flow, um die Gehirnbereiche zu identifizieren, die bei spezifischen, Flow-induzierenden Tätigkeiten aktiv oder nicht aktiv waren. Die vielfach zitierte Abwesenheit von Zeitgefühl, Ichbewusstsein und Wahrnehmung anderer Personen beim Flow-Erleben scheint mit einer veränderten Gehirnaktivität zusammenzuhängen, vor allem der Deaktivierung des medialen präfrontalen Kortex und der Amygdala. Viele berichten im Flow von gesteigerten positiven und ausgeblendeten negativen Gefühlen, was man ebenfalls der gesunkenen neuralen Aktivität in der Amygdala zuschreibt. Untersucht wurde dies an Videospielern und Probanden, die an technisch-mathematischen Problemstellungen in steigenden Schwierigkeitsgraden arbeiteten, die das Eintreten von Flow anregen (Dietrich 2004; 2011).
Als Läufer können Sie die Deaktivierung im präfrontalen Kortex begrüßen: Sie ermöglicht es, dass Sie im Laufen voll und ganz aufgehen. Im Flow fühlen Sie intensivere positive und weniger negative Emotionen (wie Frustration) und können die Stressfaktoren des Alltags vergessen. Während Sie ganz in Ihr Erleben versinken, gelingt es Ihnen, die Menschen um sich herum komplett auszublenden. Vermutlich hilft der Flow dem Gehirn auch bei der unbewussten Problemlösung. Wenn Sie je eine Schreibblockade erlebten oder eine andere Art mentaler Pattsituation, kennen Sie vielleicht die Freude, die eintritt, wenn Sie diese Schranke nach einem tollen Lauf durchbrechen konnten. Auch dies ist ein Ergebnis von Flow: Ein Problem kann im Unterbewusstsein brüten, während das Abgelenkt-Sein durch andere mentale oder körperliche Prozessen Raum für neue Lösungen schafft. Wie alle wissenschaftlichen Entdeckungen ist auch das Verständnis von Flow noch unvollständig und entwickelt sich ständig weiter. So sind die fMRI-Tests zwar interessant, aber in ihrer Reichweite limitiert, da sie für Tätigkeiten spezifisch sind, die körperlich nicht herausfordernd sind. Es wäre interessant zu erfahren, was im Gehirn passiert, wenn ein Läufer im Flow ist (d.h., welche Bereiche aktiv oder nicht aktiv sind), und ob dies von den Testergebnissen mit Schachspielern oder Videospielern abweicht. Solche Forschungen sind in naher Zukunft eher unwahrscheinlich, da fMRI-Geräte es erfordern, dass die Probanden darin sehr still liegen.
Runner’s High und Flow
Wenn es kommt, ist es nur gut. Es kommt am Ende eines langen Laufs, einer Strecke in hohem Tempo oder vielleicht sogar im Intervalltraining. Ihr Geist ist voll euphorisch gestimmt, die Trainingsanstrengung verfliegt. Ihre Gedanken sind auf einmal etwas klarer und tiefer gehend. Sie haben das Gefühl, dass Ihre jetzt schmerzfreien Beine Sie ewig weitertragen, als ob dies genau das wäre, für das Sie geschaffen wurden. Selbst wenn Sie schlussendlich aufhören, klingt das gute Gefühl nach, manchmal stundenlang. Gibt es etwas Besseres als ein Runner’s High?
Neueste Forschungen finden diesen Ausdruck angemessen. Die beiden hauptsächlich dafür verantwortlichen chemischen Substanzen sind Endorphine (Morphium-ähnliche Opioide, die das zentrale Nervensystem produziert) und Endacannabinoide (die Körperversion von THC, dem berauschenden chemischen Stoff in Marihuana). Anders als entsprechende synthetisch hergestellte Substanzen werden diese Wirkstoffe mit einem positiven mentalen Effekt in Verbindung gebracht; sie machen nicht körperlich abhängig (Fetters 2014).
Endorphine sind natürliche Schmerzmittel. Es ist also sinnvoll, dass spezialisierte Regionen im Körper wie der präfrontale Kortex sie in das Blut ausschütten, um den durch Langstreckenläufe erlebten Schock mit zu lindern. Endorphine docken an Opioidrezeptoren an, um gegen Schmerzgefühle zu helfen. Wie alle Opioide erhöhen Endorphine auch das Wohlgefühl und reduzieren Stressauswirkungen auf den Körper.
