ISBN: 9783961186648

 

 

Hans Fallada

 

 

Dies Herz, das dir gehört

 

 

Impressum

Covergestaltung: Olga Repp

Digitalisierung: Gunter Pirntke

BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke

Mail: brokatbook@aol.com

Gunter Pirntke, Altenberger Str. 47

01277 Dresden, Ruf: +49 (0)15901959485

2017

 

Inhalt

Impressum

Personen der Handlung

Vorspiel: Der Auswanderer

Die Leute vor der Fabrik

Die Herren in der Fabrik

Mutter und Sohn

Reisebilder

Der Arbeiter

Der Heimkehrer

Erster Teil: Zwei Menschen lernen sich kennen

Der Bruder

Die Stampe

Das Mädchen

In der Zentralmarkthalle

Der Dieb

Polizei!

Die beiden

Bei ihr

Der Überfall

Ungeduld

Die Austreibung

Zimmer gesucht

Und Zimmer gefunden

Der Einschreibebrief

Zweiter Teil: Zwei Menschen lernen Vertrauen

Eine Mahnerin

Junges Glück

Der Garten

In Amt und Würden

Der Ausflug

Ein Wiedersehen

Vernunft

Angst

Liebe

Dritter Teil: Zwei Menschen bleiben beieinander

Tante und Neffe

Der Unglücksfall

Nachtwache

Die beiden Unseligen

Entschluss

Reue

Stummes Begegnen

Das verschwundene Lächeln

Erwachen

Heilsamer Klatsch

Und eine Tochter ...

Der Sohn, der ging ...

Zitronen!

Wiedersehen

 

Personen der Handlung

 

Frau Erna Wiebe, Besitzerin einer Eisenwarenfabrik

Thomas Wiebe, Johannes Wiebe – ihre beiden Söhne

Prokurist Blohm, Prokurist Henning, Privatsekretärin Lola, Fabrikwärter Lobrian, Monteur Martin Raschke – im Wiebe’schen Betrieb

Hausmädchen Bertha – bei Wiebes

Hanne Lark, Verkäuferin in der Zentralmarkthalle

Auguste Mahling, ihre Tante

Oskar Mahling, ihr Onkel

Oppermann, Obstgrossist in der Halle

Pottschmidt, Standbesitzer in der Halle

Marie Jäckel, Hannes Freundin

Emil Schaken, ein Arbeitsscheuer

Hermann Schönholz, Tilde Schönholz, Oberarzt Dr. Leer – Ladenbesitzer

 

Vorspiel: Der Auswanderer

Die Leute vor der Fabrik

Dort, wo Berlin-Charlottenburg seinen Charakter als Wohnstadt verliert, wo es, selbst Industriestadt geworden, an die Riesenwerke der Siemensstadt angrenzt, liegt in einer kleinen Straße die Metallwarenfabrik »Hermann Wiebe«. Von der Straße aus sieht man nicht mehr von dieser Fabrik als ein paar Pultdächer aus Glas oder Schiefer, eine hohe rote Mauer verwehrt jeden weiteren Einblick.

Diese Mauer ist sehr hoch und oben noch mit Glassplittern besetzt, sie ist sehr lang und sehr hässlich rot – kurz, sie gleicht genau einer Gefängnismauer! Und die beiden Tore aus Eisenblech in dieser Mauer, ein breites Durchfahrtstor und ein kleineres für den Fußgängerverkehr, können das Gefühl von Trostlosigkeit, das den Beschauer angesichts dieser Mauer beschleicht, nicht erleichtern: es sind gnadenlose Tore, Tore der erbarmungslosen Pflicht. Außerdem sind sie zur Stunde verschlossen. Dafür klebt ein Aushang an dem kleineren Tor.

Die Buchstaben aus geschmiedetem Eisen über dem Tore, die da besagen, dass dies die »Metallwarenfabrik Hermann Wiebe« ist, waren wohl ehemals golden, aber jetzt hat das Schwarz der rußenden Fabrikessen und der Rost des zergehenden Eisens ihnen längst ihren Glanz genommen. Sie sehen genauso düster, freudlos und hässlich aus wie alles in dieser kleinen Charlottenburger Fabrikstraße, wie selbst dieser Novembermorgen: nasskalt, grau und trübe. Ein Morgen, der den dringenden Wunsch nach heilem Schuhwerk wach werden lässt.

Vor dem Fabriktor steht eine kleine Gruppe von Arbeitern – etwa zehn oder zwölf Mann. Sie stehen ziemlich nah vor dem Aushang, den sie aber längst gelesen haben. Es sind junge und alte Männer, aber, ob jung oder alt, die hinter ihnen liegende lange Leidenszeit mit Weltkrieg und Inflation und all den Kämpfen, Sorgen und Miseren danach hat ihren Gesichtern den gleichen Ausdruck von sturer Hoffnungslosigkeit aufgeprägt. Sie sind ganz schlecht gekleidet, die Jacketts, die sie über ihre blauen Arbeitsblusen gezogen haben, sind entfärbt und ohne alle Fasson, faltig hängen sie über die gebeugten Rücken – bei den Jungen wie bei den Alten.

In diesem Augenblick sehen sie – nahe dem Plakat stehend – mit einem Ausdruck wohlwollender Verachtung auf einen von ihnen, der mit Ausdauer den dicken, altmodischen, eisernen Klingelknopf am Fußgängertor zieht.

Der Klingler sieht seine Arbeitskollegen herausfordernd an. »Det wolln wa doch ma sehn!«, sagt er und reißt immer wieder an dem Klingelknopf. »Det könn se doch mit uns nich machen! Wenigstens rinlassen müssen se uns! Det is meen Arbeetsplatz!«

Ein junger Arbeiter sagt, aber nicht zu ihm, sondern zu den andern: »So doof! Der klingelt sich noch dusslig! Die haben drinnen doch bestimmt die Klingel abjestellt!«

Die andern nicken beifällig.

»Da kannste jar nischt machen! ›Wegen Auftragsmangel geschlossen‹ – da steht et doch! ›Restlohn und Papiere sind am Freitag vom Stadtbüro abzuholen‹« – sagt ein älterer Arbeiter. »Euschen, jib dir – wat hat denn det for eenen Sinn!«

Das Zureden macht den Klingler nur noch wilder. »So dürfen se mir nich kommen! Det wolln wa doch ma sehn! ’n Hund lässt man abends in seine Hütte, und wir ...«

Er reißt am Klingelknopf.

