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Paul Schurr

Waitomo

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© 2017 Paul Schurr

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN  
Paperback: 978-3-7439-7253-7
Hardcover: 978-3-7439-7254-4
e-Book: 978-3-7439-7255-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Der Autor:

Paul Schurr, Jahrgang 1965, arbeitet seit seinem Kunststudium als freischaffender Künstler und Reiseverkehrskaufmann. Bereits seit seinem 15. Lebensjahr schreibt er Gedichte und Texte. Vor allem in den 80er und 90er Jahren bereiste er die Welt und sammelte dabei unschätzbare Erfahrungen für sein Werden.

„Waitomo“ ist Paul Schurrs erster Roman aus dem Jahr 1998, den Rahmen der Erzählung bildet eine dieser Reisen – vermutlich war es die bedeutendste von allen, die er je unternahm.

Photo auf der Umschlagseite: Steine am Lake Te Anau (Paul Schurr, März 1991)

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HEIMWEH

In Te Anau, Neuseeland,

War ich am Strand und

Machte Photos von den Steinen.

Draußen, das Wasser, ein Land,

Kein Tun, kein Bruderzwist.

Es waren nur die Steine.

Ein Muster von Lebendigkeit

Vereinte sie zu dem,

Was wirklich wichtig ist,

Und niemand meinte: Nein!

Waitomo – Inhaltsverzeichnis

Vorwort 1998

Vorwort 2017

01. Kapitel: Aus den Gedankensammlungen

02. Kapitel: Das aller erste Mal

03. Kapitel: Ankunft in Neuseeland

04. Kapitel: Hit the road Jack

05. Kapitel: Der Whirl Pool

06. Kapitel: Aus den Gedankensammlungen

07. Kapitel: Mit Viktor in San Francisco

08. Kapitel: Taupo

09. Kapitel: Larry Wilson aus Memphis, Tennessee

10. Kapitel: Das „White Elephant“ in Motueka

11. Kapitel: Begrüßung der Regenwälder

12. Kapitel: „Coastal Track“, erster Tag

13. Kapitel: Über die Kraft des Schönen

14. Kapitel: „Coastal Track, zweiter und dritter Tag

15. Kapitel: Pfannkuchenfelsen

16. Kapitel: Anmerkungen zur Schönheit

17. Kapitel: Selbstlose Freunde und eigenwillige Freunde

18. Kapitel: Der „König der Landstraße“ dankt ab

19. Kapitel: Die Welt ist mir ein großes Haus

20. Kapitel: Abschied von den Wäldern

21. Kapitel: Aus den Gedankensammlungen

22. Kapitel: Nachbetrachtungen

23. Kapitel: Von runden Steinen und kostenlosen Sexshows

24. Kapitel: Eine neuseeländische Safari

25. Kapitel: Hauptsache, man hat alles gesehen …

26. Kapitel: Ruhetag in Christchurch

27. Kapitel: Whalewatching

28. Kapitel: Ars vivendi

29. Kapitel: Dramen rund um eine Abstellkammer

30. Kapitel: In der Jugendherberge von New Plymouth

31. Kapitel: Besteigung des Taranaki

32. Kapitel: Waitomo, erster Tag

33. Kapitel: Die Tage nach Neuseeland

34. Kapitel: Waitomo, zweiter Tag, am Morgen

35 Kapitel: Aus den Gedankensammlungen zum Harmonismus

36. Kapitel: Waitomo, zweiter Tag, mittags

37: Kapitel: Waitomo, zweiter Tag, zurück im Backpacker

38. Kapitel: Waitomo, zweiter Tag, abends

39. Kapitel: Das aller erste Mal

Die Anhänge:

Anmerkungen des Autors zur historischen Reise von 1991

Skizze zur harmonistischen Idee

Aus den Gedankensammlungen zum Harmonismus

Seminararbeit des Autors von 1990 – „Erziehung zur Kunst ist Erziehung zum Frieden“

Quellenverzeichnis

Vorwort

(von Bernhard zur Erstveröffentlichung des Romans 1998)

Unsere gemeinsame Reise begann, als ich Paul am 1.März 1991 am Flughafen in Auckland empfing. Ich hatte bereits eine Woche Aufenthalt in Neuseeland hinter mir. Da wusste ich längst, meine Erwartungen hatten sich mehr als erfüllt. Dass den bisherigen Höhepunkten noch etliche weitere folgen würden, konnte ich da noch nicht ahnen. Jedenfalls konnte ich vom “Land der großen, weißen Wolke” nicht genug bekommen.

Mehr als sieben Jahre später hat Paul seine Reiseerlebnisse und Gedanken in dem hier vorliegenden Debütroman verarbeitet und bittet mich, das Vorwort zu schreiben.

