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Autor

EDMOND ABOUT (14. Februar 1828 in Dieuze – 16. Januar in Paris 1885) war ein französischer Schriftsteller, Journalist und Kritiker der französischen Literatur. Nach einem dreijährigen Aufenthalt in Athen ließ er sich 1853 als Schriftsteller in Paris nieder. Neben seinen Novellen und Romanen versuchte er sich auch an dramatischen Werken, ohne nennenswerten Erfolg. Ab 1861 schrieb About für das Feuilleton der Tageszeitung Opinion Nationale, in seinen wöchentlichen Berichten widmete er sich politischen und sozialen Problemen. 1884 wurde er als Nachfolger von Jule Sandeau als Mitglied in der Académie Française.

Der Roman Germaine entstand 1857.

Edmond About

Germaine

Aus dem Französischen übersetzt von Anke Kleinewiese

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© 2017 Edmond About

Übersetzung: Anke Kleinewiese

Illustration Cover: Anke Kleinewiese

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreihe 40-44,

22359 Hamburg

ISBN

Paperback:978-3-7439-0877-2
Hardcover:978-3-7439-0878-9
e-Book:978-3-7439-0879-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

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Inhaltsverzeichnis

Die Neujahrsgeschenke der Herzogin

Der Heiratsantrag

Die Hochzeit

Die Reise nach Italien

Der Herzog

Briefe aus Korfu

Der neue Hausangestellte

Schöne Tage

Briefe aus China und aus Paris

Die Krise

Die Witwe Chermidy

Der Krieg

Das Messer

Die Gerechtigkeit

Das Ende

Die Neujahrsgeschenke der Herzogin

Etwa in der Hälfte der Rue de l’Université, zwischen den Nummern 51 und 57, sieht man vier Herrenhäuser, die durchaus zu den Schönsten von Paris zu zählen sind. Das erste gehört Monsieur Pozzo di Borgo, das zweite dem Grafen von Mailly, das dritte dem Herzog von Choiseul, und das letzte gehört dem Baron von Sanglié. Dieses liegt an der Ecke der Rue de Bellechasse.

Das Herrenhaus der Sanglié ist ein Gebäude von edler Erscheinung. Die Toreinfahrt öffnet sich zu einem sorgfältig mit Sand bedeckten und mit hundertjährigen Weinpflanzen besetzten Ehrenhof. Die Loge des Concierge liegt links, versteckt unter dickem Efeu, wo die Spatzen und die Portiers gleichstimmig schwatzen. Am Ende des Hofes rechts befindet sich eine große, von einer Marquise geschützten Freitreppe, die zu dem Vestibül und der großen Treppe führt. Das Erdgeschoss und die erste Etage werden allein nur von dem Baron bewohnt; er genießt ungeteilt einen großen Garten, der an andere Gärten angrenzt, bevölkert von Grasmücken, Amseln und Eichhörnchen, die sich in voller Freiheit von einem Garten zum nächsten bewegen können, als wären sie Einheimische des Waldes und nicht Bewohner von Paris.

Die Wappen der Familie Sanglié, mit Wachs gemalt, wiederholen sich auf allen Mauern des Vestibüls. Es ist ein goldenes Wildschwein auf einem roten Untergrund. Das Wappenschild wird gestützt von zwei Windhunden und überragt von einer Krone des Barons mit dieser Inschrift: SANG LIÉ AU ROY. Ein halbes Dutzend lebhafter Windhunde, nach Lust und Laune gruppiert, tollen am Fuß der Treppe, knabbern an den Blüten des Ehrenpreises in den japanischen Vasen, legen sich auf den Teppich und recken ihre schlanken Köpfe in die Höhe. Die herrschaftlichen Diener sitzen auf den Bänken aus Beauvais und kreuzen feierlich die Arme, wie es sich für Leute aus gutem Haus gehört.

Am ersten Januar 1853, gegen 9 Uhr am Morgen hielten alle Angestellten des Hauses unterhalb des Vestibüls eine lautstarke Versammlung ab. Der Verwalter des Barons, Monsieur Anatole, hatte ihnen gerade ihr Neujahrsgeld verteilt. Der Oberkellner hatte fünfhundert Francs erhalten, der Hausdiener zweihundert Francs. Der am wenigsten in der Gunst stehende Küchenjunge betrachtete mit einer unbeschreiblichen Zärtlichkeit zwei schöne, ganz neue Louis d’or. Es gab schon Eifersüchtige in der Versammlung, aber keinen Unzufriedenen und jeder sagte in seiner Sprache, welches Vergnügen es sei, einem so reichen und großzügigen Herrn zu dienen.

Diese Herrschaften bildeten eine sehr malerische Gruppe rund um eines der Heizungsrohre. Die Frühaufsteher trugen bereits die große Livrée, die anderen eine mit Ärmeln versehene Weste als einfache Uniform der Hausangestellten. Der Kammerdiener war ganz in schwarz gekleidet, mit gewebten Hausschuhen. Der Gärtner ähnelte einem sonntäglich gekleideten Dorfbewohner, der Kutscher trug eine Strickjacke und einen mit einer Borte versehenen Hut, der Concierge kam mit goldenem Gürtel und mit Holzschuhen. Man sah hier und da, entlang der Mauer, eine Peitsche, einen Striegel, einen Wachsstock, einen Deckenbesen, und Federn, deren Anzahl ich nicht nennen kann.

Der Hausherr schlief bis zum Mittag wie ein Mann, der die Nacht im Club verbracht hat; man hatte also Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Jeder hatte schon im Voraus eine Verwendung für sein Geld gefunden und Luftschlösser sind leicht zu bauen.

Alle Menschen, ob groß oder klein, gehören zu der Familie Perrette aus der Fabel von La Fontaine, die einen Milchtopf trug.