»Lass ihm det Vajniejen, Maxe«, sagt wieder ein anderer. »An wat muss er sich doch beruhigen! Valleicht denkt er, er zieht den großkotzigen Herrn Syndikus Wiebe an de Neese, det tut ihm jut ...«

Ein junger Arbeiter fragt einen sehr alten, der, an einen Laternenpfahl gelehnt, ein Bein hochgezogen, dasteht und nachdenklich an seiner durchlöcherten Schuhsohle herumbiegt: »Und wat machst du, Willem?«

»Ick kieke mir meine Schnellbesohlerei an. Det is mit meene Sohlen schlimmer wie mit ’nem Schweizerkäse: Loch bei Loch!«

»Nee, ick meene, wat tuste nu?«

Der alte Arbeiter sieht ihn an: »Det fragste? Wozu fragste det? – Ick jehe stempeln. Wat denn sonst? Bei mir stempeln schon viere zu Hause, na, nun bin ick der Fünfte, der stempelt. Haben Vater und Kinder doch denselben Weg, wird sich Mutta freuen!«

»Und du versuchst jar nich, Willem – Pst! Kieke mal! Kennste den, der da kommt?«

Eine Autotaxe ist vorgefahren. Undeutlich sieht man in ihrem Innern einen jungen Mann, der vom Hintersitz aus den Fahrer bezahlt. Alle Arbeiter haben stumm die Köpfe nach dem Wagen gewandt, auch der Klingler, der aber seinen Knopf nicht loslässt. Ihre Gesichter sehen weiter gleichgültig und hoffnungslos aus.

Der Arbeiter am Laternenpfahl sagt schnell flüsternd zu dem Alten: »Det is det Nesthäkchen von diese Arbeitergeberfamilje, der junge Bruder von dem Herrn Syndikus ...«

Der alte Arbeiter sieht interessenlos zu, wie der junge Herr jetzt aus der Taxe steigt und sich vom Fahrer einen Koffer herausreichen lässt.

»So«, sagt der alte Mann.

»Den kenn ick«, flüstert der junge Arbeiter aufgeregt. »Mit dem hab ick früher mal jespielt! Der war nich übel. Der hatt ’n Sinn für uns. Den hau ick an, Willem!«

»Wat hat denn det for ’nen Sinn?«, fragt der alte Arbeiter hoffnungslos. »Stempeln jehn musste doch!«

Der junge, etwa zwanzigjährige Herr, sehr jugendlich und ein wenig weich aussehend, hat unterdes die kleine Arbeitergruppe am Fabriktor bemerkt und stutzt. Aber schon ist der junge Arbeiter bei ihm, fasst nach dem Koffer und sagt eifrig: »Gestatten Sie, Herr Wiebe! Sie kennen mich doch noch? Ick bin Raschke, Martin Raschke – der Sohn von Ihrem früheren Gärtner.«

Der junge Herr, sehr gepflegt – der Gegensatz in Kleidung, Haltung, Hautfarbe zwischen ihm und den Arbeitern ist sehr auffällig –, ist trotzdem erfreut. »Martin! Natürlich! Und ob ich dich kenne! Weißt du noch, wie du mich mit dem Kopf zuerst in die Regentonne gestoßen hast?«

Martin Raschke muss unwillkürlich lachen. Dann aber sagt er mit einem Blick auf die andern, die scheinbar teilnahmslos dastehen, in Wahrheit aber gespannt zuhören, mit Nachdruck: »Dafor setzen Sie mich jetzt auf die Straße!«

»Ich –?« Der junge Herr ist sichtlich verwirrt. »Was heißt das, Martin? Ich dich auf die Straße? Was bedeutet das hier? Warum geht ihr nicht in die Fabrik? Was ist das für ein Anschlag?«

»Die Fabrik ist wegen Arbeitsmangel geschlossen, Herr Wiebe.«

Langes, tiefes Stillschweigen.

Dann: »Wir hier kommen grade von Montage – es ist wohl schon am Dienstag passiert, Herr Wiebe.«

Der junge Herr Wiebe ist sichtlich verwirrt und erregt, die Arbeiter beobachten ihn aufmerksam. Er spürt aller Blicke auf sich, möchte reden, wie es ihm ums Herz ist, und fühlt sich doch als Sohn der Fabrik.

»Ich komme von einer Reise«, sagt er abgerissen. »Mein Bruder hat mir kein Wort davon geschrieben. Ich verstehe nicht – wirklich ganz geschlossen, für alle?«

Der Klingler sagt bösartig: »Für Sie nicht junger Herr! Sie müssen nicht uffs Arbeitsamt!«

Eine grobe Stimme aus dem Arbeiterhaufen ruft: »Halt die Klappe, Euschen!«

»Ich verstehe es nicht«, sagt der junge Herr wieder. »Ich habe auf meiner Reise Aufträge reingeholt, nicht viel, aber drei, vier Wochen helfen sie uns weiter. Mein Bruder ...«

Er sieht die Arbeiter an, als erwarte er ein hilfreiches Wort von ihnen, aber die Arbeiter sehen ihn nur stumm an. Schließlich erbarmt sich seiner Martin Raschke und sagt: »Aber wenn Sie Aufträge rinjeholt haben, isset vielleicht nur ein Missverständnis, Herr Wiebe?«

Der junge Mann belebt sich. »Gewiss! Sicher! Mein Bruder wird übersehen haben ... Und außerdem wollte ich Anfang nächster Woche nach den Staaten, nach Amerika – ich würde sicher auch dort Aufträge ...«

Ihm ist, als sei er vor den Kopf geschlagen, als müsse er sich rechtfertigen vor seinen Arbeitern. Plötzlich sagt der alte Mann am Laternenpfahl und hebt dabei den Schuh: »Junger Herr, det sind meene Schuhe bei voller Arbeet! Bei mir stempeln nämlich schon viere zu Hause! Wolln Se mir vielleicht sagen, wie meine Sohlen bei Arbeitslosigkeit aussehen werden?«

»Schrecklich!«, sagt der junge Herr Wiebe und macht unwillkürlich einen Griff zur Brusttasche, als wollte er dem Arbeiter Geld schenken. Aber er schämt sich sofort, dafür sagt er mit festerer Stimme: »Es ist bestimmt ein Irrtum. Ich werde sofort mit meinem Bruder sprechen. Die Entlassungen werden rückgängig gemacht werden, ich kann es euch jetzt schon sagen. Ich habe ein paar Aufträge, und ich werde so viel Aufträge aus den Staaten bringen ...«

Mit einem liebenswürdigen Lächeln: »Sie denken, weil ich so jung aussehe, kann ich nicht gut verkaufen? Aber ich bin ein guter Verkäufer! Und ich werde an euch denken ...«

Er ist bei seinen Worten immer weiter auf das kleine Tor zugegangen. Jetzt zieht er einen Schlüssel aus der Tasche, nimmt Martin den Koffer ab, sagt: »Danke schön, Martin – für alles!«

Das Tor fällt zu.

