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Pierre Rabhi

Manifest für Mensch und Erde

Für einen Aufstand des Gewissens

Mit einem Vorwort von Nicolas Hulot

Aus dem Französischen
von Nikolaus de Palézieux

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Inhalt

Vorwort

Präambel

Erster Teil: Die Erde

Ausweg aus der Sackgasse des gegenwärtigen Wirtschaftssystems

Die von der ökologischen Landwirtschaft vorgeschlagenen Lösungen

Zweiter Teil: Der Mensch

Was bedeutet der Humanismus im 21. Jahrhundert?

Danksagung

Vorwort

Vorfahrt für das Gewissen

Diesem Mann muss man zuhören.

Seine Worte fallen nicht vom Himmel; sie kommen auch nicht aus einer Haltung der Angepasstheit. Sie haben vielmehr das Gewicht eines ungewöhnlichen Lebensweges, sie vereinen die eigene unmittelbare Erfahrung der Wirklichkeit mit dem unerbittlichen Engagement im Dienst seiner Überzeugungen. Pierre Rabhi kommt von weit her, und er schuldet niemandem etwas. Unsere Zeit hat diesem kleinen Mann aus der algerischen Wüste nichts geschenkt, in tausend Jobs hat er sich abgerackert und ist nach Frankreich gekommen, um den steinigen Feldern in der Ardèche den Lebensunterhalt für seine Familie abzutrotzen. Doch Pierre hat nicht aufgegeben. Sein tiefes und einzigartiges Denken gründet sich in seinem persönlichen Lebensweg.

Die vielen oft unvermittelt auftretenden Schwierigkeiten, die er meistern musste, mag man sich kaum vorstellen, und doch meint Pierre, das Leben auf Erden sei ein unverhoffter Schatz. Jeden Tag freut er sich, eine stille Beziehung zu der Welt einzugehen, die ihn umgibt und von der er zuallererst Schönheit und Harmonie wahrnimmt. Das Unbehagen, das doch so tief in unserem heutigen Seelenleben verankert ist, scheint ihn nicht zu erreichen. Er ist glücklich, dass er lebt, weil die Natur ihn verzaubert und er das Leben als überwältigend empfindet. So ist er auch spontan an das Dasein gebunden; an alles, was ist, an alles, was vibriert, pocht oder sich verändert; seine Kraft und seine Werte bezieht er aus diesem fundamentalen Substrat. Doch aus dieser Muttererde, dieser lebendigen Materie, rührt auch seine Auflehnung her; eine machtvolle und friedvolle Auflehnung, die jede seiner Taten begleitet.

Denn auch wenn Pierre das Leben als Glück empfindet, zeigt er sich doch gleichzeitig zutiefst besorgt, dass der Lebensfaden reißen könnte. Seit langer Zeit schon nimmt er die Anzeichen der möglichen Katastrophe wahr; beobachtet und wiederholt beim Namen genannt hat er das immer massivere Anbrechen einer nie dagewesenen Krise der menschlichen Zivilisation, die sich in der Erschöpfung der Ressourcen, dem Zusammenbruch des natürlichen Gleichgewichts und im Verschwinden des Gewissens zeigt. Das Aufzeigen der Fehler in der Landwirtschaft, die von der edlen Aufgabe, die Menschen zu ernähren, zu einer Logik der Zerstörung der uns nährenden Erde übergegangen ist, gehört zu den stärksten Momenten des vorliegenden Buchs.

Wer würde ihm nicht Recht geben? Jeder, der heute mit offenen Augen durch die Welt geht, gelangt zu dem gleichen Schluss. Das war nicht immer so. Noch vor einigen Jahren waren es nur wenige, die so dachten wie Pierre und denen dabei das Herz schwer wurde. Man mokierte sich über ihre Schwarzmalerei, ihre unablässige Warnung vor der Gefahr. Leider haben er und die Umweltschützer recht behalten! Heute ist die Menschheit an dem Punkt angelangt, an dem sie sich das Genick bricht. Das Zusammentreffen der sich zunehmend und hoffnungslos verschlimmernden Krisen – Energiekrise, Klimakrise, Ernährungskrise, Krise alles Lebendigen – führt geradewegs in eine planetarische Krise und eine weltweite wirtschaftliche Rezession, deren Auswirkungen unvorhersehbar sind.

Nichts ist also dringender als die gewaltige Anstrengung eines Perspektivwechsels. Verändern, »damit wir nicht untergehen«, sagt Pierre. Doch was er vorschlägt, geht über die üblichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen weit hinaus. Pierre appelliert an unser aller Gewissen, auf dass wir uns »des Unbewussten bewusst« werden und an seiner Veränderung mitwirken, außerhalb der Finten unseres Willens zur Macht und unseres Herrschaftstriebs. Denn Pierre weiß, und ich bin überzeugt er hat Recht: Es kommt auf jeden Einzelnen an. Ohne die Werte der Nüchternheit und des Maßhaltens, ohne Verantwortungsbewusstsein, ohne eine Revolution des Geistes; kurz: ohne die innere Verwandlung des Einzelnen wird die Verwandlung der Welt scheitern. »Der Mensch ist sich selbst das Hindernis auf dem Weg zur Befreiung«, schreibt er. Ohne Zweifel gibt es noch viele weitere Hindernisse – politische, wirtschaftliche, philosophische, religiöse –, doch das Hindernis, das in jedem von uns steckt, ist das größte.