Die Reise, auf die Waitomo den Leser mitnimmt, ist aber nicht nur geographisch, sondern auch philosophisch gemeint. Vor allem durch die Gespräche der beiden Protagonisten - ähnlich den platonischen Dialogen - wird der philosophische Diskurs leicht zugänglich. Die Lektüre besticht vor allem durch den spielerischen Umgang mit intellektuellen Kapriolen, die bisweilen durch das Stilmittel der Ironie jäh unterbrochen werden. Die geistige Frische und die humorvolle Darstellung machen dieses Werk zu einer sehr kurzweiligen Unterhaltung.

Durch das geschickte Ineinanderweben von Vor- und Rückblenden wird die Mehrdimensionalität des Werkes noch zusätzlich unterstrichen. Gerade diese Vielschichtigkeit zeichnet diese Lektüre aus.

Waitomo ist nicht nur eine philosophische Reise, sondern vor allem eine Hommage an die schönen Dinge des Lebens wie Reisen, Kunst, Natur, Freundschaft und vor allem das Leben selbst.

Für mich bedeutet es jedoch noch mehr als das. Nichts ist an Faszination verloren gegangen, gar nichts.

Was für eine Reise, was für eine Möglichkeit…

Vorwort II

(Paul Schurr zu dieser überarbeiteten Ausgabe 2017)

Was für eine Reise, was für eine Möglichkeit …

Wenn ich 26 Jahre später auf jene Tage zwischen Februar und Mai 1991 zurückblicke, kann ich nach wie vor nicht abschließend beurteilen, ob ich, ob wir Protagonisten diese „Möglichkeit“ auch wirklich in Gänze genutzt haben. Sehr viel davon mit Sicherheit; für mich persönlich wurde jene Reise zu einem prägenden Erlebnis, für Bernhard ebenfalls.

Denn sie stellte Weichen, die bis heute unseren Weg beeinflussen, der zwar noch nicht auf seine Zielgerade eingebogen ist, aber inzwischen doch schon von recht stabilen Bordsteinen gesäumt wird. Ohne die Tage in Neuseeland würden diese Straßenränder anders aussehen.

Aber wäre da nicht noch viel mehr möglich gewesen nach Waitomo?

Hätte ich in meiner Überzeugung nicht alles versuchen müssen, den “Harmonismus“ längst in die philosophischen Bibliotheken der Welt einzubringen? Damit mehr von ihm erfahren und lernen können als nur die Menschen der innersten Kreise?

Wäre es nicht konsequent gewesen, statt der Kompromisse ganz und gar ein Leben als Künstler zu führen, um die Authentizität meiner Lebensphilosophie glaubhaft zu vermitteln?

Ich kann nur für mich sprechen, wenn ich resümiere: Vielleicht schon, aber in erster Linie ist es gut so wie es ist. Weil die Gefahr, das Erbe jener Reise weitaus weniger zu nutzen als ich es getan habe, weitaus größer war als die Notwendigkeit einer noch radikaleren Veränderung.

Denn die gesellschaftlichen Erwartungen meiner Heimat waren und sind einer harmonistischen Lebensführung nach wie vor nicht unbedingt förderlich. Zwar garantiert die Heimat bis heute – und dafür bin ich sehr, sehr dankbar – das freiheitliche Fundament der Philosophie, aber über Weg und Ziel scheint sie nach wie vor und unentwegt den Kopf zu schütteln. Bisweilen so heftig, dass ich selbst in Frage stelle, was ich geworden bin. Doch letztendlich bin ich dem Harmonismus treu geblieben und versuche mit jedem Lebensjahr, ihn (in kleinen Schritten) sogar noch weiter zu verinnerlichen.

Wenn ich also ein viertel Jahrhundert nach Waitomo gefragt werde, inwieweit wir die Möglichkeiten jener Reise tatsächlich genutzt haben, darf ich mit echter Überzeugung entgegnen, dass man das noch nicht abschließend beantworten kann. Denn wir sind noch immer dabei sie zu nutzen.

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1: Aus den Gedankensammlungen

Am Anfang war die Harmonie, ein äußeres und inneres Gleichgewicht zwischen allen natürlichen Dingen.

Und das Verlangen danach war mit der Seele verwurzelt, denn dieses Gleichgewicht war gleichbedeutend mit einem universellen Frieden, der hervorging aus dem Frieden mit der Umwelt und dem eigenen Ich.

Diese Harmonie war. Sie war Garantie für die Funktion des Ganzen, von dem auch wir nur ein Teil sind. Das komplexe und empfindliche System aber steuerte sich selbst von innen heraus, weil sich das Einzelne der Ganzheit unterordnete. Jedes Teil hatte darin seine Aufgabe, diente und nützte der Gesamtheit, jedes Teil profitierte davon. Auf diese Weise blieb das Gleichgewicht erhalten.