Martin dreht sich zu den anderen um, sieht sie triumphierend an und sagt: »Na, seht ihr?«

Stille.

Dann antwortet der Klingler bösartig: »Der quatscht mir zu ville – viel jequatscht is halb betrogen, hat meine Jroßmutta immer jesagt!«

 

Die Herren in der Fabrik

In seinem recht gut ausgestatteten Fabrikbüro sitzt hinter dem großen, säuberlich aufgeräumten Schreibtisch der ältere Bruder von Johannes Wiebe, der Syndikus Thomas Wiebe, und erteilt dem Prokuristen der Firma, dem alten weißhaarigen Blohm, seine Weisungen.

Trotzdem Thomas Wiebe erst etwa dreißig Jahre alt ist, ist er schon ziemlich füllig. Das Gesicht, unverkennbar dem seines jungen Bruders ähnlich, hat nichts mehr von Frische und Mut, es ist das etwas fett gewordene Gesicht eines erfolgreichen Geschäftsmannes, vor allem aber eines Mannes, der sich für zum Mindesten sehr gut aussehend hält und recht eitel auf dieses Aussehen und auf seine Erfolge ist.

Herr Thomas Wiebe sitzt bequem in seinem Armstuhl und sieht nicht zu dem auf der andern Seite des Schreibtisches stehenden Prokuristen auf. Er spielt mit einer dünnen, goldenen Uhrkette, während er sagt: »Also, Sie sehen, dass bei der Auszahlung der Restlöhne alles glattgeht. Ich wünsche kein Geschrei und Geschimpfe – vor allem keine Zeitungsnotizen.«

»Sehr wohl, Herr Wiebe!«

»Es ist unsre Privatsache, ob wir arbeiten oder schließen. Wir sind ein Privatbetrieb. – Für alle Fälle können Sie ja das Polizeirevier verständigen, dass es ein paar Schutzleute in der Nähe hält.«

»Ich würde nicht gerne ...«

Der Prokurist bricht ab, denn sein junger Herr hat mit einem nicht misszuverstehenden Ausdruck hochgesehen.

»Was würden Sie nicht gerne, Herr Blohm?«

»Die Firma Hermann Wiebe hat in den siebenundzwanzig Jahren ihres Bestehens noch nie mit der Polizei zu tun gehabt!«

»Eben! Die Firma Hermann Wiebe würde auch in diesem Falle nichts mit der Polizei zu tun haben, sondern schlimmstenfalls ein aufsässiger Arbeiter.« In einem andern Ton: »Seien Sie kein Narr, Blohm! Sie wissen genauso gut wie ich, dass der Betrieb unter den jetzigen Verhältnissen nichts abwirft. Wozu sollen wir uns all die Arbeit und Mühe machen, bloß damit wir an den Staat Lohnsteuern und Arbeitslosenversicherungen abführen? Ich denke, ich bin ein Kaufmann!«

Der Prokurist Blohm, mit versteckter Ironie: »Das sind Sie, Herr Wiebe!«

»Ich mache keine Geschäfte ohne Verdienst. Ich bin kein Beitragskassierer ...«

»Siebenundzwanzig Jahre haben diese Schornsteine geraucht, Herr Wiebe. Und jetzt ...«

»Jetzt sind sie in siebenundzwanzig Jahren alt und sentimental geworden, Blohm. Gehen Sie vier Wochen in Urlaub, gehen Sie acht Wochen, gehen Sie ein halbes Jahr ...«

»Sie brauchen mich nicht mehr, Herr Wiebe?«

Der junge Herr lenkt ein. »Also ruhen Sie sich erst einmal aus. Ob wir Sie brauchen oder nicht, entscheidet meine Mutter. Vorläufig bin ich nur der Syndikus der Firma ...«

»Und wären Sie der Herr, würden Sie mich auch entlassen. Ich danke Ihnen, Herr Wiebe ...«

Der alte Mann dreht sich um und geht gegen die Tür.

Thomas Wiebe ruft ihm ärgerlich nach: »Ich habe kein Wort von Entlassung gesagt – wenn Sie meiner Mutter Derartiges erzählen, lügen Sie. Ach was, seien Sie nicht so empfindlich, Blohm!«

Der alte Prokurist hat nicht mehr auf die Worte seines Herrn gehört, ohne Antwort will er aus dem Zimmer. Da öffnet sich die Tür, und Johannes Wiebe stürmt herein.

»Was ist das«, ruft er erregt. »Ihr habt hier zugemacht?! Warum denn? Ich habe euch Aufträge für drei Wochen gebracht ...«

Der Prokurist Blohm, zu sehr beschäftigt mit seinem eigenen Schmerz, um die Aufregung seines jungen Herrn zu verstehen, verweist ihn mit einer Handbewegung an seinen Bruder: »Darüber müssen Sie mit dem Herrn Syndikus sprechen ...«

Und geht.

Johannes Wiebe starrt ihm verblüfft nach, vergisst ihn aber sofort wieder und wendet sich an seinen Bruder, der sich mit einem halb spöttischen, halb überlegenen Lächeln von seinem Sitz erhoben hat.

»Und du hast mir kein Wort davon geschrieben. Du hattest kein Recht ...!«

Der Ältere fasst ihn bei den Schultern. »Ist das eine Begrüßung nach einer so langen Reise?! Guten Tag, Hannes, du siehst prächtig aus. Ich habe mich sehr über deine Berichte und vor allem über die Aufträge gefreut. Du hast dir wirklich deine Sporen verdient. Mutter ist auch ganz glücklich.«

»Wie geht es Mutter? Ist sie drinnen?«

Er deutet mit dem Kopf auf eine Tür im Rücken des Bruders.

Der Bruder weicht aus. »Ich glaube, im Augenblick nicht. Wir können gleich nachsehen. Ich möchte zuerst mit dir sprechen. Mutter hat schon Kummer genug mit dieser Stilllegung von Vaters Werk.«

»Aber wie konntet ihr das auch tun! Ihr müsst es sofort rückgängig machen. Ich habe Aufträge ...«

»Deine Aufträge, lieber Junge, sind als Anfangserfolge sehr hübsch, aber wir können sie sehr gut zur Entleerung unserer vollen Läger gebrauchen. Um deiner Aufträge willen braucht keine Hand zu arbeiten.«

»So? Und meine Reise in den nächsten Wochen nach den Staaten? Ist die auch zu nichts weiter gut?«

Die beiden Brüder schauen sich an; der Ältere sieht immer noch mit der amüsierten Überlegenheit des Erfahrenen drein, der den jüngeren, unerfahrenen sich abzappeln sieht.