„Damit und mit dem, was ich auf die Seite lege, sagte der Oberkellner, werde ich meine Leibrente aufbessern. Es gibt jede Menge zu tun, Gott sei Dank! Und es wird einem auf die alten Tage an nichts fehlen.“

„Bei Gott!“ antwortete der Kammerdiener, „Sie sind noch jung, Sie brauchen nur an sich zu denken. Aber ich, ich habe Familie. Deswegen gebe ich auch mein Geld dem jungen Mann, der an die Börse geht. Er wird mir da was rausholen.“

„Das ist eine gute Idee, Monsieur Ferdinand,“ antwortete der Küchenjunge. Bringen Sie ihm dann auch meine vierzig Francs, wenn Sie zu ihm gehen.“

Der Kammerdiener antwortete in einem beschützenden Ton: „Er ist jung! Was kann man an der Börse mit vierzig Francs machen.“

„Nun,“ sagt der junge Mann, unterdrückte dabei einen Seufzer, „ich bringe es auf die Bank!“

Der Kutscher brach in Gelächter aus. Er schlug auf seinen Bauch und schrie: „Meine eigene Bank, das ist die hier. Das ist der Ort, an dem ich stets meine Einkünfte gelassen habe und damit bin ich gut gefahren. Stimmt es, Vater Altroff?“

Vater Altroff, Schweizer von Beruf, Elsässer von Geburt, groß, robust, schwerer Knochenbau, dickbäuchig, breite Schultern, großer Kopf, hochrot wie ein junges Flusspferd, lächelte aus den Augenwinkeln und machte mit seiner Zunge ein kleines Geräusch, welches ein langes Gedicht wert war.

Der Gärtner, auserlesener Bewohner der Normandie, ließ sein Geld in der Hand klingen und antwortete dem Vorredner zustimmend: „Wie gewonnen, so zerronnen! Versäufst du Dein Geld, hast du es nicht mehr. Es gibt keine bessere Anlage als ein Versteck in einer alten Mauer oder einem hohlen Baum. Ist das Geld gut versteckt, können die Notare es nicht ausgeben!“

Die Versammlung ereiferte sich über die Naivität des Mannes, der seine Taler lebendig vergräbt, statt sie für sich arbeiten zu lassen. Fünfzehn oder sechszehn Ausrufe ertönten zur gleichen Zeit. Jeder gab seine Meinung kund, verriet sein Geheimnis, setzte auf seinen Tick und seine Marotte. Jeder klopfte auf seine Tasche und nährte lautstark gewisse Hoffnungen, das klare und flüssige Glück, das man am Morgen erhalten hatte. Das Gold vermengte seine kleine spitze Stimme mit dem Konzert gewöhnlicher Leidenschaften und das Klimpern der Zwanzigfrancsstücke, gehaltvoller als die Blume des Weines oder der Duft von Puder, berauschte jedem den kümmerlichen Verstand und beschleunigte das Schlagen dieser groben Herzen.

Als der Tumult seinen Höhepunkt erreicht hatte, öffnete sich eine kleine Tür zur Treppe zwischen dem Erdgeschoss und der ersten Etage. Eine Frau, in schwarze Lumpen gekleidet, stieg zügig die Stufen herab, durchquerte das Vestibül, öffnete die Glastür und verschwand im Hof.

Es war eine Sache von einer Minute und dennoch ließ diese dunkle Erscheinung die Freude der gutgelaunten Diener ersticken. Als sie vorbeiging, erhoben sie sich mit dem Ausdruck tiefen Respekts. Die Schreie stockten in ihren Kehlen und das Gold klimperte nicht mehr in den Taschen. Die arme Frau hatte eine Spur aus Schweigen und Fassungslosigkeit hinter sich gelassen.

Der Kammerdiener, ein starker Geist, war der Erste, der wieder zu sich kam.

„Du meine Güte“, schrie er, „ich habe das Elend persönlich vorbeigehen sehen. Nun ist mein Neujahrstag bereits am Morgen verdorben. Ihr werdet sehen, bis Sylvester wird mir nichts mehr gelingen. Brrr! Mir läuft es eiskalt den Rücken ‘runter.“

„Arme Frau!“, meinte der Butler. So etwas hat ein Vermögen gehabt und nun so etwas! Wer könnte glauben, dass sie eine Herzogin sei?“

„Es ist ihr Taugenichts von Ehemann, der alles verprasst hat.“ „Ein Spieler!“

„Ein Unersättlicher!“

„Ein Schürzenjäger, der von morgens bis abends auf seinen alten Beinen trottet, wegen seiner ganzen Weibergeschichten!“

„Er interessiert mich nicht, er bekommt nur, was er verdient hat.“

„Weiß man, wie es Mademoiselle Germaine geht?“

„Ihre schwarze Dienerin sagte mir, sie sei auf dem Tiefpunkt.

Sie spuckt ganze Taschentücher voller Blut.“

„Und sie hat nicht einmal einen Teppich in ihrem Zimmer! Dieses Kind kann nur in warmen Ländern genesen, in Florenz oder in Italien.“

„Sie wird ein Engel sein im Himmel des lieben Gottes.“

„Es sind die zu bedauern, die bleiben.“

„Ich weiß nicht, wie die Herzogin da herauskommt. Rechnungen ohne Ende bei allen Kaufleuten. Der Bäcker redet schon davon, ihr keinen Kredit mehr zu geben.“

„Wie teuer ist die Miete da oben?“

„Achthundert. Aber es würde mich wundern, wenn Monsieur jemals die Farbe ihres Geldes gesehen hat.“

„Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich die kleine Wohnung eher leer stehen lassen, statt Leute zu halten, die im Haus ihre Aufgaben verrichten.“

„Bist du dumm! Damit man den Herzog de La Tour d’Embleuse und seine Familie auf dem Bürgersteig einsammelt? Diese Armen, weißt Du, sind die Plagen des Faubourg: wir haben alles Interesse daran, sie zu verstecken.

„Nun,“ sagte der Küchenjunge, „es ist mir egal. Warum arbeiten sie nicht? Herzoge sind Menschen wie alle anderen.“

„Junge“ antwortete der Butler ernst, „Du sagst ungereimte Sachen. Ich als Dein Vorgesetzter werde nicht eine Stunde in meinem Leben Baron sein. Das ist der Beweis, dass sie nicht Menschen wie alle anderen sind ist. Übrigens ist die Herzogin eine erhabene Frau und sie macht Dinge, von denen weder Du noch ich in der Lage wären. Würdest Du ein ganzes Jahr zu jeder Mahlzeit Brühe essen wollen?“

„Schon klar! Lustig wäre das nicht, Brühe!“

„Nun, die Herzogin stellt alle zwei Tage Eintopf auf den Tisch, weil ihr Mann keine magere Suppe mag. Monsieur isst ein gutes Tapioca au gras mit einem Steak oder zwei Koteletts, während die arme Frau die letzten Bissen von den gekochten Resten schluckt. Ist das nun schön?“