Das Einzelne ist nichts ohne das Ganze, das Ganze nichts ohne das Einzelne. Das Ganze muss daher um die Bewahrung des Einzelnen bemüht sein, die Bedeutung des Einzelnen aber liegt in seiner Wichtigkeit für das Ganze, nicht in der Wichtigkeit für sich selbst.

Doch hat der Mensch diese Harmonie der Dinge zugunsten der Befriedigung seiner eigenen Eitelkeit aufgehoben. Irgendwann erkannte er das Potential seiner Möglichkeiten und änderte die Prioritäten. Von nun an diente das Einzelne nicht mehr in erster Linie dem Ganzen, es wollte vor allem seinen Nutzen daraus ziehen. Die Harmonie aber zerbrach.

2: Das allererste Mal

August 1985. Wir drei hatten erst im Juni gemeinsam das Abitur mehr oder weniger erfolgreich abgeschlossen und uns ein paar Wochen danach einstimmig darauf geeinigt, gemeinsam eine längere Reise nach Süd-Ost-Asien anzutreten.

Keiner von uns hatte jemals zuvor ein weiter entferntes Land besucht und dementsprechend irgendwelche Erfahrungen mit fremden Sitten und Gebräuchen gemacht. Wir waren sozusagen absolute Newcomer auf dem Gebiet der individuellen Fernreise mit Rucksack und Reiseführer, wir hatten zwar unendlichen Optimismus, doch dafür weder Plan noch Ahnung. Und derart verhielten wir uns auch.

Bereits am Flughafen in München, als wir die Sicherheitskontrolle zu den Terminals passierten, konnte sich jeder Anwesende ein Bild davon machen, wie unerfahren diese drei jungen Männer waren, die da mit kurz geschorenem Haar (es hieß, mit langen Haaren hätte man uns in Asien erst gar nicht einreisen lassen) und betont lässig den ersten Check In ihrer Globetrotterkarriere absolvierten: Viktor und ich spazierten dabei noch völlig arglos am Metalldetektor vorbei, zuckten zwar unwillkürlich zusammen als Schlüsselbund oder Gürtelschnalle einen gefährlichen Piepston auslösten, und wunderten uns darüber, dass wir das Handgepäck nach dem Röntgen zusätzlich öffnen mussten; doch im Grunde wussten wir um unsere Integrität.

Bernhard musste das beschriebene Procedere als letzter über sich ergehen lassen. Auch er wurde abgetastet und sollte sein Handgepäck, eine moderne Jutetasche, öffnen. Wir beiden anderen sahen die Sache damit als erledigt an und gingen schon weiter in Richtung Abflughalle, als es plötzlich einen lautstarken Tumult hinter uns gab. Sicherheitsbeamte mit schwerer Bewaffnung kamen zur Kontrollstelle gestürzt, es wimmelte von Flughafenpersonal rund um den dritten Mann. Der hielt ein zwanzig Zentimeter langes Klappmesser in der Hand und war nicht weniger über das große Interesse an seiner Person verwundert als Viktor und ich.

Mit großen staunenden Augen blickte Bernhard in die Runde der Uniformierten, die ihn kurz darauf abführten. Beim Verlassen der Terminalhalle deutete uns der Verzweifelte an, wir sollten bitte auf ihn warten. Wir nickten ihm bejahend zu, wendeten uns aber sogleich vom Geschehen ab, um ja nicht mit dieser zwielichtigen Person dort in Verbindung gebracht zu werden. Wenig später kam Bernhard wieder. Sein Messer wurde nun als separates Spezialgepäck ins Flugzeug verladen; in Singapur, dem Zielflughafen, würde er es an einem gesonderten Schalter zurückerhalten.

Dabei schien Zwiebel - wir sprachen Bernhard höchst selten mit seinem Vornamen an, weil es dafür viel zu viel gute Spitznamen gab (deren Zahl in Zukunft noch anwachsen sollte) - noch der selbständigste von uns dreien zu sein. Immerhin war er schon einmal allein in Griechenland gewesen! Er war 19 Jahre alt und hatte seit dem Eintritt ins Gymnasium mit Viktor und mir dieselbe Klasse besucht. Ein engerer Kontakt hatte sich jedoch erst ab dem neunten Schuljahr entwickelt. Vorher war uns Bernhard zu “sauber” erschienen, dann waren wir allerdings bald zu einem unzertrennlichen Haufen geworden, zu dem sich nur noch wenige andere zählen durften.