»Ich habe bei Mutter für diese Amerikareise gestimmt, weil dir viel daran zu liegen schien. An irgendwelche nennenswerte geschäftliche Erfolge glaube ich nicht.«

»Und warum nicht, bitte?«

»Gott, lieber Junge, soll ich dir denn wirklich Unhöflichkeiten sagen?«

»Das hast du jetzt schon genug getan, wie immer, es kommt auf ein paar mehr oder weniger nicht an! Also warum nicht, bitte?«

»Weil du kein Kaufmann bist, Hannes. Weil du nie einem festen Ziel folgst. Jetzt hat’s dir mal ein paar Wochen Spaß gemacht, Eisenwaren zu verkaufen. Vielleicht hast du in den nächsten vier Wochen mehr Lust, Bücher zu lesen oder Schneeschuh zu laufen ... Man kann sich nicht auf dich verlassen, entschuldige bitte ...«

Der Jüngere macht eine wütende Bewegung der Abwehr.

»Aber auf dich kann man sich verlassen, wie, Thomas?«

»Darauf, dass ich ein zielbewusster Kaufmann bin, bestimmt!«

»Auch ein ehrlicher?«

»Hannes, ich muss dich sehr bitten!«

»Warum hat mir denn der ehrliche Kaufmann nicht geschrieben, dass er die Fabrik schloss?«

»Weil du sofort alle Lust verloren hättest, Aufträge hereinzuholen, darum, mein lieber Junge!«

»Ich bin nicht dein lieber Junge! Ich bin alles andere als dein lieber Junge. Ich bin als Vaters Erbe Mitbesitzer dieser Fabrik, und ich verlange ...«

»Du bist minderjährig, vorläufig üben Mutter und ich noch deine Rechte aus!«

»Das hat nicht Mutter getan, das warst du! Ich komme eben an, zehn, zwölf Arbeiter stehen vor dem Tor, Monteure von uns, von der Reise zurück, die hast du auch nicht benachrichtigt, und es war ihr Brot, das du ihnen wegnahmst.«

»Siehst du, jetzt verstehe ich alles! Du siehst ein paar entlassene Arbeiter, und sofort bricht dein weiches Herz. Ja, mein Lieber, daraufhin kann man keinen Betrieb leiten!«

»Aber auf kalte Zahlen, jawohl! Du hast Arbeit für vier Wochen und schließt die Fabrik!«

»Jawohl, weil ich sie in vier Wochen doch schließen müsste und weil das Schließen heute die Unkosten verringert!«

»Aber zweihundert Arbeiterfamilien hätten vier Wochen länger zu essen gehabt!«

»Mein lieber Junge, ich bin ein Geschäftsmann, keine Versorgungsanstalt!«

Jetzt ist der Jüngere in voller besinnungsloser Wut. Er spürt hinter der gelassenen Überlegenheit des Älteren dessen Ärger, und es reizt ihn, ihn noch mehr zu ärgern, zu verwunden, aus der Überlegenheit herauszubringen.

»Doch bist du eine Versorgungsanstalt!«, ruft er zornig. »Eine Versorgungsanstalt deines eigenen fetten Bauches, deiner eigenen faulen Gelüste. Wenn du nur in deine Bars zu deinen geliebten Kokotten gehen kannst ...«

»Johannes! Ich verbiete dir ... Jetzt ist aber Schluss ...«

»Jetzt geht es erst los, mein Lieber! Denkst du, ich habe nicht längst gesehen, dass du Mutter und mich hintergehst? Du behauptest immer, die Fabrik will dies und das, aber in Wirklichkeit willst du es! Du willst uns rausdrängen, du willst alles bestimmen, du willst alles verdienen ...«

»Da ich alle Arbeit tue, ist es nur recht, dass ich am meisten verdiene. Und wie ich mein Geld ausgebe, ist meine Sache, jedenfalls nicht für alberne Ölbilder nichts könnender Kleckser und gestammelte Verse fauler Poetaster wie du!«

Plötzlich ist der Jüngere ganz ruhig geworden. »Mit dir ist nicht zu reden«, sagt er kurz. »Du bist nichts weiter als ein dummer, blöder Materialist. Ich werde mit Mutter sprechen, die Fabrik wird wieder geöffnet werden!«

»Das glaubst du doch selbst nicht!«

»Und wenn sie nicht wieder geöffnet wird, dann gehe ich. Jawohl, dann reise ich nach den Staaten! Aber für mich, nicht für deinen verfaulten Betrieb in diesem verkommenen Lande! Ich will als Mensch leben!«

»In Amerika!«

»Ich will ich selber sein!«

»In Amerika!«

»Ich habe nichts mehr in Deutschland zu tun, wo alle alle aussaugen, jeder nur an sich denkt ...«

»Aber in Amerika!«

»Jawohl, in Amerika!«

»Mit einem hübschen Scheckbuch ..., das glaube ich!«

»So viel für dein Scheckbuch! Ich will ich selbst sein – ich werde arbeiten!«

»Du ...!« Der Bruder bricht in ein Gelächter aus. »Du willst arbeiten? Du, der nie eine Arbeit richtig fertig gemacht hat, weder in der Schule noch hier in der Fabrik? Du willst von deiner Arbeit leben? Glückliche Reise, mein Sohn! in vier Wochen sehen wir deinen ersten Scheck, und in einem Vierteljahr schlachten wir das fette Kalb für den verlorenen Sohn!«

Er sieht den Bruder mit verhohlenem Triumph an, jetzt hat er ihn da, wo er ihn haben will!

»Nie!«, schreit der Jüngere. »Nie! Entweder komme ich heim als großer Mann oder ...«

Er macht eine wilde Gebärde gegen die Tür und geht.

Der Ältere starrt ihm nach. Dann zieht er langsam ein großes seidenes Tuch aus der Tasche und trocknet sich das mit Schweiß bedeckte Gesicht ab. Mit einem behaglichen Aufseufzen lässt er sich wieder in seinen Sessel sinken, wählt eine Zigarre, schneidet sie ab, entzündet sie und zieht langsam den Rauch ein.

Nun greift er zum Telefon.