Der Küchenjunge war in der Seele berührt. „Mein guter Monsieur Tournoy,“ sagte er zum Butler, „diese Leute sind sehr interessant. Könnte man ihnen nicht ein paar Süßigkeiten schicken lassen, wenn man sich mit ihrem Dienstmädchen verständigt.“

„Das sicher nicht. Sie ist ebenso stolz und würde nichts von uns annehmen. Und doch bin ich der Auffassung, dass sie nicht jeden Tag ein Frühstück bekommt.“

Diese Unterhaltung hätte noch lange so weitergehen können, hätte Monsieur Anatole sie nicht unterbrochen und dem Jäger, der zum ersten Mal seinen Mund öffnete, das Wort abgeschnitten. Die Versammlung zerstreute sich hastig, jeder Redner packte sein Arbeitswerkzeug und in dem Beratungsraum blieb nur noch ein gigantischer Besen zurück, den man Wolfskopf nennt.

Währenddessen lief Marguerite de Bisson, Herzogin de La Tour d’Embleuse mit raschem Schritt in Richtung Rue de Jacob. Die Passanten, die sie mit dem Ellbogen streiften, um ihre Neujahrsgeschenke zu geben oder zu erhalten, erinnerte sie an eine dieser verzweifelten Irländerinnen, die auf der Suche nach einem Centstück über die makadamisierten Straßen von London schlurfen. Die Herzogin, Tochter des Herzogs der Bretagne, Ehefrau eines alten Gouverneurs vom Senegal, trug einen schwarzgefärbten Strohhut, dessen Bänder sich wie Bindfäden bogen. Ein Hutschleier, der an fünf oder sechs Stellen durchlöchert war, versteckte kaum ihr Gesicht und gab ihr ein seltsames Erscheinungsbild. Dieser schöne Kopf, versehen mit weißen Flecken ungleicher Größe, schien durch Pocken entstellt zu sein. Ein altes Tuch aus Chinakrepp, geschwärzt durch die Färberei und gerötet durch das schlechte Wetter, ließ seine Spitzen, deren Rand den Schnee des Bürgersteigs berührten, hinunterfallen. Das sich darunter verbergende Kleid war so angegriffen, dass der Stoff nicht mehr zu erkennen war. Man hätte es von nahem mit der Lupe untersuchen müssen, um einen alten Moiréstoff zu erkennen, gefeilt, in den Falten geschnitten, von unten ausgefranst und von dem ätzenden Schlamm der Pariser Straßen aufgefressen. Die Schuhe, die diesen kümmerlichen Bau ertrugen, hatten weder Form noch Farbe. Die Wäsche zeigte sich nirgendwo, weder am Hals, noch an den Ärmeln. Manchmal, beim Vorbeigehen an einem Rinnsal, hob sich das Kleid rechts ein wenig hoch und bot einen Anblick auf einen Strumpf aus grauer Wolle und einen einfachen Rock aus schwarzer Baumwolle. Die Hände der Herzogin, gerötet durch eine stechende Kälte, versteckten sich unter einem Schultertuch. Sie schlurfte beim Gehen mit den Füßen, nicht aus Nachlässigkeit, sondern vielmehr aus Angst, die Schuhe zu verlieren.

In einem merkwürdigen Kontrast dazu, den Sie sicher auch bei anderen schon beobachten konnten, war die Herzogin keinesfalls mager, blass oder hässlich durch das Elend geworden. Sie hatte von ihren Vorfahren eine jener rebellischen Schönheiten geerbt, die allem widerstehen, selbst dem Hunger. Man hat schon Gefangene gesehen, die in ihrem Kerker bis zur Stunde des Todes Fett angesetzt haben. Mit siebenundvierzig Jahren bewahrte Madame de La Tour d’Embleuse sich die Reste jugendlicher Schönheit. Ihre Haare waren schwarz und sie hatte zweiunddreißig Zähne, die in der Lage waren, das härteste Brot zu zermahlen. Ihre Gesundheit war weniger blühend als ihre Figur, aber das blieb ein Geheimnis zwischen ihr und ihrem Doktor. Die Herzogin rückte an die gefährliche und manchmal tödliche Stunde heran, wo eine Frau verschwand, um Platz für die Urahnen zu machen. Mehr als einmal wurde sie von seltsamen Erstickungsanfällen ergriffen. Sie träumte oft, das Blut würde ihr die Kehle zuschnüren, sie ersticken. Unerträgliche Hitzeanfälle stiegen ihr stoßweise in den Kopf und sie wachte schweißgebadet auf und wunderte sich dann, nicht gestorben zu sein. Doktor Le Bris, junger Arzt und alter Freund, empfahl ihr eine sanfte Diät, ohne Anstrengungen und vor allen Dingen ohne Aufregung. Aber welche stoische Seele könnte so harte Prüfungen ertragen, ohne sich aufzuregen.

Herzog César de La Tour d’Embleuse, Sohn eines der treuesten Émigrés des Königs und fanatischsten Gegner des Landes, wurde für die Dienste seines Vaters wunderbar entlohnt. 1827 ernannte Charles X. ihn zum Generalgouverneur unserer Besitztümer im westlichen Afrika. Er war gerade vierzig Jahre alt. Während seiner achtundzwanzig Monate Aufenthalt in der Kolonie hielt er den Mauren und dem gelben Fieber stand und bat dann um Urlaub, um in Paris heiraten zu können. Er war reich dank der Abfindung von einer Milliarde und verdoppelte sein Vermögen, indem er die schöne Marguerite de Bisson ehelichte, der in Saint-Brieuc sechzigtausend Livre Rente gehörten. Der König unterzeichnete den Vertrag und die Verordnungen am selben Tag und der Herzog war sofort verheiratet und verabschiedet. Die neue Macht hätte ihn gern aufgenommen in der Menge der Überläufer und man sagt sogar, das Ministerium von Casimir Périer hätte ihm einige Avancen gemacht. Er aber verachtete alle Beschäftigungen, aus Stolz zunächst, aber ebenso durch eine unbesiegbare Faulheit. Sei es, dass er in drei Jahren seine gesamte Energie verbraucht hätte oder das angenehme Leben in Paris ihn mit einer unwiderstehlichen Anziehung zurückhielt, seine einzige Arbeit in den zehn Jahren war es, die Pferde im Bois spazieren zu führen und seine gelben Handschuhe im Foyer der Oper zu zeigen. Paris war eine neue Welt für ihn, denn auf dem Land hatte er unter der unerbittlichen Fuchtel seines Vaters gestanden bis zu dem Tag, an dem er in den Senegal ging. Er lernte die Freuden des Lebens so spät kennen, dass er keine Zeit hatte, ihnen überdrüssig zu werden.