Viktor alias “Vitti” hingegen gehörte zu den wenigen Freunden aus meiner Kindheit. Er und sein Bruder Alexander hatten früher gleich in der Nähe gewohnt und mit mir schon die Grundschule besucht. Seine Mutter war eine feurige Italienerin, der Vater ein bekannter Hausarzt in unserer Siedlung. Es war immer klar - weil das in Ärztefamilien eine offenbar genetisch veranlagte Tradition ist -, dass einer von den beiden Söhnen in dessen medizinische Fußstapfen treten würde. Zum Zeitpunkt dieser asiatischen Reise sprach jedoch alles für Alexander, Viktor wirkte dafür mit seinen 18 Jahren viel zu unbeholfen und fühlte sich außerdem, ähnlich wie Bernhard und ich, wenig pflichtverbunden irgendwelchen Erwartungen und Normen gegenüber. Gerade so kurz nach Schulabschluss wollte sich keiner von uns dreien mit irgendeiner Perspektive oder gar festen Zukunftsplänen die nächsten Monate verleiden lassen. Denn wir wussten, wir waren frei, wie wir es nie wieder sein würden.

Genügend Zeit für zukunftsbezogene Überlegungen würde nach der Rückkehr aus Asien bleiben, und sollte sich dabei nichts Konkretes in unseren Köpfen finden, konnten wir ja immer noch ab November “Irgendetwas” studieren (was wir dann im Übrigen auch taten).

Eine Stunde nach dem Zwischenfall mit Bernhards Klappmesser startete unser völlig eingeschwärztes jugoslawisches Fluggerät Richtung Zagreb, wo es eine erste Zwischenlandung geben sollte.

Es war ein aufregendes Gefühl, jeder des Trios war angespannt und ängstlich, doch zugleich voll euphorischer Erwartung dessen, was in den nächsten Wochen passieren würde. Da wartete einerseits dieses ferne Ziel, dessen Exotik und Kultur unsere Sinne erweitern sollte, und da waren andererseits wir selbst mit unseren unterhaltsamen aber auch ernsten Gemeinsamkeiten und Eigenarten: wir hatten schon Kabaretts geschrieben und Super-8-Filme gedreht, waren in dieselben Mädchen verliebt gewesen und hatten über Lebenssinn und Ideale so häufig diskutiert wie über die Fernsehserie „Dallas“. Jeder von uns dreien fühlte, diese Reise würde zu etwas ganz Besonderem werden.

Kurz nach dem Start schlug ich mir plötzlich mit der flachen Hand gegen die Stirn und meinte in Anlehnung an einen Werbespot nur so zum Spaß, doch mit aufgesetztem Entsetzen:

„Oh mein Gott, jetzt habe ich doch glatt meine Slipeinlagen zu Hause vergessen!”

Da drehte sich Viktor zu mir her und antwortete ganz ernsthaft, weil es die Wahrheit war: „Nicht so schlimm, ich habe welche dabei!”

3: Ankunft in Neuseeland

Gegen 8:00 Uhr landete die Boeing 747 der amerikanischen Fluggesellschaft United Airlines in Auckland. Für mich war der Flug damit zu Ende, Vitti und G-Jay hatten hingegen noch knapp drei Stunden Weg vor sich.

Die beiden waren Studienkollegen und steckten gerade mitten in Ihrer Medizinausbildung. In Australien, ihrem Endziel, wartete ein mehrwöchiges Praktikum in einem Krankenhaus bei Sydney auf sie. Anschließend und nebenbei beabsichtigten die zwei, Down Under ein wenig zu erkunden, während ich mich zu einem längeren Neuseelandaufenthalt entschlossen hatte, den ich zusammen mit Zwiebel verbringen wollte. Der war schon seit einer Woche hier und sollte mich am Flughafen empfangen.

Davon allerdings wussten weder Vitti noch G-Jay etwas. Sie gingen davon aus, ich würde die nächsten sechs bis acht Wochen alleine verbringen. Denn Bernhard war still und heimlich vorausgeflogen, die für Viktor überraschende Zusammenkunft zwischen den beiden - soweit die heimatliche Korrespondenz die Sache vorher nicht vereiteln sollte - war erst in zwei Monaten auf Hawaii geplant. Dort wollte auch ich spätestens wieder auf Vitti und G-Jay treffen. Zwar hatte ich einen Abstecher nach Sydney im Anschluss an Neuseeland eingeplant, doch wann und wie lange ich mich dort aufhalten würde, wollte ich kurzfristig entscheiden, so dass ein sicheres Zusammentreffen mit den beiden in Australien nicht planbar war.

Der D-Day lautete also 20. April 1991. Ab jenem Tag war in Honolulu ein Zimmer vorgebucht (in dem wir hoffentlich auch Bernhard unterbringen konnten), die einzelnen Terminpläne waren gänzlich auf dieses Datum hin ausgerichtet.