Es gibt die verschiedensten Theorien über die Endocannabinoidproduktion beim Laufen. Die beliebteste beschreibt sie als evolutionäres Nebenprodukt unserer »Jäger-und-Sammler«-Tage: Der Mensch brauchte den Antrieb, bei der Jagd zusätzliche Kalorien zu verbrennen und Verletzungen zu riskieren (Gleiser 2016). Andere Tiere wie Hunde, die auf der Nahrungssuche weit laufen, zeigen ähnliche Reaktionen, wie sie sich nach Langstreckenläufen einstellen. Diese treten allerdings nur als Folge stärkerer aerober Belastung ein; Spazierengehen etwa produziert keine Endocannabinoide.
Runner’s Highs sind nicht immer gleich: Der Körper schüttet dieses Wohlgefühl je nach Belastung des Trainingstags und in Reaktion auf verschiedenste weitere physiologische Faktoren aus. Manche Läufe entführen in Höhenflüge, andere fühlen sich wie ein Gewaltmarsch an, dessen Ende man herbeisehnt. Dazu kommt, dass ein Runner’s High kein Flow ist. Sicherlich sind die chemischen Vorgänge im Gehirn bei beiden ähnlich, doch ist ein Flow stärker von psychosozialen Faktoren abhängig und hängt direkt damit zusammen, dass man die Aufmerksamkeit über längere Zeit auf ein spezifisches Ziel richtet. Ein Runner’s High ist eine chemische Reaktion mit weniger ausgeprägtem Übertrag, das keinen Einsatz erfordert.
Dennoch ist ein Runner’s High wichtig. Flow ist ein oft schwer erreichbares Erleben, auf das man oft Monate, wenn nicht Jahre hintrainieren muss. Für ein Runner’s High müssen Sie nur vor die Tür und sich anstrengen. Dafür werden Sie vermutlich belohnt. Und wenn Sie Ihren Runner’s Highs lange genug nachjagen, werden Sie vielleicht mit dem ultimativen Flow belohnt, wenn es darauf ankommt.
Vorerst wird die Gehirnaktivität beim Laufen im Flow noch ein Geheimnis bleiben. Vielleicht lässt sich jedoch mit fortschreitender Technik bald ein Stirnband oder eine Mütze so weit umrüsten, dass es die Gehirnwellenfluktuationen beim Laufen messen kann.
Ähnlich wie die Herzfrequenzmessung und GPS die Lauferfahrung vieler Menschen verändert haben, wird auch die nahe Zukunft verbesserte Technologien bringen, die Gehirnreaktionen beim Laufen und im Flow aufzeichnen, sodass sie verstanden werden können.
Auch die Kontexte, in denen Flow auftreten kann, werden wissenschaftlich untersucht, wie Flow im Klassenzimmer, beim Tanzen und in Gruppen oder Teams (Group Flow). Wie sich gezeigt hat, kann jede Teamsportart mit rhythmischen Aktionen zum Flow innerhalb der Gruppe führen (Jackson & Csikszentmihalyi 1999). Wenn Sie je bei einem Basketball- oder Fußballspiel beobachteten, wie ein ganzes Team scheinbar komplett aufeinander abgestimmt agierte, waren Sie wahrscheinlich Zeuge eines Group Flows.
Shelbys Teamkolleginnen würden dem sicherlich zustimmen. Als Shelby und Emma vorn führten, übermittelten Trainer und Fans dies an das restliche Team. Tatsächlich machten die besten sechs Läuferinnen das ganze Rennen hindurch weiter Tempo, sichtlich inspiriert von dem positiven Momentum an der Spitze. An einem Tag, an dem die Bahnverhältnisse das Tempo im Schnitt um eine Minute verlangsamten, liefen drei von ihnen persönliche Bestzeiten; die Team-Durchschnittszeit wurde zur Saisonbestzeit.
Diese Läuferinnen neigten bereits zum Flow-Erleben, da sie die bewusste Entscheidung getroffen hatten, das Team über sich selbst zu stellen, in der Hoffnung, einen Gruppensieg zu erzielen. Die Wahl zu haben ist wichtig, und dieser Punkt unterstreicht auch andere Untersuchungen zum Flow und die Rolle der Persönlichkeit. Menschen mit autotelischer Persönlichkeit haben weitaus eher häufige Flow-Erlebnisse und können diesen Zustand leichter erreichen als Menschen ohne autotelische Persönlichkeit. Später im Buch werden wir dieses Thema weiter vertiefen.