Es schien alles gut für ihn zu laufen, der Genuss am Tisch, die Befriedigung der Eitelkeit, die Aufregung des Spiels, und selbst die nüchternen Freuden der Familie. Er zeigte zuhause die Eifrigkeit eines jungen Ehemannes und draußen in der Welt den Elan eines von der Familie befreiten Sohnes. Seine Ehefrau war die glücklichste Frau Frankreichs, aber sie war nicht die Einzige, die er beglückte. Bei der Geburt seiner Tochter im Sommer 1835 weinte er vor Freude. Im Übereifer seines Glückes kaufte er ein Landhaus für eine Tänzerin, nach der er verrückt war. Die Einladungen in seinem Haus hatten keine Konkurrenz, solange es nicht die Abendessen waren, die er bei seiner Maitresse gab. Die Welt, die immer nachsichtig mit Männern ist, verzieh ihm die Verschwendung seines Lebens und seines Vermögens. Man fand, dass er Dinge galant regelte, da seine außerehelichen Vergnügungen kein schmerzhaftes Echo in seinem Haus hervorriefen. Konnte man ihm mit gutem Gewissen vorwerfen, überall ein wenig von dem Überfluss seiner Börse und seines Herzens zu verteilen? Keine Frau bedauerte die Herzogin und in der Tat, sie war nicht zu bedauern. Er vermied es sorgfältig, sich zu kompromittieren, er zeigte sich in der Öffentlichkeit nur mit seiner Frau, und er hätte lieber auf eine Verabredung verzichtet, als sie allein zum Ball zu schicken.

Dieses Doppelleben und die Vorsichtsmaßnahmen, mit denen ein Kavalier es versteht, seine Vergnügungen zu verschleiern, griffen schnell sein Kapital an. Nichts in Paris ist teurer als der Schatten und die Diskretion. Der Herzog war zu sehr Grand Seigneur, um zu feilschen. Er konnte weder seiner Frau, noch der Frau eines anderen Mannes etwas abschlagen. Glauben Sie nun nicht, dass er den Schwund seines Vermögens nicht erkannte, aber er zählte auf das Spiel, um alles wieder zu beheben. Menschen, die im Schlaf zu ihrem Vermögen gekommen sind, gewöhnen sich an ein unbegrenztes Vertrauen in ihr Schicksal. Monsieur de La Tour d’Embleuse war glücklich wie jener, der die Karten das erste Mal in den Händen hält. Man schätzt, dass seine Gewinne des Jahres 1841 sein Einkommen mehr als verdoppelten. Aber nichts dauert ewig in dieser Welt, nicht mal das Glück im Spiel: diese Erfahrung sollte er bald machen. Die Liquidation von 1848, die viel Armut aufdeckte, lehrte ihn, dass er rettungslos ruiniert war. Unter seinen Füßen klaffte ein tiefer Abgrund. Ein anderer hätte den Verstand verloren, er jedoch verlor nicht einmal die Hoffnung. Er ging direkt zu seiner Frau und sagte fröhlich: „Meine liebe Marguerite, diese verfluchte Revolution hat uns alles genommen. Uns gehören keine tausend Francs mehr.“

Die Herzogin war auf so eine Neuigkeit nicht gefasst. Sie dachte an ihre Tochter und weinte bitterlich.

„Sie haben nichts zu befürchten,“ sagte er zu ihr, „es ist ein Sturm, der vorbeizieht. Vertrauen Sie mir, so wie ich dem Schicksal vertraue. Man sagt, ich sei ein unbeschwerter Mann, umso besser. Ich komme wieder auf die Beine.“

Die arme Frau wischte ihre Tränen weg und sagte zu ihm: „Gut, mein Freund! Sie werden arbeiten?“

„Ich! Bei Gott! Ich werde auf Fortuna warten. Sie ist launisch, sie meint es zu gut mit mir, um mich ohne den Gedanken an Wiederkehr einfach zu verlassen.“

Der Herzog wartete acht Jahre in einer kleinen Wohnung des Herrensitzes Sanglié, über den Pferdeställen. Sobald sie Zeit hatten, ihn ausfindig zu machen, halfen ihm seine alten Freunde mit ihrer Geldbörse und ihrem Kredit. Er nahm es ohne schlechtes Gewissen an, wie ein Mann, der sich schon oft ohne Sicherheit etwas geliehen hatte. Man bot ihm mehrere Beschäftigungen an, alle ehrenvoll. Eine Industriegesellschaft wollte ihn in zu einem stattlichen Gehalt in ihren Verwaltungsrat aufnehmen. Aus Angst, sich einschränken zu müssen, lehnte er ab. „Ich will gerne meine Zeit verkaufen“, sagte er, „aber ich bin nicht bereit, meinen Namen zu verleihen.“ So kam es, dass er eine Stufe nach der anderen immer tiefer in das Elend stieg, seine Freunde entmutigte, seine Gläubiger ermüdete und dabei alle Türen verschloss, wenn er seinen Namen benutzte, den er doch nicht schädigen wollte, aber ohne jemals den abgenutzten Mantel ernst zu nehmen, den er durch die Straßen führte wie seinen Kamin, der aus Mangel an Holz ohne Feuer blieb.

Am 1. Januar 1853 brachte die Herzogin ihren Ehering zur Pfandleihe.