Ansonsten hatte man sich alle Möglichkeiten offen gehalten, abgesehen von der gemeinsamen Anreise von G-Jay, Viktor und mir, die wir in San Francisco für vier Nächte unterbrochen hatten. Somit waren wir drei bereits eine gute Woche unterwegs, als ich mich vor dem Flugsteig von den beiden Gefährten verabschiedete. Viktor und G-Jay verschwanden im Transit, ich spazierte Richtung Zoll und Gepäckausgabe.

Zwiebel stand tatsächlich in der Ankunftshalle und hielt zur Erkennung eine Postkarte in die Höhe. Sie zeigte das Portrait eines männlichen Maori, der seine Zunge weit aus dem Mund streckte und eine wilde Grimasse zog. Der Mann war sehr dick, sein Gesicht war mit Tätowierungen übersät. Die absonderliche Darstellung, erklärte Bernhard, stamme aus einer Tanzszene, die früher im Rahmen ritueller Handlungen aufgeführt wurde, heute jedoch bevorzugt der Unterhaltung von Touristen diene.

„Das ist ja ein tolles Land”, meinte ich nur und drückte Zwiebel einen Teil meines Gepäcks in die Arme. Wenig später lagen wir in einem Motelzimmer, ich hatte geduscht und war rechtschaffen müde. Erst einmal eine Runde Schlaf.

4: Hit the road Jack

Von Neuseeland wusste ich so gut wie nichts. Ich hatte im Vorfeld keinen Reiseführer studiert und mich auch sonst kaum informiert über “Aotearoa” - „Das Land der großen weißen Wolke”, wie es von seinen Ureinwohnern, den Maori genannt wurde. Was Reiseverlauf und Sehenswürdigkeiten anging, hatte ich, obwohl das sonst nicht meine Art war, alle Verantwortung in die Hände von Bernhard gelegt. Denn Neuseeland war dessen Land; von einer Reise dorthin sprach und schwärmte Zwiebel seit Jahren - einmal hatte er das passende Flugticket sogar schon in den Händen gehalten, es einer Frau zuliebe aber kurz vor Abflug storniert.

Er allein hatte den Impuls für diese Reise gegeben, ich wäre von mir aus kaum nach Neuseeland geflogen, hätte lieber Australien bereist, um mich dort immer wieder mit Viktor treffen zu können. Es war eher die Aussicht auf eine gemeinsame Tour mit Bernhard, die mich in Auckland das Flugzeug verlassen ließ, als dass mich dieses Land an sich großartig angezogen hätte. Dementsprechend hatte ich auch keinerlei Erwartungen an Neuseeland, doch die sollte man meiner Meinung nach ohnehin bei jeder Reise auf das Nötigste reduzieren, um nicht Gefahr zu laufen, aufgrund der zu hohen Ansprüche vom Reiseziel unweigerlich enttäuscht zu werden. Das hatte kein Ort der Erde verdient.

Wenn man ein Land aber “unschuldig” betrat, ohne vorgefertigtes Bild mit detaillierten Vorstellungen und Ansprüchen, konnten die Überraschungen und Erfahrungen nur umso positiver und nachhaltiger ausfallen, vermochten selbst Kleinigkeiten mit der ihnen zustehenden Aufmerksamkeit wahrgenommen zu werden.

Eben aus diesem Grunde hatten sich Bernhard und ich vor Abreise auch sehr skeptisch gefragt, inwieweit sich für ihn die vorausgeeilte Begeisterung negativ auswirken könnte. Hoffentlich würde Neuseeland seinen inneren Ansprüchen gewachsen sein, hatten wir überlegt, hoffentlich würde sich sein Traumland nicht in Luft auflösen, sobald er den ersten Schritt darin tat. Ich hatte mir in Gedanken bereits den trostlosen Irrweg durch Bernhards Traumruinen ausgemalt - von einer Enttäuschung in die andere tappend und hoffend, dass alles bald ein Ende habe.

Doch in Wirklichkeit war es weitaus schlimmer gekommen: Neuseeland hatte Bernhards Erwartungen noch übertroffen!

Nach nur einer Woche schien er in einem Taumel unbekannter Euphorie jeden Bezug zur Realität verloren zu haben. Bereits auf dem Weg zum Motel hatte er eine ununterbrochene Laudatio auf die Schönheit der Landschaft und die Freundlichkeit der Menschen gehalten, hatte dem Neuankömmling die Jugendherbergen und Backpackers schmackhaft zu machen versucht und ihm unentwegt vom Hitchhiking vorgeschwärmt - dem Trampen auf Neuseelands Straßen. Und kaum war ich von meinem Erholungsschlaf aufgewacht, wollte Zwiebel mit seiner Hymne fortfahren; es gelang mir nur mit Mühe, ihm endlich auch Fakten aus der Nase zu ziehen.