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Die Forschung über das Flow-Erleben wächst kontinuierlich. Auch hier gilt: Man erkennt, wie wenig man eigentlich weiß, je mehr man erfährt. Als Läufer können Sie von den derzeit erhältlichen Informationen profitieren, indem Sie damit Wege finden, die sie Ihr eigenes Flow-Erleben so oft wie möglich genießen lassen – im Bewusstsein, dass die nächste Forschungswelle Gipfelerlebnisse besser zugänglich macht als je zuvor.

Flow und Engagement

Jeder Mensch mag andere Dinge. Manche interessieren sich für körperliche Aktivitäten wie Laufen, Bergsteigen oder Gärtnern, andere für sitzende Tätigkeiten wie Malen oder Musikhören; wieder andere ziehen intellektuelle Beschäftigungen wie Schreiben oder Lesen vor. Die meisten würden sagen, dass sie an einer Kombination dieser Bereiche Freude haben. Dr. Mike entdeckte, dass Menschen, die eine Leidenschaft für ihre Aktivitäten, Freizeitvergnügen usw. entwickeln, sich eher Ziele setzen, sich aktiv damit beschäftigen und darin aufgehen. Sie finden so größere Befriedigung darin und im Leben, als wenn sie passiven Beschäftigungen nachgingen.
Diese Schlussfolgerung unterstreicht eine scheinbar unlogische Idee: Die meisten Menschen denken zwar, dass sie glücklicher sind, wenn sie sich entspannen oder ausruhen, berichten aber tendenziell, dass sie am glücklichsten sind, wenn sie in einer Aktivität versunken sind oder sich völlig engagiert einer Herausforderung widmen. Alle Personen, die Dr. Mike befragte, berichteten, dass sie ein Flow-Erlebnis hatten, wenn sie komplett in ihrer momentanen Aufgabe versunken waren. Diese Erfahrung ließ sie immer wieder dahin zurückkehren. Viele erzählten, dass sie ihre größten Erfolge in Momenten totaler Versunkenheit und Konzentration erzielten. Währenddessen nahmen sie nichts anderes um sich herum wahr, auch nicht, wie die Zeit verging. Ein Wissenschaftler erzählte, wie er in einer Formel abtauchte, ein Kletterer erinnerte sich, dass er ohne Gefühl für die Zeit nur mit dem Bau seines Standplatzes beschäftigt war, und Musiker fühlten sich am Klavier komplett eins mit ihren Kompositionen. In späteren Studien berichten professionelle Schwimmer und Läufer, dass sich ihre Körper so stark wie nie anfühlten und auf die Wettkampfanforderungen wie nie zuvor reagierten. Dies sind Beispiele für die Essenz von Flow – ein zeitlimitiertes Highlight, in dem Körper und Geist sich komplett in einer Tätigkeit engagieren und nichts anderes zu zählen scheint.
Warum erscheint es so ungewöhnlich, dass wir Befriedigung darin finden, eine Herausforderung zu meistern? Unsere Kultur konditioniert uns darauf, unsere Arbeit (Job, Karriere, Beruf) als etwas anzusehen, zu dem wir gezwungen sind. Überlegen Sie, wie oft Sie sagen: »Ich muss jetzt arbeiten.« Wie oft sagen Sie »Ich darf jetzt arbeiten«? Sie sehen, dass es kontraintuitiv ist zu glauben, dass wir am glücklichsten sind, wenn uns ein Projekt oder eine Deadline herausfordert.
Chris Solinsky
Früherer amerikanischer Rekordläufer und erster nicht in Afrika geborener Athlet mit unter 27:00 Minuten über 10 000 Meter
Flow-Moment: Stanford Invitational 10 000 Meter, 2010
In der märchenhaften Nacherzählung einer der großartigsten Läufe auf US-amerikanischem Boden wird Chris Solinsky als der Außenseiterheld gefeiert, der Klischees wie ehemals unerreichbare Rekorde durchbrach. Der hochgewachsene, muskulöse Neuling zieht ein mörderisches Tempo und einen dramatischen Vorstoß durch und wird in einem epischen Rennen der erste nicht in Afrika geborene Athlet, der die 10 000 Meter in 26:59:60 läuft, unter 27 Minuten. Diese Nacherzählung übergeht allerdings einige der feineren Nuancen von Solinskys Wettkampferleben.