Man muss schon vollkommen verlassen von jeder menschlichen Unterstützung sein, um einen Gegenstand mit so geringem Wert wie einen Ehering zu verpfänden. Aber die Herzogin hatte nicht einen Centime im Haus und ohne Geld kann man nicht leben, obwohl das Vertrauen in Paris doch die große Triebfeder des Handels ist. Man kann sich eine Menge Dinge anschaffen, ohne sie zu bezahlen, solange man auf den Tresen des Kaufmanns einen schönen Namen oder eine beeindruckende Adresse schleudert. Sie können Ihr Haus möblieren, Ihren Weinkeller füllen und Ihre Garderobe aufbessern, ohne dass die Händler einen Geldschein zu Gesicht bekommen. Aber es gibt Tausende von tägliche Ausgaben, die sich ohne Geldbörse in der Hand nicht verwirklichen lassen. Einen Anzug kann man auf Kredit kaufen, aber die Flickarbeit muss bar bezahlt werden. Manchmal ist es einfacher, eine Uhr zu kaufen, als einen Kohlkopf. Die Herzogin hatte bei einigen Händlern einen Restkredit, den sie mit heiliger Sorgfalt führte, aber was das Geld betrifft, wusste sie nicht, woher sie es nehmen sollte. Der Herzog de La Tour d’Embleuse besaß keine Freunde mehr: er hatte sie verbraucht wie den Rest seines Vermögens. Manch ein Freund vom Kolleg mag uns vielleicht noch leiden bis zu einer Summe von tausend Francs, manch wunderbarer Begleiter ist ein Mensch, der uns hundert Louis leiht, manch warmherziger Nachbar präsentiert uns ein Wertpapier über tausend Taler. Wird aber ein bestimmtes Maß überschritten, ist der Geldverleiher von allen Pflichten der Freundschaft befreit, man braucht sich nichts vorzuwerfen, er hat wirklich viel gemacht, er schuldet Ihnen nichts mehr, er hat das Recht, die Augen wegzudrehen, wenn er Ihnen begegnet und seine Tür zu verteidigen, wenn Sie bei ihm eintreten. Die Freundinnen der Herzogin hatten sich eine nach der anderen von ihr abgewandt. Die Freundschaft der Frauen ist sicherlich edler als die der Männer; aber sowohl bei dem einen als auch bei dem anderen Geschlecht gibt es eine dauerhafte Zuneigung nur unter seinesgleichen. Man empfindet ein delikates Vergnügen, zwei oder dreimal eine beschwerliche Treppe hinaufzuklettern und sich in großer Toilette in die Nähe einer Pritsche zu setzen, aber es gibt wenig heldenhafte Seelen, die vertraut mit dem Elend anderer leben können. Die besten Freundinnen der armen Frau, von denen sie Marguerite genannt wurde, spürten das kälter werdende Herz in dieser Wohnung ohne Teppich und ohne Feuer, sie kamen nicht mehr dorthin. Wenn man mit ihnen über die Herzogin sprach, sangen sie Loblieder, sie bedauerten sie aufrichtig, sie sagten: „Wir mögen uns immer noch, aber wir sehen uns kaum noch. Schuld daran ist ihr Ehemann!“

In ihrer beklagenswerten Vereinsamung konnte die Herzogin auf den letzten Freund der Unglückseligen zurückgreifen, dem Gläubiger, der zwar zu hohen Zinsen verleiht, dafür aber ohne Widerspruch und ohne Vorwurf. Der Pfandleiher behielt ihren Schmuck, ihre Pelze, ihre Spitzen, die besten Wäschestücke und ihre Garderobe und die vorletzte Matratze ihres Bettes. Sie hatte alles engagiert unter den Augen des alten Herzogs, der ein Möbelstück nach dem anderen wegtragen sah, und ihnen fröhlich eine gute Reise wünschte. Dieser unbegreifliche Alte lebte in seinem Haus wie Ludwig der XV. in seinem Königreich, ohne Sorge an die Zukunft, mit der Einstellung: „Nach mir die Sintflut!“ Er stand spät auf, frühstückte mit gutem Appetit, verbrachte eine Stunde im Bad, färbte seine Haare, glättete seine Falten, legte Rouge auf, polierte seine Nägel, und spazierte bis zum Abendessen seine Grazien durch Paris. Er wunderte sich kaum, eine gute Mahlzeit auf dem Tisch zu sehen und war zu zurückhaltend, seine Frau zu fragen, wo sie diese gefunden hatte. Wenn die Kost schmal war, machte er das Beste daraus und lächelte in Zeiten der Not ebenso wie er es in guten Zeiten gemacht hatte. Als Germaine anfing zu husten, machte er Witze über diese schlechte Angewohnheit. Das machte er lange, ohne zu merken, dass sie dahinvegetierte. Als es ihm eines Tages bewusst wurde, spürte er eine starke Verärgerung.

Als der Doktor ihr mitteilte, dass das arme Kind nur noch durch ein Wunder gerettet werden könnte, rief er den Mediziner Tant-Pis und sagte, sich die Hände reibend: „Nur zu, es wird schon gut gehen!“ Er selber wusste nicht so sehr, ob er diese lässige Haltung annahm, um seine Familie zu beruhigen oder ob ihn seine natürliche Leichtigkeit daran hinderte, Schmerz zu empfinden. Seine Frau und seine Tochter liebten ihn, so wie er war. Er behandelte die Herzogin mit der gleichen Galanterie wie am Tag nach der Hochzeit und er ließ Germaine auf seinen Knien hüpfen. Die Herzogin hatte niemals den Verdacht, er sei der Grund für ihren Ruin; sie sah in ihm seit dreiundzwanzig Jahren einen perfekten Mann, sie nahm seine Gleichgültigkeit als Mut und Bestimmtheit; sie setzte Hoffnung auf ihn, trotz allem, und sie hielt ihn für fähig, das Haus mit einer glücklichen Fügung des Schicksals wiederaufzurichten.

Nach der Einschätzung von Doktor Le Bris hatte Germaine noch vier Monate zu leben. Sie würde wohl an einem der ersten Frühlingstage entschlafen. So hätten die weißen Lilien Zeit, auf ihrem Grab zu blühen. Sie ahnte ihr Schicksal voraus und beurteilte ihren Zustand mit einem bei Schwindsüchtigen unüblichen Weitblick. Vielleicht hatte sie sogar eine Ahnung des Bösen, welches ihre Mutter aufzehrte. Sie schlief an der Seite der Herzogin und in langen, schlaflosen Nächten erschrak sie sich manchmal vor dem schnaufenden Schlaf ihrer lieben Krankenpflegerin. „Wenn ich tot bin,“, dachte sie, „wird Mama mir bald folgen. Wir werden uns nur für eine kurze Zeit verlassen. Aber was wird aus meinem Vater werden?“

Alle Sorgen, alle Entbehrungen, sowie körperlichen und seelischen Schmerzen waren in dieser kleinen Ecke des Hauses Sanglié beherbergt und in Paris, wo das Elend überhand nahm, gab es wohl keine andere Familie, deren Misere größer war, als die der Familie de La Tour d’Embleuse, die als letzte Ressource einen Ehering besaß.