Tatsache war, dass er am Vortag drei Stunden im Regen gestanden und vergeblich darauf gewartet hatte, einen Lift angeboten zu bekommen, sprich: von einem Autofahrer mitgenommen zu werden. Die rote Nase bezeugte es.

Tatsache war auch, dass er sich ein paar Tage vorher in einer Jugendherberge die halbe Nacht lang das dumme Geschwätz seines “Mehrbettzimmergenossen” hatte anhören müssen, der ausführlich seine Sex-Eskapaden in Asien zum Besten gab.

Das konnte ja heiter werden, ich hatte nicht den leisesten Schimmer von Land und Leuten, und war daher - zumindest so lange, bis ich mich selbst zurecht finden würde - auf Gedeih und Verderb der Führung eines Entschwebten ausgeliefert. Dem war sein beseeltes Grinsen förmlich im Gesicht festgewachsen, während sich meine Miene weiter und weiter verfinsterte.

Am nächsten Morgen standen wir zeitig auf und fuhren mit dem öffentlichen Bus nach Bombay, einem kleinen Ort südlich von Auckland. Dort befand sich die geeignetste Einstiegsstelle für Tramper nach dem Süden.

Wir beide waren dementsprechend nicht die einzigen, die dort standen. Es wimmelte nur so von Rucksackreisenden, bald lernten wir den Deutschen Georg kennen, der ähnlich wie Bernhard Feuer und Flamme fürs Reisen per Anhalter war. Er war in unserem Alter, groß und blond, und trug einen australischen Trenchcoat aus geöltem Leder, wie ihn die Viehzüchter dort für gewöhnlich bei Regen anziehen. Dazu hing der passende Cowboyhut, ein wuchtiger Stetson, um seinen Hals. Unschwer war zu erkennen - aber er erzählte es trotzdem -, dass Georg seine Anreise nach Neuseeland in Australien unterbrochen hatte.

Ich beging den Fehler und erzählte ihm von meiner nächtlichen Überlegung, mir in Rotorua eventuell einen Bus-Pass zuzulegen, weil ich nach Bernhards wenigen objektiven Aussagen befürchten musste, beim Hitchhiking zu viel Zeit an den Straßen zu verlieren, zumal diese im Verhältnis zu Europa doch nur dürftig befahren waren. Daraufhin lächelte mich “King George” (wie ihn Bernhard und ich fortan nannten) achselzuckend an und meinte mit mitleidvollem und ironischem Lächeln: „Na ja, wer`s braucht!”

Der “König der Landstraße” wollte sich jedenfalls nicht in die Abhängigkeit von eingeschränktem Streckennetz und festen Abfahrtszeiten begeben, gab er zu verstehen. Er zog dem die Ungebundenheit des Trampens vor.

„Immerhin habe ich nur um die sechs Wochen Zeit für Neuseeland”, versuchte ich mich blödsinnigerweise zu rechtfertigen. „Und ich möchte so vieles sehen, dass ich wahrscheinlich um jede Stunde vor Ort froh sein werde.”

„Ja, ja, ist schon klar ...”. Georg grinste wieder und langsam, aber sicher empfanden wir seine persönliche Einstellung als eine dämliche Arroganz.

„Und du, Georg, wie lange wirst du in Neuseeland bleiben?”, warf Bernhard ein, der die abnehmende Begeisterung seines Begleiters an dieser Konversation durchaus bemerkt hatte.

„Insgesamt vier Wochen.”

„?”

Bernhard und ich sahen uns an, und mein Reisegefährte meinte abrupt: „Na, dann werden wir beide wohl lieber mal ein Stückchen die Straße hinunterlaufen; da ist weniger los. Man wird sich bestimmt wiedersehen.”

Nachdem die Lachtränen getrocknet und alle Lästereien ausgesprochen waren, stellten wir uns an den Straßenrand und warteten mit abwechselnd ausgestreckten Daumen auf den ersten Lift Richtung Rotorua, dem thermalen Zentrum des Landes. King George winkte uns schon bald aus einem vorbeifahrenden Wagen zu.

Für die 234 Kilometer lange Strecke benötigten wir den ganzen Tag und insgesamt sechs Mitfahrgelegenheiten. Doch wider Erwarten empfand auch ich das Trampen als eine äußerst angenehme Erfahrung. Wir kamen dabei mit den verschiedensten Neuseeländern ins Gespräch, erfuhren von deren Alltagssorgen wie auch weltpolitischen Ansichten. Da war keine Überheblichkeit uns gegenüber zu spüren, aber auch erst recht kein Neid. Die Menschen machten einen durchwegs sympathischen und zufriedenen Eindruck, soweit man dies nach wenigen Fahrkilometern überhaupt beurteilen konnte.