»Fräulein Krause, verbinden Sie mich bitte sofort mit meiner Mutter.«

 

Mutter und Sohn

Hinter der hässlichen roten Mauer liegt nicht nur die stillgelegte Fabrik der Wiebes mit ihrem kalten, berechnenden Syndikus. Hinter den Lagerhöfen, hinter einer zweiten Mauer liegt auch die Villa der Besitzer, von Frau Erna Wiebe, die dort mit ihren beiden unverheirateten Söhnen Thomas und Johannes wohnt. Es ist die übliche Backsteinvilla der neunziger Jahre, mit Dächern, Türmchen, Erkern, Zuckerhutspitzen, ein Ding aus dem Steinbaukasten, noch verhässlicht durch ein paar moderne Arbeiten wie Glasveranda und Autoauffahrt.

Frau Erna Wiebe, eine stattliche, nicht schlecht aussehende mittelalterliche Dame – aber eben Dame –, steigt aus dem Auto – es dämmert nun schon wieder, aber nun ist es die Abenddämmerung – und geht in das Haus.

In der Halle nimmt ihr ein Mädchen die Überkleider ab. Auch die Halle ist ein Produkt der neunziger Jahre mit Geweihkronleuchtern, massigen dunklen Möbeln, einer zufällig erworbenen Ritterrüstung, die unter der vergrößerten Fotografie eines Wiebe’schen Ahnherrn, der noch Hufschmied war, steht. Viel Samt, viel gepresster Plüsch, noch mehr Troddeln. Ab und zu ein schönes Stück, aber es kommt nicht zu seiner Geltung, weil Schäuel und Gräuel es bedrängen.

Frau Wiebe geht durch all diese mit »ererbtem Wohlstand« angefüllten Zimmer. Sie hat das Mädchen gefragt: »Mein Sohn Johannes?«, und das Mädchen hat in einem gewissermaßen kondolierenden Ton geantwortet: »Der junge Herr ist noch immer oben.« Darauf hat Frau Wiebe gefragt: »Hat er sich noch zu essen geben lassen?«, und das Mädchen hat in demselben trübseligen Ton »Nichts!« geantwortet.

Nun geht Frau Wiebe zu ihrem Sohn Johannes. Sie geht, ohne sie zu sehen, durch all diese öden, längst verstorbenen Zimmer, zögert einen Augenblick vor einer Tür, beugt sich ein wenig, lauscht, klopft dann, in plötzlichem Entschluss, energisch und tritt ein, ohne das »Herein« abzuwarten.

Der Sohn hat am Fenster gestanden und in den entlaubten, immer trüber und dunkler werdenden Garten hinausgesehen, genau so, wie er schon dastand, als seine Mutter vor Stunden von ihm fortging. Jetzt wendet er ihr langsam das Gesicht zu.

Aber die Mutter ist nicht gesonnen, diese Unterredung im Halbdunkeln zu halten. Sie schaltet sofort alle Flammen ein, und das Licht enthüllt nun ein sehr anderes Zimmer, als die sind, durch die sie eben gegangen – das Zimmer eines jungen unausgeglichenen Menschen, halb puritanisch, halb luxuriös, mit wenigen strengen Möbeln, aber dicken Teppichen, mit glatten Wänden, aber drei, vier Bildern (die Bilder sind, keine »Ansichten«), mit einer Bücherwand, aber auch mit einem Medizinball.

»Stehst du noch immer am Fenster?«, fragt die Mutter lebhaft. »Setze dich, Hannes – du hättest lieber etwas essen sollen! Nein, rauche jetzt nicht. Rauchen ist in deinen Jahren immer schädlich und nun erst auf leeren Magen!«

»Nun?«, fragt der Sohn, ohne viel auf diese mütterlichen Ermahnungen zu achten, denn er brennt sich doch eine Zigarette an.

»Du fragst: nun? Also, ich bin bei deinem Bruder gewesen. Ihr habt euch die üblichen brüderlichen Grobheiten gesagt, diesmal vielleicht etwas mehr als üblich – das ist nicht tragisch. Ein paar Monate Trennung werden das schon ausgleichen.«

»Und die Fabrik?«

»Mit welcher Hartnäckigkeit du plötzlich auf der Fabrik bestehst! Sonst war dir Vaters Werk ziemlich egal, und du warst ganz froh, dass dein Bruder und ich dir alle Arbeit abnahmen. Also, die Fabrik bleibt natürlich geschlossen. Ich bin noch einmal mit Blohm, der doch wahrhaftig nicht deines Bruders Freund ist, alle Unterlagen durchgegangen. Der Betrieb trägt sich jetzt gerade noch, bald würden wir zulegen.«

»Und wir sind zu arm, um einmal ein paar Monate zuzulegen?«

»Rede doch keine Albernheiten, Hannes – bist du ein Sozialist? Eine Fabrik ist ein Geschäftsunternehmen und wird nach geschäftlichen Grundsätzen geführt. Unser Privatvermögen hat damit gar nichts zu tun.«

»Stammt aber aus den Erträgnissen der Fabrik!«

»Wahrhaftig, Hannes, dein Bruder hat recht: du bist ja ein halber Kommunist. Aber über diese Dinge wollen wir nicht reden. Du bist bisher recht zufrieden gewesen, dass ein Privatvermögen da war.«

»Und jetzt habe ich etwas verstanden, nämlich, dass man nicht alle Last auf die Rücken der Schwachen abladen darf. Ich habe unsere Monteure vor der Fabrik stehen sehen.«

»Thomas hat mir das erzählt. Das hat dein Herz bewegt – macht dir alle Ehre, Hannes. Aber haben wir schließlich diese Leute arbeitslos gemacht? Die Regierung mit ihrer verfehlten Politik ist schuld. Schließlich weißt du es schon länger aus den Zeitungen, dass es in Deutschland soundso viel Arbeitslose gibt, dass da nun grade unsre zwölf dein Herz so bewegen ...«

Johannes in plötzlichem Ausbruch: »O Mutter, hör auf! Ich kann das nicht hören. Du bist doch meine Mutter, ich weiß doch, du hast ein gutes, weiches Herz, und du redest von denen vor den Toren, als seien es ganz andere Menschen, die nichts Gemeinsames mit uns zu tun haben!«

»Es sind auch andere Menschen!«

»Da war ein alter Mann, der hat mir seine durchlöcherte Schuhsohle gezeigt. Da war Martin, der Junge vom Gärtner Raschke, mit dem ich früher gespielt habe – wie ein alter Mann sah er aus, und er ist ebenso alt wie ich! Mutter, ich empfinde es wie eine Schuld, dass ich hier mit heilen Kleidern in einem gut geheizten Zimmer sitze, und die da draußen in der Nässe ... Ich ertrage es nicht! Mutter, mach die Fabrik wieder auf, gib ihnen wenigstens dies bisschen Arbeit! Ich will feierlich vor allen Notaren und in allen Verträgen, die mein Herr Bruder für gut befindet, auf meinen Anteil an Fabrik und Vermögen verzichten.«

Die Mutter, nun gar nicht mehr Dame, sondern nur noch Mutter, zieht mit einer plötzlichen zärtlichen Gebärde seinen Kopf an sich.