Die Herzogin lief zunächst zur Filiale des Pfandleihers, welche in der Rue Bonaparte, in der Nähe der École des Beaux-Arts liegt. Sie stand vor verschlossener Tür, war heute nicht ein Feiertag? Ihr fiel ein, dass der Kommissionär in der Rue de Condé vielleicht seinen Laden geöffnet hatte. Sie ging den Faubourg zurück bis zur Rue de Condé - geschlossen. Nun wusste sie nicht, an wen sie sich wenden sollte, weil die Unternehmen dieser Art nicht alle zusammen am Faubourg Saint-Germain liegen. Dennoch, da es nicht sein durfte, dass das neue Jahr für den Herzog mit Fasten begann, trat sie in einen kleinen Juwelierladen am Carrefour de l’Odéon und verkaufte ihren Ring für elf Francs. Der Händler versprach, ihn drei Monate zur Verfügung zu halten für den Fall, dass sie ihn zurückkaufen wollte.

Sie verschnürte das Geld in einer Ecke ihres Taschentuchs und lief, ohne anzuhalten, bis zur Rue des Lombards. Sie trat bei einem Drogisten ein, kaufte ein Fläschchen Lebertran für Germaine, durchquerte die Halle, wählte eine Languste und ein junges Rebhuhn und kehrte, verdreckt bis zu den Knien, zurück zum Haus der Sanglié. Es blieben ihr nur noch vierzig Centimes über.

Die Wohnung, in der sie nun lebte, war eine einfache Konstruktion, die vor etwa dreißig Jahren zu den Nebengebäuden des Herrensitzes hinzugefügt wurde. Sie setzt sich aus vier Zimmern zusammen, die durch Zwischenwände aus Holz getrennt sind. Das Vorzimmer öffnet sich zur einen Seite zum Salon, zur anderen Seite zu einem langen Flur, der zum Zimmer des Herzogs führt. Vom Salon aus kommt man in das Zimmer der Herzogin und von dort in das Esszimmer, das die Zimmerflucht beendet und das Zimmer der Herzogin mit dem des Herzogs verbindet.

Madame de La Tour d’Embleuse traf im Vorzimmer auf ihr einziges Dienstmädchen, die alte Sémiramis, die leise über einem Stück Papier weinte.

„Was hast du da?“, sagte sie zu ihr.

„Madame, das ist alles, was der Bäcker mir gegeben hat. Wir werden kein Brot mehr haben, wenn wir ihm kein Geld geben.“

Die Herzogin nahm die Rechnung, sie belief sich auf mehr als sechshundert Francs: „Weine nicht“, sagte sie, „hier ist ein wenig Geld. Geh zum Bäcker in der Rue du Bac, Du nimmst ein kleines Wiener Brot für Monsieur und für uns ein wenig dunkles Brot. Bring das hier in die Küche, es ist das Frühstück für Monsieur. Ist Germaine schon wach?“

„Ja, Madame, der Doktor war um zehn Uhr bei ihr. Er ist noch im Zimmer von Monsieur.“

Sémiramis ging und Madame de La Tour d’Embleuse steuerte auf das Schlafzimmer ihres Ehemanns zu. Als sie die Tür öffnete, hörte sie die Stimme des Herzogs: klar, freudig und hell wie eine Glocke:

„Fünfzigtausend Francs Einnahmen!“, sagte der Alte. „Ich wusste es doch, das Glück kommt zu mir zurück!

Der Heiratsantrag

Doktor Charles Le Bris ist einer der beliebtesten Männer von Paris. Die große Stadt hat in allen Künsten ihre verhätschelten Kinder; ich kenne keine andere, den sie mit mehr Zärtlichkeit umsorgt. Er ist in einem kleinen unbedeutenden Dorf in der Champagne geboren, hat aber sein Studium am Kolleg Henri IV absolviert. Ein Familienmitglied von ihm, das den Beruf des Mediziners auf dem Land ausübt, führte ihn bereits früh an die Medizin heran. Der junge Mann besuchte Kurse und Krankenhäuser, nahm an einer Zulassungsprüfung zur Facharztpraktikumsstelle teil, praktizierte unter den Augen von Meistern, erlangte alle Diplome und gewann bestimmte Medaillen, die nun seine Praxis zieren. Sein einziger Ehrgeiz war es, seinem Onkel zu folgen und den Krankheiten ein Ende zu setzen, mit deren Behandlung der gute Mann angefangen hatte. Aber als man ihn kommen sah, bewaffnet mit seinen Erfolgen und dem Doktortitel, fragten ihn die Beamten des Gesundheitsamtes am Ort und sein Onkel, der auch nicht anders war, warum er sich nicht in Paris niedergelassen hätte. Sein großer Mantel stand ihm so gut und er verband sein Talent mit einem so verführerischem Verhalten, dass man vom ersten Tag an vermutete, alle Kranken wären für ihn bestimmt. Der ehrwürdige Verwandte war einfach zu jung, um von der Rente zu träumen und die Rivalität mit seinem Neffen gab ihm die Vitalität zurück, die er nicht mehr hatte. Kurz, der arme Junge wurde so schlecht empfangen, man legte ihm so viele Steine in den Weg, dass er aus Verzweiflung nach Paris ging. Seine alten Meister hatten ihn geschätzt und sie schickten ihm Kundschaft. Große Männer finden einen Weg, nicht eifersüchtig zu sein. Dank ihrer Großzügigkeit erlangte Doktor Le Bris innerhalb von fünf oder sechs Jahren einen Ruf. Man liebt ihn hier als Wissenden, dort als Tänzer und überall als charmanten guten Mann. Er ignoriert die ersten Elemente des Scharlatanismus, spricht wenig von seinem Erfolg und verlässt seine Patienten mit der Sorgfalt, ihnen zu sagen, sie seien geheilt. Seine Wohnung ist kein Palast. Er logiert in der vierten Etage, in einem verlorenen Viertel. Ist es Bescheidenheit? Ist es Koketterie? Man weiß es nicht. Die armen Leute seines Viertels beklagen sich nicht über so eine Nachbarschaft - er pflegt sie mit so einer Hingabe, dass er manchmal seine Geldbörse auf der Nachtkonsole vergisst.