Auch während der Wartezeiten hatten Bernhard und ich einen Heidenspaß: wir sangen im Duett unzählige Mal den Ray-Charles-Klassiker “Hit the road Jack”, der so vortrefflich zu unserer Situation passte, und verkürzten uns mit alten Anekdoten und neuen Geschichten die Pausen am Straßenrand. Doch ungeachtet dessen stand am Abend mein Entschluss endgültig fest, auf den Bus umzusteigen. Gerade zu zweit wäre es auf Dauer viel zu schwer geworden, zügig voranzukommen. Das hatte schon dieser erste Tag gezeigt, an dem wir zwischenzeitlich sogar getrennt weiter getrampt waren. Bernhard, der für seine Person der Straße mindestens bis nach der von allen Neuseelandtrampern gefürchteten Westküste der Südinsel treu bleiben wollte, nahm mir den Entschluss deshalb auch nicht unbedingt übel; zumal wir uns permanent an den einzelnen Etappenpunkten treffen wollten, um gemeinsame Unternehmungen zu starten.

King George freilich, der zufälligerweise im gleichen Backpacker, der „Ivanhoe Lodge“, abgestiegen war, konnte über meine Entscheidung ebenso nur den Kopf schütteln wie über die verspätete Ankunft unserer Zweiergruppe.

„Ihr habt ja ganz schön lange gebraucht”, sagte er. „Ich bin schon vor zwei Stunden angekommen.”

Wir erwiderten nichts, waren dafür aber umso erfreuter, dass wir mit Georg kein Zimmer teilen mussten. Unsere Schlafpartner waren stattdessen ein fröhlich vor sich hin pfeifender Schweizer, den wir deshalb nur noch “Vogel Jakob” nannten, und das “Honigmaul”, ein angenehmer, deutscher Landsmann, dem leider ein Honigglas im Rucksack zerbrochen war. Nun hingen im ganzen Raum klebrige Kleidungsstücke herum, die auf ihren Gang zur Waschmaschine warteten. Es ließ sich unmöglich vermeiden, dass auch Bernhard und ich über ein Gepäckstück oder irgendeine Körperstelle mit dem Honig in Kontakt kamen. Außerdem roch es im ganzen Zimmer wie in einer Imkerei.

5: Der Whirlpool

Rotorua war eine Enttäuschung - nicht nur für mich, sondern auch für Bernhard. Das erste Mal seit seiner Ankunft war er an einem Ort gelandet, der nicht hielt, was er sich davon versprochen hatte.

Zwar waren die geothermischen Erscheinungen im Maori-Dorf Whakarewarewa nichts Alltägliches und durchaus sehenswert, doch das ganze Szenario hatte nichts mit dieser unberührten Schönheit gemein, von der mir Bernhard dauernd vorgeschwärmt hatte.

Rotorua unterschied sich in gar nichts von anderen Touristenstädten rund um den Globus. Da gab es eine Sehenswürdigkeit - in diesem Fall Geysire, kochende Seen und blubbernde Schlammquellen - und die wurde anständig vermarktet. Wer die heißen Absonderlichkeiten aus dem Erdinneren bestaunen wollte, musste dafür zahlen.

Die kulturellen Zusatzangebote waren künstlich, Souvenirshops, Reisebüros, Restaurants und Hotelketten prägten das Stadtbild.

Uns beiden war die Lust auf weitere Unternehmungen bald vergangen. Viel lieber spazierten wir nach kräftigem Schnellimbiss zurück ins Backpacker, setzten uns in den natürlichen Whirlpool des Hauses und unterhielten uns über Gott und die Welt. Im Mittelpunkt stand natürlich der weitere Reiseverlauf, und bald hatten wir uns darauf geeinigt, schnellstmöglich auf die Südinsel zu gelangen. Immerhin wurde es auf dieser Seite der Erde bereits Herbst, und die südliche der beiden großen Inseln Neuseelands war bekannt für ihre frühen Winter.

„Wenn wir morgen aufbrechen, könnten wir uns in drei Tagen auf der Südinsel wiedertreffen”, sagte Bernhard. „Du kannst bestimmt schon vorher dort sein, doch ich brauche die Zeit. Drüben soll es nämlich noch schwerer als hier sein, einen Lift zu bekommen.”

„Geht in Ordnung”, meinte ich achselzuckend. Ob nun ein Tag oder drei, mir fehlte so oder so noch jede Ahnung bezüglich meiner persönlichen Reisezukunft. Doch durfte und wollte ich nicht jammern, hatte ich mich doch selbst ins kalte Wasser geworfen. Also drehte ich mich im heißen Schwimmbecken einmal um die eigene Achse und meinte mit aufgesetzter Gelassenheit: „Ich kann mir ja dann schon mal die Gegend anschauen und auskundschaften, welche Möglichkeiten wir vor Ort haben werden.”