Vor dem Stanford Invitational 10 000-Meter-Lauf 2010 waren alle Augen auf den Amerikaner Galen Rupp gerichtet (der kurz danach olympisches Silber holte). Der Wettkampf diente als Showcase für das Langstreckenausnahmetalent Rupp unter Coach Alberto Salazar, auf dem er den amerikanischen Weltrekord von 27:13 unterbieten sollte. Sein Sponsor hatte dafür extra Banner und Werbetafeln produzieren lassen.
Bis Solinsky die Bühne betrat. Als Nationalklassenläufer über 5000 Meter war er für seine Körpergröße und seinen muskulösen Körperbau bekannt, aber auch für seine entschlossene Kopf-durchdie-Wand-Wettkampfmentalität. Dadurch, und durch seine Unerfahrenheit, musste man nicht mit ihm zählen. Aber Solinsky war fit, zuversichtlich und neugierig.
»Es hieß, Galen Rupp hätte es auf den US-Rekord abgesehen«, sagt Solinsky. »Da dies mein erstes 10-Kilometer-Rennen war, war ich natürlich unsicher, ob ich fit genug war. Allerdings war ich schon oft gegen Rupp gelaufen und hatte ihn (auf kürzeren Distanzen) meist geschlagen. Das half. Wenn er so schnell rennen kann, kann ich das erst recht, dachte ich. Mein Training war positiv verlaufen, und ich wusste, dass ich in der Form meines Lebens war.«
Während der ersten Runden schaffte es Solinsky in die Führungsgruppe hinter die Pacer und konnte dort, in seinen Worten, »fast einschlafen«. Er entspannte sich und lief auf Autopilot. Er ließ seine Zehntausende angehäufter Trainingsmeilen ihre Arbeit machen und sich von ihnen in einem unglaublichen Tempo nach vorn tragen. Den Fans in Stanford und allen Zuschauern vor den Fernsehbildschirmen erschien dies mühelos, doch auf der halben Strecke kämpfte Solinsky mit Seitenstechen. Durch die Ablenkung und den Schmerz entglitt ihm seine Pace, aber nur kurz. Als das Seitenstechen nachließ, war er wie nie zuvor in den Lauf eingetaucht. Er kam in den Flow.
»Ich konnte auf jede Tempowelle reagieren und jede Lücke nutzen, weil ich darauf fokussiert war, alles zu tun, um Rupp zu schlagen«, sagt Solinsky. Die Läufer fielen langsam in negative Splits, was ich für gewöhnlich gehört hätte und was mich vielleicht eingeschüchtert und so verlangsamt hätte. Aber in diesem Flow-Stadium verschwendete ich keinen Gedanken daran.«
Eine Meile (1,6 Kilometer) vor dem Finish wusste Solinsky, dass ihm der Sieg gehörte. Obwohl immer noch eine Gruppe von vier Läufern, inklusive Rupp, zusammengeblieben war, fühlte sich Solinsky rastlos, als ob seine Beine noch mehr Laufenergie übrig hätten. Er flog durch den Kurs und machte endlich, nur noch zwei Runden vor dem Ziel, seinen entscheidenden Move nach vorn. Rupps US-Rekord-Banner mussten warten. Dieser Abend gehörte Solinsky.
Bei 26:02 hörte er die Glocke. Keine Frage, dass er den US-Rekord über 27:13 brechen würde, aber nun betrat er heiligen Boden. Konnte er auf der letzten Runde so durchstarten, dass er nicht nur den Rekord brach, sondern auch als erster nicht afrikanischer Läufer unter die berühmten 27 Minuten kam – eine weitaus schwierigere Zeit als Hürden wie etwa die 4-Minuten-Meile?
Eine halbe Runde vor Schluss zeigte die Uhr 26:32. In Sekunden überschlug Solinsky, dass er im Begriff war, Geschichte zu schreiben. Die nächsten 27 Sekunden zwang er sich nach vorn. Nichts anderes zählte mehr, während alle im Stadion bereits jubelten. Als er über die Ziellinie schoss, konnte Solinsky es fast nicht glauben: Seit Jahren hatte er die Nationalteams um Haaresbreite verpasst und sich gefragt, ob er es je an die Spitze schaffen würde. Heute, beim ersten Versuch über eine neue Distanz, war er der beste Amerikaner aller Zeiten geworden. Die Uhr zeigte 26:59:60. Die letzten 800 Meter lief er in 01:56, was an sich exzellent war, und erst recht nach 23 Runden. Er hatte es geschafft, weil er sich auf ein Ziel eingeschossen und alle Ablenkungen beiseitegeschoben hatte.