Monsieur Le Bris war seit drei Jahren der Mediziner von Mademoiselle de La Tour d’Embleuse. Er hatte das Fortschreiten der Krankheit verfolgt, ohne etwas dagegen tun zu können. Es war nicht so, dass Germaine eines dieser seit Geburt totgeweihten Kindes war, das in sich den Keim eines vererbten Todes trug. Ihre Verfassung war robust, ihre Brust breit, und ihre Mutter hatte nie gehustet. Ein vernachlässigter Schnupfen, ein kaltes Schlafzimmer, die Entbehrung notwendiger Dinge für das Leben hatten all das Schlechte verursacht. Schrittweise war das Mädchen, trotz der Behandlungen des Doktors, blass wie eine Wachsfigur geworden, ihre Kräfte waren dahingegangen, der Appetit, die Fröhlichkeit, der Atem, die Freude, frische Luft zu atmen, alles fehlte ihr. Sechs Monate vor Beginn dieser Geschichte hatte Monsieur Le Bris zwei große Mediziner bei der Kranken zusammenkommen lassen. Sie konnte noch gerettet werden, es blieb ihr ein Lungenflügel und die Natur begnügt sich mit weniger. Aber es war notwendig, sie möglichst sofort nach Ägypten oder Italien zu bringen.

„Ja“, sagte der junge Doktor, „die einzig richtige Behandlung ist diese: ein Haus auf dem Land am Ufer des Arno, ein ruhiges Leben und die Renten. Aber sehen Sie!“ Er zeigte mit dem Finger auf die zerrissenen Vorhänge, die Sessel aus Stroh und die roten Fliesen des Salons. „All das hier verurteilt sie zum Tode!“

Im Januar war der letzte Lungenflügel angegriffen, die Zerstörung vollendete sich. Der Doktor hatte seine Behandlungen auf die Herzogin übertragen. Seine letzte Hoffnung war es, die Tochter sanft einschlafen zu lassen und die Mutter zu retten.

Er besuchte Germaine, fühlte ordnungshalber ihren Puls, bot ihr Bonbons aus einer Schachtel an, küsste sie brüderlich auf die Stirn und ging zu Monsieur de La Tour d’Embleuse.

Der Herzog war noch im Bett. Sein Gesicht war noch nicht gemacht und man sah ihm seine dreiundsechzig Jahre an.

„Nun, guter Doktor,“ sagte er laut lachend, „was für ein Jahr bringen Sie uns? Wird Fortuna mir endlich zugeneigt sein? Oh, Schelmin, wenn ich dich endlich hätte! Sie sind Zeuge, Herr Doktor, dass ich in meinem Bett darauf warte“...

„Verehrter Herzog“, antwortete der Doktor, „da wir allein sind, können wir über ernste Dinge reden. Ich habe Ihnen den Zustand Ihrer Tochter nicht verheimlicht.“

Der Herzog machte eine kleine sentimentale Miene und sagte: „Wirklich, Herr Doktor, es gibt keine Hoffnung mehr? Keine falsche Bescheidenheit, Sie sind doch zu Wundern fähig!“

Monsieur Le Bris schüttelte traurig den Kopf. „Alles, was noch in meiner Macht liegt, ist ihr die letzten Tage angenehm zu gestalten.“

„Arme Kleine! Stellen Sie sich vor, Herr Doktor, jede Nacht weckt sie mich mit ihrem Husten auf. Sie muss grausam leiden, obwohl sie es abstreitet. Wenn es keine Hoffnung mehr gibt, wird ihre letzte Stunde eine Stunde der Erlösung sein.“

„Das ist noch nicht alles, was ich Ihnen zu sagen habe und entschuldigen Sie, wenn ich das Jahr mit so schlechten Nachrichten beginne.“

Der Herzog setzte sich aufrecht hin: „Was nun? Sie machen mir Angst!“

„Die Herzogin macht mir seit einigen Monaten Sorgen.“

„Ah, Herr Doktor, Sie übertreiben es mit den schlechten Vorzeichen. Die Herzogin, Gottseidank, ist sehr gut drauf und ich wünschte, es würde mir so gut gehen.“

Der Doktor ging auf die Einzelheiten ein, welche die Unbekümmertheit und die Leichtigkeit des Alten schwächten. Dieser sah sich allein auf der Welt und ein Schauer ergriff ihn. Seine Stimme wurde leise, er hielt sich an der Hand des Doktors fest wie ein Ertrinkender am letzten Ast. „Mein Freund, retten Sie mich“, sagte er zu ihm: „ich wollte sagen, retten Sie die Herzogin. Ich habe nur noch sie auf der Welt. Was würde aus mir werden? Sie ist ein Engel, mein Schutzengel! Sagen Sie, was erforderlich ist, sie zu retten. Ich gehorche wie ein Sklave.“

„Verehrter Herzog, die Herzogin braucht ein ruhiges und einfaches Leben, ohne Aufregungen und besonders ohne Entbehrungen, eine sanfte Diät, ausgewählte und ausgewogene Ernährung, ein bequemes Haus, ein gutes Auto...“

„Und noch den Mond oder wie?“ schrie der Herzog ungeduldig. „Ich habe geglaubt, Sie hätten mehr Geist, Doktor, und bessere Augen. Auto! Haus! Eine gute Ernährung! Ziehen Sie los und bringen Sie mir das alles, damit ich es ihr gebe!“

Ohne irritiert zu sein, antwortete der Doktor: „Ich bringe es Ihnen, verehrter Herzog, und Sie brauchen es nur zu nehmen.“

Die Augen des Alten öffneten sich weit wie jene einer Katze, die in den Schatten tritt. „Sprechen Sie schon!“ schrie er, „Sie spannen mich auf die Folter!“

„Bevor ich anfange, verehrter Herzog, muss ich Sie daran erinnern, dass ich seit drei Jahren bester Freund Ihres Hauses bin.“

„Sie allein können das sagen, niemand auf der Welt wird Ihnen widersprechen.“

„Die Ehre Ihres Namens ist mir genauso viel wert wie Ihnen, und wenn...“

„Schon gut! Schon gut!“

„Vergessen Sie nicht, das Leben der Herzogin ist in Gefahr und ich setze mich dafür ein, sie zu retten, sofern Sie mir die Mittel verschaffen.“