»Mein armer Junge! Wie du leidest! Wie ich dich wiedererkenne! Du konntest nie ein Tier leiden sehen – diese elende Zeit ist viel zu viel für dich ...« In ärgerlichem Ton: »Dass diese albernen Kerle auch gerade vor dem Tor stehen mussten!«

Der Sohn, hoffnungsvoll, nahe der Mutter: »Du wirst die Fabrik wieder öffnen, ja, Mutter?«

Die Mutter richtet sich straffer auf, die zärtliche Minute ist vorüber.

»Aber das ist unmöglich, Hannes! Sieh es doch ein! Man führt keine Fabrik mit zärtlichen Gefühlen.«

Der Sohn, erst halb und halb entschlossen, sich vor den Folgen des eigenen Entschlusses fürchtend: »Dann muss ich fortreisen ...«

Die Mutter herzlich: »Natürlich – ich halte es auch für das Beste. Reise eine Weile, sieh dir die Staaten an. Es soll da auch nicht mehr so blühend aussehen. Geh nach Südamerika, bleibe ein, zwei Jahre dort. Wir – ich werde dich vermissen, aber ...«

»Nein, Mutter, nicht so. Wenn ich reise, nicht so. Wenn ich jetzt von euch gehe, dann trenne ich mich von euch. Nicht von dir, Mutter, aber von – ihm und von Vaters Werk, das ihr falsch, verderblich führt, wie ich fühle.«

»Und von was willst du leben, mein armer Träumer? Die Welt draußen wird« – Blick durchs Zimmer – »keine Stuben voll Ölbilder und geliebter Bücher für dich bereithalten. Die Welt ist hart, nicht nur vor den Fabriktoren deines Vaters, überall ist sie hart.«

»Ich kann auch hart sein! Mutter, wenn ich jetzt reise, hast du dich gegen mich und für Thomas entschieden!«

Die Mutter, in einem anderen, schärferen Ton: »Soll das eine Drohung sein, Johannes?«

»Keine Drohung. Aber es soll dir sagen, dass deine Entscheidung mir die Rückkehr zu euch, in dieses Werk unmöglich macht. Wenn ich reise, reise ich für – immer!«

Die Mutter kälter: »Ich habe schon von Thomas gehört, dass du solche Drohungen in der Hitze ausgesprochen hast. Dass du sie jetzt mit kälterem Blut wiederholst, ist nicht gut, mein Sohn. Auf solche Drohungen öffne ich die Fabrik nicht, aber ich beginne kleiner zu denken von meinem Sohn!«

»Wir denken so verschieden ...«

»Aber wir lieben uns doch, Hannes! Wir sind doch Mutter und Sohn!«

»Aber die Mutter will kein Tittelchen ihrer geschäftlichen Überzeugung für den Sohn opfern.«

»Ich habe zwei Söhne – und, verzeihe, Hannes, der ältere  war bisher der tüchtigere, zielbewusstere, erfolgreichere.«

Der Sohn, in plötzlichem Entschluss: »Gut, Mutter. Du hast entschieden. Ich reise!«

Die Mutter, immer bemüht einzulenken: »Also reise! Es wird mir schwer. Und schreibe – schreibe oft. Und komm bald wieder ...«

»Du weißt, Mutter ...«

»Ich weiß nichts. Ich habe nichts gehört. Lege dich nicht unheilvoll fest. Du ahnst nicht, in welche Lagen dich das Leben draußen noch bringen wird. Denke immer daran, dass ich deine Mutter bin«, leise: »Ich bin das Herz, das dir gehört ...«

»Ich werde immer an dich denken!«

»Auf Wiedersehen, Johannes!«

Er schweigt.

»Auf Wiedersehen, Johannes!«

Er schweigt.

»Johannes, deine Mutter sagt dir auf Wiedersehen!«

Er mühsam: »Ich hoffe – Mutter, auf Wiedersehen!«

 

Reisebilder

Wenn Johannes Wiebe noch viele Jahre später an seine Ausreise nach den Staaten und an seine erste Zeit dort dachte, so schien ihm das alles wie ein endloser, wirrer Traum, grau in grau, allmählich immer tiefer grau werdend. Einzelne Bilder hoben sich mit stärkerer Leuchtkraft aus der allgemeinen Düsternis, aber der Grundton, der sich in allem Erleben wiederfand, war doch der einer tiefen Verzweiflung, die immer stärker wurde, bis sie schließlich seine ganze Seele erfasst hatte.

Zu Anfang hatte er noch manchmal lachen, sich an Neuem freuen, sich für Absonderliches interessieren können. Schließlich aber wohnte nur noch eine dunkle Verzweiflung in ihm, die nichts mehr lichten konnte, ein Gefühl, dass alles umsonst war, dass er nur noch vegetierte, weil er keine Wurzeln mehr hatte, die in einen Heimatboden fassten – er war nirgends mehr zu Hause.

Er war ja nicht gerne aus der Heimat fortgegangen, sosehr er sich das auch einreden wollte. Im Zorn hatte er gesagt, dass er von ihnen allen fortwollte – und da schienen sie plötzlich alle sein Gehen so selbstverständlich zu finden, dass er nicht mehr zurückkonnte. Er war ja noch sehr jung, und er war dazu noch ein sehr weicher, recht verwöhnter Junge, es war eigentlich unverständlich, dass sie ihn so gehen ließen. Er hatte etwas aufzugeben, seine geliebten Bilder und Bücher, ein wohlgeordnetes Heim, die Liebe einer sehr guten, wenn auch in den letzten Jahren ein wenig fremd gewordenen Mutter – aber das merkte er erst später, wie viel es war, was er aufgegeben hatte.

Aus dem Wust der trüben Erinnerungen hebt sich jene Nacht heraus, da er gehen musste, die Mutter hatte ja »auf Wiedersehen« gesagt. Er hat wieder lange im dunklen Zimmer am Fenster gestanden, aus dem dunklen, entlaubten Garten stieg ein trüber Dunst, ihn schauerte. Keiner kam zu ihm, keiner gab ihm ein gutes Wort ...

Er tritt vom Fenster zurück, schließt es, macht Licht, ordnet seine Papiere. Es ist alles schon da, der Pass mit seinem Visum, die Dampferkarte – natürlich 1. Klasse, wie es sich für einen Sohn aus reichem Hause gehört –, auch Geld. Reichlich viel Geld für den Anfang eines Mannes, der sich sein Geld selbst verdienen will.