»Ein weiterer Beweis für meinen Flow war die Softball-große Blase an meinem Fuß, als ich die Spikes auszog und in Turnschuhe wechselte«, meint Solinsky. »Bis dahin hatte ich sie nicht einmal bemerkt.«
Vielerorts verblasst Solinskys Name bereits. Eine Oberschenkelverletzung 2011 und die darauf folgenden Operationen bremsten ihn über Monate ein. Er erholte sich nie richtig und beendete 2016 seine aktive Laufbahn. Dem Sport blieb er treu, als leitender Langstrecken-Coach am College of William and Mary in Williamsburg, Virginia. Seine 10 000 Meter werden berühmt bleiben: Als leuchtendes Beispiel für den ultimativen Flow-Moment, der einen guten Läufer seine Großartigkeit entdecken ließ und den amerikanischen Langstreckenlauf neu definierte.
Die meisten verantwortungsbewussten Erwachsenen müssen arbeiten, um sich zu versorgen, aber wie sie das tun, ist ihre eigene Wahl. Mit dieser Wahl – damit, dass Sie eine Tätigkeit finden, die Ihren Stärken entspricht und für Sie sinnstiftend ist – können Sie in den Flow und damit Erfüllung finden. Selbst wenn Sie nur Hilfsdienste verrichten, können Sie Erfüllung finden, indem Sie Ihre Talente oder Stärken einbringen und Ihre Rolle im Unternehmen für sich neu definieren.
Das will nicht heißen, dass Arbeit nicht erschöpfen kann. Nach einem anstrengenden Tag im Büro klingt es verführerisch, in süßem Nichtstun stundenlang auf den Bildschirm zu schauen. Fernsehen bringt allerdings wenig Befriedigung (Csikszentmihalyi 1990). Selbst wenn Sie eine interessante Sendung erwischen, dauert es nicht lange, bevor Sie sich langweilen und eine interaktivere Tätigkeit wünschen. Ausnahmen bilden vielleicht Game-Shows, Krimis oder Sportereignisse, bei denen Sie sich vom Fernsehsessel aus engagieren können. Der Unterschied bei diesen Ausnahmen ist die aktive Rolle, die Sie dabei einnehmen.
Ihre Wahl ist es, sich Freizeitaktivitäten zu suchen, die Ihre Stärken fordern und für Sie sinnstiftend sind. Sie können Ihre freie Zeit zum Nichtstun nützen, oder sich klüger für eine zielorientierte Tätigkeit entscheiden, die es Ihnen ermöglicht, sich persönlich weiterzuentwickeln. Da Sie dieses Buch lesen, wird vermutlich Laufen diese Leidenschaft sein. Ihr Glück: Wenige Sportarten bieten mehr Wege dafür, sich persönlich weiterzuentwickeln und das Flow-Erleben zu genießen, als Laufen.
An Tagen, an denen Sie sich nicht in Bestform fühlen oder keine gute Leistung bringen, kann die Aussicht auf den nächsten Flow Sie weiter motivieren, mit der Hoffnung, dass sich Ihre Verfassung verbessert, wenn Sie einfach durchhalten. Diese Hoffnung kann Wirklichkeit werden.
Als Shelby ihre Besorgnis erkannte und ihre Ansprüche änderte, fand sie den Weg zum Flow. Sie akzeptierte, dass sie nichts anderes tun konnte, als ihr Bestes zu geben, und machte sich dank dieser Erkenntnis frei für ein neues Ziel – einen langsamen Start und dafür, nach jeder Meile erneut Atmung und Tempo zu evaluieren. Genau das brauchten ihr Körper und ihr Geist. Der stufenweise Erfolg der ersten Meile und dann der zweiten gab ihr das Zutrauen, die Anforderungen zu steigern, und ihr Körper reagierte positiv.
Aus diesem Grund ist Shelbys Geschichte wichtig: Auf dem Siegerpodest, mit Tränen in den Augen, hatte sie eine schwere Herausforderung gemeistert und dabei innere wie äußere Hindernisse überwunden. Sie ging daraus als andere Person hervor. Es mag etwas überraschen, dass sie mit Emma sieben Monate später schon wieder auf dem Siegerpodest stand, dieses Mal aber, um als Mitglied einer vierköpfigen 800-Meter-Staffel Gold in Empfang zu nehmen. Die Befriedigung und das persönliche Wachstum in solchen Momenten sind der Grund dafür, dass Läufer täglich erneut an den Start gehen.