„Zum Teufel! Sie sind derjenige, der sie mir beschaffen muss! Sie erzählen mir seit einer Stunde wie ein Straßenprediger von einer Zwangsheirat. Wirklich, Doktor, wirklich!“

„Bitte schön. Haben Sie jemals in Paris den Grafen de Villanera getroffen?“

„Die schwarzen Pferde?“

„Genau!“

„Das schönste Viergespann von Paris!“

„Don Diego Gomez de Villanera ist der letzte Spross einer gro-

ßen neapolitanischen Familie, die unter der Herrschaft von Charles-Quint nach Spanien umgesiedelt ist. Er hat das größte Vermögen der gesamten Halbinsel und wenn er seine Böden kultivieren und seine Minen abbauen würde, hätte er zwei oder drei Millionen Einkommen. Bis dahin hat er vierzehnhunderttausend Francs Rente, etwas weniger als der Prinz Ysoupoff. Er ist zweiunddreißig Jahre alt, hat ein hübsches Gesicht, eine ausgezeichnete Erziehung, einen ehrenwerten Charakter...“

„Fügen Sie Madame Chermidy hinzu.“

„Da Sie das ja schon wissen, will ich mich kurzfassen. Der Graf möchte, aus Gründen, die zu lang wären, um sie kurz zusammenzufassen, Madame Chermidy verlassen und sich seinem Rang entsprechend in eine der berühmtesten Familien des Faubourg einheiraten. Er sucht so wenig nach Vermögen, dass er sogar seinem Schwiegervater fünfzigtausend Francs Rente zusichert. Und er wünscht Sie als Schwiegervater. Er hat mich beauftragt, Ihre Bereitschaft zu erkunden. Wenn Sie ja sagen, käme er noch heute, um Sie um die Hand von Mademoiselle zu bitten und die Heirat wäre dann in vierzehn Tagen.“

Schlagartig sprang der Herzog vom Bett auf und blickte dem Doktor in die Augen.

„Sie sind doch verrückt? Wollen Sie sich über mich lustig machen? Sie wollen doch nicht vergessen, dass ich der Herzog de La Tour d’Embleuse bin und doppelt so alt wie Sie? Stimmt das wirklich, was Sie mir da sagen?

„Die reine Wahrheit“

„Und er weiß nicht, dass Germaine krank ist?

„Er weiß es.“

„Sterbend?“

„Er weiß es.“

„Dem Tode geweiht?“

„Er weiß es.“

Eine Wolke zog über das Gesicht des alten Herzogs. Er setzte sich auf die Ecke des kalten Kamins, ohne zu merken, dass er beinahe nackt war; er stützte seine Ellbogen auf die Knie und umklammerte den Kopf mit den Händen.

„Das ist nicht normal,“ sagte er. „Sie haben mir nicht alles gesagt und Monsieur de Villanera muss einen geheimen Beweggrund haben, wenn er um die Hand einer Toten anhält.“

„In der Tat,“ antwortete der Doktor. „Aber wollen Sie sich bitte ins Bett legen. Ich habe Ihnen eine lange Geschichte zu erzählen.“ Der Herzog rollte sich unter der Decke zusammen. Seine Zähne klapperten vor Kälte und vor Ungeduld und er heftete seine kleinen Augen auf den Doktor mit der unruhigen Neugierde eines Kindes, das einer Schachtel Bonbons beim Öffnen zuschaut. Monsieur Le Bris ließ ihn nicht warten.

„Wissen Sie,“ sagte er ihm, „welche Position Madame Chermidy hat?“

„Untröstliche Witwe eines Mannes, den man nie gesehen hat!“ „Ich habe Monsieur Chermidy vor drei Jahren getroffen und ich antworte Ihnen, dass seine Frau keine Witwe ist.“

„Umso besser für ihn! Hexe! Ehemann von Madame Chermidy! Das ist ein ruhiger Posten, um schöne Bezüge zu beziehen!“

„So werden gewagte Urteile gefällt! Monsieur Chermidy ist ein ehrenhafter Mann und sogar Offizier mit einigen Verdiensten. Ich glaube nicht, dass er mit einem hohen Bildungsstand begann. Mit fünfunddreißig Jahren war er in der Handelsmarine, Kapitän auf großer Fahrt. Er schaffte es, auf ein Schiff des Staates als Hilfsleutnant anzuheuern und nach zwei Jahren Dienst gab das Ministerium ihm ein Offizierspatent. Es war im Jahr 1838, als er sein Herz und seine Schulterklappe zu Füßen von Honorine Lavenaze legte. Sie hatte als einzige Habseligkeiten ihre achtzehn Jahre, ihre großen Augen, die Sie kennen und die übliche Haube der Arlesierin, die sie ganz reizend aufsetzte und einen unbegrenzten Ehrgeiz. Sie war nicht annähernd so schön wie heute. Ich weiß aus ihrem eigenen Mund, dass sie hart wie ein Stockhieb und schwarz wie ein kleiner Rabe war. Aber sie war begehrt und somit erwünscht. Sie regierte am Tresen eines Tabakgeschäftes und seitdem kam das maritime Präfekt bis zu den Schülern der zweiten Klasse und die ganze nautische Aristokratie von Toulon zu ihr, um zu rauchen und um sie herum zu seufzen. Aber nichts konnte ihr den Kopf verdrehen, weder der Dampf von Weihrauch, noch der Rauch von Zigaretten. Sie hatte sich geschworen, tugendhaft zu sein, bis sie einen Ehemann finden würde, und keine Verführung konnte sie von ihrer Tugend abbringen. Die Offiziere gaben ihr den Spitznamen Croqué wegen ihrer Härte, die Bürger nannten sie Ulloa, weil sie von der Französischen Marine belagert wurde.

An seriösen Freiern fehlte es nicht, man findet sie zuhauf in den Seehäfen. Auf der Rückkehr von langen Überfahrten hat der Marineoffizier nicht mehr die Illusion, die Naivität, die Jugend, die er noch am Tag seiner Abreise hatte. Die erste Frau, die sich vor seinen Augen zeigt, erscheint ihm so schön und so heilig wie das wiedergefundene Frankreich: es ist die Heimat im Seidenkleid! Der gute Chermidy, einfach wie ein alter Seebär, wurde wegen seiner Treuherzigkeit bevorzugt; er eroberte dieses eigensinnige Geschöpf vor den Augen seiner Rivalen.