Einen Augenblick hält er sein Scheckbuch zögernd in der Hand, dann überkommt ihn der Hass auf den Bruder. Durch des Bruders Hände würde jeder Scheck gehen, den er drüben ausgibt, der Bruder würde befriedigt und höhnisch grinsen: ›Siehst du, solch Bürschchen bist du! Habe ich doch recht gehabt!‹

Er legt das Scheckbuch offen auf seinen Tisch, jeder Schritt, den er tut, trennt ihn schon von der Heimat, wirft ihn der Fremde in die Arme. Aber dieses Hassgefühl ist doch so stark, dass es ihn den Koffer aufnehmen und aus dem Zimmer gehen lässt.

Langsam geht er durch das Haus, den Koffer in der Hand, lange bleibt er vor dem Zimmer seiner Mutter stehen. Wenn sie doch käme, wenn sie ihn so sähe – den Sohn, der sein Vaterhaus verlässt!

Aber sie kommt nicht. Das Haus ist totenstill.

Wie er nun die Treppe zur Diele hinabsteigt, beseelt ihn von neuem die Hoffnung, die Mutter könnte unten sitzen, ihn abfangen wollen.

Aber wiederum nichts. Die Diele ist leer und dunkel. Er stößt gegen den eingeschmuggelten Ritter, der Ritter klappert blechern – aber nichts rührt sich. Er öffnet die Haustür. Drei Minuten steht er in der Haustür und wartet noch einmal, eine letzte Chance – für die andern.

Dann fällt die Tür seines Vaterhauses hinter ihm zu, es hallt dumpf wider. Er steht und lauscht dem Schall nach – hundertmal, zehntausendmal ist diese Tür hinter dem Kind, dem Knaben, dem Jüngling Johannes Wiebe zugeschlagen: diesmal scheint der Ton anders zu sein. Es hallt  nicht nur im Haus, es hallt auch in seinem Herzen wider.

›Nun komme ich nie wieder zurück‹, denkt er und versucht dann, es sich halblaut vorzusprechen. Aber das begreift sich noch nicht. Noch nicht!

Auf dem Fabrikhof springt Bella, die Wachhündin, ihn an. Er streichelt sie eine Weile, bis der alte Wächter Lobrian heran ist. Er muss noch mit einem Menschen hier sprechen, ehe er ganz fortgeht.

»Guten Abend, junger Herr«, mummelt der Alte. »Soll ich Ihnen den Koffer tragen?«

»Nein, danke, Lobrian. Wenn Sie mir nur die Pforte aufschließen wollten?«

»Sie gehen wohl wieder auf Reisen, junger Herr?«

»Ja, Lobrian, und diesmal weit fort, bis nach Amerika!«

»Nach Amerika! Sie haben es aber gut, junger Herr, da soll es Arbeit und Essen die Fülle geben!«

»Die haben auch ihre Sorgen, Lobrian.«

»Glauben Sie das doch nicht, junger Herr! Ich habe es doch gelesen, wie gut es denen geht. Warum sollte es uns so schlecht gehen, wenn es nicht andern dafür gutgeht?! Es gleicht sich alles aus auf dieser Erde, junger Herr!«

»Glauben Sie das wirklich, Lobrian? Ach, seien Sie doch so gut und sehen Sie einmal auf der Straße nach, ob da wer von unseren Arbeitern steht.«

Plötzlich ist dem jungen Johannes die Angst überkommen, da könnte noch einer von den Monteuren stehen und die Erfüllung seines Versprechens verlangen, dass morgen die Arbeit wieder anfängt, etwa der Martin Raschke ... Wie ein Wortbrüchiger, wie ein Fahnenflüchtiger kommt er sich vor!

»Da ist niemand, junger Herr. Wer soll auch da sein? Wir haben doch zugemacht.«

»Ja, wir haben zugemacht. Gute Nacht, Lobrian, und hier ...« Er gibt dem Wächter Geld, er kann es nicht lassen, er ist der junge Herr aus gutem Hause.

»Danke schön, junger Herr, und glückliche Reise! Und kommen Sie gesund zurück!«

»Vielleicht komme ich gar nicht zurück?«

»Ih, wie werden Sie nicht! Sie denken, weils da drüben so gut aussieht und hier so schlecht? Das wendet sich auch einmal, dann sind wir oben, und die sind unten. Da werden Sie doch nicht fehlen wollen?«

Und ein anderes Bild taucht auf. Im Hamburger Hafen liegt der Dampfer, und die Auswanderer gehen an Bord. Fahle Gestalten, jämmerliche Gestalten – mit jämmerlichem Sack und Pack. Johannes Wiebe sieht von seinem Promenadendeck auf sie hinunter, wie sie an Bord zotteln, einem ungewissen Schicksal entgegen, mit weinenden Frauen und plärrenden Kindern.

Und doch beneidet! Denn an Land steht ein dichter Schwarm derer, die ebenso zerlumpt, ebenso verzweifelt sind, denen aber das Schicksal nicht die Gunst geschenkt hat, Einwanderungserlaubnis in die Staaten zu erhalten.

»Ach, Tilly, wein doch bloß nicht. Ihr habt’s doch jetzt geschafft, drüben habt ihr gleich Arbeit. Und in sechs Monaten fahrt ihr ’n eignes Auto!«

»Schick gleich Dollar. Du weißt, Omi hat’s kaum noch zum Leben.«

»Ach, wer da auch mitfahren könnte! Nur raus aus dem Dreck!«

»Hier wird man doch nie wieder was!«

»Sieh doch bloß mal den Ausgemergelten, der so hustet! Den Schwindsuchtskandidaten lassen sie rüber an all die schöne Arbeit, und wir, mit unsern guten Knochen, dürfen weiter stempeln!«

Ja, dies war einer der Momente, da die Wolke sich lichtete, da sich Johannes Wiebe wie ein Bevorzugter vorkam. All diese Überladenen, Verarbeiteten, Besorgten hatten noch den Mut zu einem guten Start – wie sollte er ihn nicht haben müssen? Er fing drüben ganz anders an.

Dann, als die Küste Deutschlands langsam verschwunden war, saß er im Rauchsalon neben einem Deutsch-Amerikaner.

»Ich habe mir the old country angeschaut«, sagte der Deutsch-Amerikaner. »Aber ich leike es gar nicht more.«

»Was tun Sie nicht?«

»Ich leike es nicht. Wie sagen Sie in Deutsch? To like?«

»Sie lieben es nicht mehr?«

»Nein, es ist – nonsense! Alles Bruch. Aber God’s own land ...« Der Mann beniest es. Er wischt sich die Nase.