Als Treffpunkt wurde das Backpacker “White Elephant“ in Motueka bestimmt. Das Städtchen war inoffizieller Ausgangspunkt für jeden Besuch des Abel Tasman National Parks an der Nordküste. Laut Reiseführer und Augenzeugenberichten zählte der zu den schönsten des Landes, wechselten sich dort Regenwald und Sandstrände ständig ab, prägten Steilküsten und verschlafene Buchten vor türkisfarbenem Meer das Bild; es war klar, auch Bernhard und ich durften den Abel Tasman National Park nicht versäumen.

Wir lehnten uns zurück an den Beckenrand und genossen das warme Sprudeln der Quelle. Bernhard erzählte noch ein wenig von den Einheimischen, die er während des Trampens kennengelernt hatte: „Sie sind bedeutend freundlicher als in Europa, kommt es mir vor. Zurückhaltend zwar - nicht so nach außen gekehrt wie zum Beispiel die Asiaten -, doch stets offen und unwahrscheinlich hilfsbereit.”

„Mit dieser Art kommen sie der europäischen Mentalität natürlich entgegen”, antwortete ich. „Wenn du überlegst, wie lange wir in Indonesien gebraucht haben, bis wir uns sicher waren, dass diese schon übertrieben anmutende Freundlichkeit der Leute echt war und nicht nur aufgesetzt, um etwa irgendein Geschäft in die Wege zu leiten oder sonst einen Profit daraus zu schlagen.”

„Stimmt, Syndrom!”

(”Syndrom” war einer meiner Spitznamen und neben der etwas fragwürdigen, wenn auch in Wahrheit rein linguistisch - von “Paulus“ über “Faulus“ - abgeleiteten Bezeichnung “Phallus” die beliebteste Anrede von Bernhard und Viktor an meine Person. Seinen Ursprung fand “Syndrom” in meiner Angewohnheit, bisweilen der Aufheiterung zuliebe völlig unvermittelt Körperkontakt zu Wänden zu suchen, an denen ich mich förmlich festsaugte, als ginge eine seltsame magnetische Anziehungskraft von ihnen aus.)

„Ich konnte diese Zweifel, ehrlich gesagt, bis zum Schluss nicht ganz ablegen”, führte Bernhard die Gedanken seines Gegenüber fort, und der nickte zustimmend. Das Misstrauen war damals tatsächlich größer als die Begeisterung über diese unbekümmerte Offenheit der Leute gewesen - das war eine der eindrücklichsten Erfahrungen, die wir seinerzeit aus Süd-Ost-Asien mit nach Hause brachten.

Bernhard überlegte: “Eigentlich erschreckend und ganz schön traurig“.

„Aber trotzdem nicht ohne weiteres “auszuschalten”, auch heute noch nicht. Dafür leben wir einfach schon zu lange in Deutschland, denke ich, als dass wir diese anerzogene Vorsicht bedenkenlos ad acta legen könnten. Zumal wir damit aller Voraussicht nach zu Hause nicht selten auf die Schnauze fallen würden.”

„Ist doch klar, Phallus: von nichts kommt nichts! Denn wenn in Deutschland einer derart freundlich auf dich zugeht, kannst du dir zu 99 Prozent sicher sein, dass er dir wirklich irgendetwas verkaufen will.”

„Wahrscheinlich eine Fernsehzeitung oder eine Lebensversicherung.”

Langsam wurde es heiß im Hot Pool, aber wir blieben noch eine Weile sitzen. Das war typisch für uns: Wir sprachen oft und gerne trivialsten Blödsinn oder unterhielten uns über Belanglosigkeiten - und wir genossen es -, aber einmal ins Philosophieren gekommen, verloren wir uns nur allzu gern in den Gedanken, so unwichtig diese für den Rest der Welt auch sein mochten.

„Komisch ist es trotz alledem,” fuhr ich fort - ausnahmsweise langsam sprechend, weil der Gedanke bei den ersten Worten noch nicht ganz zu Ende gedacht war -, „dass unsereins grundsätzlich mit einer eher negativen Einstellung auf offensichtlich selbstlose Freundlichkeit reagiert.” Jetzt wurden die Sätze wieder schneller: „Dabei müsste man sich im Grunde genau gegenteilig verhalten, weil es ja etwas absolut positives ist. Woran das nur liegen mag?”

„Erstens, weil uns solche Freundlichkeit, wie du selbst gesagt hast, ungewohnt ist, und zweitens liegt es meiner Ansicht nach an unserer Erziehung, an diesen europäischen Wertvorstellungen. Die sind derart materialistisch ausgerichtet, dass solch ein Verhalten fast schon suspekt wirken muss