»Ich muss mich vor Zug sorgen. Ich habe einen Kalt.«

»Was haben Sie? Wie lange sind Sie denn schon drüben? Sie können ja kaum noch Deutsch!«

»Ein Jahr – aber das Deutsche verlernen Sie schnell. Das Deutsche ist alles Mist. Wir Amerikaner ...«

»Sie Affe!«, hatte der junge Johannes Wiebe gesagt und war aufgestanden. So sehr deutsch fühlte er sich damals noch. Er hatte ja grade erst die Heimat verlassen, er spürte noch nicht, dass er die Wurzeln ohne Erde hinter sich dreinschleppte.

Aber das gab sich, es gab sich so schnell.

Er erinnert sich an seine erste Hotelnacht in New York. Man hatte ihn in das Hotel des Vereins Christlicher Junger Männer geschickt, also ein Hospiz, wie er gedacht. Aber es war ein Wolkenkratzer. Er bekam Zimmer 997. Ein kleines Loch mit Bett, Stuhl, Garderobenständer, Spiegel.

Sonst noch etwas? Nichts sonst.

Er musste sich am Morgen im Toilettenraum waschen.

»Kann ich hier nicht irgendwo ein Privatbad haben?«, fragte er fast verzweifelt. »Ich bin gerne für mich allein.«

»Aber nein, mein Herr, ganz ausgeschlossen! Wir Amerikaner machen alles gemeinsam: ein Land, ein Geschmack, eine Idee – ein Waschraum. Bitte sehr! Es wird Ihnen schon gefallen!«

Und wie es ihm gefiel! Mit vierzig, fünfzig jungen Amerikanern in einem Waschraum! Sie singen, sie gurgeln, sie putzen Zähne, schlagen Türen, johlen, schneiden sich die Fußnägel – eine halbe Stunde muss er stehen, bis ein Waschbecken für ihn frei ist.

Wie ein Traum steigt vor ihm das Zimmer daheim auf. Hat er nicht so etwas gesagt, er wolle nach Amerika, um ein Mensch für sich zu sein? Der Bruder hatte gelacht – sollte der Bruder recht gehabt haben zu lachen?

Aber das war erst der Anfang.

Er erinnert sich schrecklicher italienischer Restaurants aus dieser ersten Zeit, mit schwärzlichen Kellnern, schwärzlichen Hemden und schmierigen Fräcken. Alles schreit, spuckt, schwatzt, bohrt in den Zähnen und bohrt in der Nase. Alles Essen ist Normalfraß.

Und er erinnert sich an Kaffeestuben, wo er vom laufenden Band alles nimmt, was er braucht: Kaffee und Milch, Haferbrei und Sandwichs, Normalfrühstück, geistlos, lieblos ...

Und er erinnert sich an einen Arbeiter im Bus, der ihm ein Taschenmesser in die Hand gibt und von ihm verlangt, er solle ihm einen Splitter aus der Hand schneiden – er, das Söhnchen aus feinem Hause, vor allen Leuten im Bus, einem Arbeiter. Er hat einmal ein echtes Gefühl mit den zerrissenen Sohlen eines alten Arbeiters gehabt, er hat schon manches echte Gefühl in seinem Leben gehabt, die Resultate waren gering.

Er erinnert sich an schreckliche Kinovorstellungen, wo zwischen den Bildern die albernsten Schlagertexte auf der Leinwand erschienen, und das ganze Publikum singt begeistert schreiend mit, außer sich vor Vergnügen.

Und er erinnert sich schöner Konzerte, die das Publikum nur dazu benutzt, sich zu zeigen, mit Brillanten und nackten Brüsten, mit den schönsten Frauen, mit den berühmtesten Stars.

Er fühlt sich namenlos allein. Er weiß nichts mit sich anzufangen, er ahnt nicht, welche Arbeit er unter diesem brutalen, unbekümmerten, spuckenden und schreienden Volk tun könnte! Langsam schwindet seine Barschaft dahin, so ängstlich er sie hütet, wie gering er seine Ansprüche auch stellt.

Und er erinnert sich gut, wie ihm einmal, in einer nordamerikanischen Stadt, in seinem kleinen Hotel der Portier einen Brief hinhält: »For you, Mister Wiebe?«

Er erzittert, als er diesen Brief nimmt, auf dem er die Handschrift seiner Mutter erkennt.

Er geht mit ihm auf sein kahles Loch, er legt ihn vor sich auf den Tisch, er starrt ihn an.

Er ist allein mit diesem Brief aus der Heimat, von der Mutter. Drunten auf der Straße braust und strudelt es vorüber, zehntausend Menschen, Autos, Lastwagen, das Gebrüll einer Stadt mit Mädchen, Liebe, Feindschaften, Frauen, Hass, Arbeit – er aber ist allein mit seinem Brief.

Dreimal nimmt er ihn in die Hände, um ihn durchzureißen. Er legt ihn wieder auf den Tisch zurück.

Er hat Angst, schwach zu werden, wie der verlorene Sohn in die Heimat zurückzukehren, dem man ein fettes Kalb schlachten muss, um ihn nur satt zu kriegen.

(Oh, das freche, höhnische Gesicht seines Bruders – ohne dies Gesicht wäre alles so einfach! Vor einer Mutter schämt man sich doch nicht!)

Schließlich öffnet er den Brief – zwei Blätter liegen darin: ein Scheck und ein Briefblatt seiner Mutter. Es stehen nur sechs Worte darauf, aber sie treffen ihn ins Herz. »Deine Mutter wartet auf dich, Hannes«, liest er.

Er legt den Kopf auf den Tisch und träumt. Vielleicht weint er auch ein wenig, wer weiß, man sieht es nicht.

Schließlich, nach einer langen Zeit, sieht er hoch.

Er liest noch einmal den Brief seiner Mutter, trotzdem er jedes Wort in ihm kennt. Dann legt er ihn sorgfältig in die – ach! – so dünn gewordene Brieftasche.

Den Scheck aber zerreißt er mit beiden Händen in viele kleine Schnitzel.

Dann nimmt er seinen Koffer und geht wieder einmal aus seinem Zimmer, weiter auf seiner Irrfahrt – ins Nichts.

 

Der Arbeiter

In einer Automobilfabrik in Detroit steht Johannes Wiebe am laufenden Band der Motorenmontage und setzt Muttern auf. Langsam laufen, mit ihrer Unterseite nach oben, die Motoren an ihm vorüber. Acht Muttern hat er auf acht Bolzen zu stecken, weiter nichts. Er muss sie nicht umdrehen, er braucht sie nur aufzustecken.