Ich glaube wie Pierre, dass der »Aufstand« des individuellen Gewissens gegen alles, was dem Leben fremd ist und die Lebenswelt zerstört, eine notwendige Bedingung dafür ist, dass die Menschheit dem Schlimmsten entgeht und gleichzeitig die Grundlagen für eine neue Zeit mit einem besseren Leben legt. Möge dieses Buch dazu beitragen.

Nicolas Hulot

Präsident der Stiftung Nicolas Hulot

für die Natur und den Menschen,

stellvertretender Premierminister und

Umweltminister Frankreichs

Jenseits von Kategorien, Nationalismen, Ideologien, politischen Spaltungen und all dem, was die uns allen gemeinsame Realität zerstückelt, rufe ich heute zum Aufstand und zum Schulterschluss unserer Gewissen auf, um die besten Kräfte der Menschheit zu bündeln – und sich dem Schlimmsten entgegenzustemmen.

Das scheint mir angesichts des Ausmaßes der Bedrohung, der unser aller Schicksal ausgesetzt ist und die im Wesentlichen unseren gewaltigen Übertretungen geschuldet ist, notwendiger denn je.

Mit »Gewissen« meine ich jenen intimen Ort, an dem jeder Mensch in aller Freiheit das Ausmaß seiner Verantwortung gegenüber dem Leben ermessen und sein Handeln so ausrichten kann, wie es ihm von einer wahrhaftigen Ethik des Lebens eingegeben wird – ein Handeln für sich selbst, für seine Mitmenschen, für die Natur und für die zukünftigen Generationen.

Präambel

Seit mehr als vierzig Jahren habe ich mein Leben damit verbracht, an der Versöhnung der menschlichen Geschichte mit den seit je gültigen Geboten der Natur mitzuwirken. Diese Versöhnung erweist sich mehr denn je als unerlässlich für das Überleben unserer Art.

Die Sorge darum, stets zu tun, was ich sage, und zu sagen, was ich tue, hat mich in Wort und Schrift dazu gebracht, auf verschiedensten Wegen einer Weltsicht zu dienen, die ich als gerecht empfand. Dabei habe ich, ohne allerdings danach zu streben, die Aufmerksamkeit einer immer größeren Öffentlichkeit erregt und immer mehr Zustimmung für meine paradoxe und radikale ökologische Botschaft erfahren. Noch heute bahne ich mir den Weg durch die komplizierte gegenwärtige Gesellschaft, damit die Werte, die mich beseelen, nicht durch die rasende Entwicklung einer orientierungslosen Gesellschaft hinweggeschwemmt werden.

Antoine de Saint-Exupéry sagt: »Schreiben ist eine Konsequenz.« Und genauso habe ich das auch immer gesehen. Meine Vorgehensweise sowie der Blick, den ich auf die Erde und meine Mitmenschen werfe, werden durch meinen persönlichen Werdegang anschaulich. Aber die Werte, um die es in diesem Manifest geht, transzendieren meine Person. Die vorliegende Schrift soll daher einzig unter Beweis stellen, dass die augenblickliche Welt, die wir so unbefriedigend errichtet haben, eine andere sein kann, sofern wir das aus voller Überzeugung und mit tatkräftiger Inbrunst auch wollen. Im Jahre 1984 habe ich ein Buch veröffentlicht mit dem Titel Du Sahara aux Cévennes – Von der Sahara in die Cevennen, in dem ich detailliert meinen Weg beschrieb, vor dem Hintergrund einer spirituellen Suche, die sich von aller Identität oder Zugehörigkeit frei gemacht hatte, um sich von der Schönheit des Lebens verzücken zu lassen. Die Aufnahme, die die Öffentlichkeit diesem Werk bereitete, hat die Überzeugungskraft eines Standpunktes verdeutlicht, der nur durch das Zeugnis, das ich hier ablege, erläutert werden kann. Ich habe nie irgendeine Lehrbefugnis besessen. Ich habe keiner Disziplin angehört, keiner Autorität verleihenden Institution oder sonstigen offiziellen Einrichtung. Daher ist dieses Manifest eine Synthese meines persönlichen Engagements.

Heute bin ich davon überzeugt, dass das Überleben der Menschheit nur durch die Integration zweier fundamentaler Begriffe gewährleistet werden kann: die Achtung vor der Erde – als dem Planeten, dem wir das Leben verdanken und von dem wir uns nicht trennen können (wie auch vor der Erde als unserer Ernährerin); die Heraufkunft eines weltweiten Humanismus, denn einzig ein solcher Humanismus kann der Geschichte der Menschheit einen Sinn verleihen.

Erster Teil

Die Erde

Der Planet gehört uns nicht, wir gehören ihm.
Wir vergehen, er bleibt
.

Auf dem Wege

zu einem weltweiten Ernährungstsunami

Mein ganzes Leben lang habe ich meine Energie darauf verwendet, vor der weltweiten Ernährungstragödie zu warnen, die ich aufkommen sah. Parallel dazu habe ich angefangen, zunächst für mich selbst, danach für die ärmsten Bauern, Techniken zu entwickeln, die es der Bevölkerung ermöglichen sollten, die Möglichkeit der Selbstversorgung wieder aufzugreifen, unabhängig von ihrem jeweiligen Lebensumfeld. Leider werden heute alle meine Vorhersagen durch die aktuelle Entwicklung bestätigt, und wie wir gemeinsam mit anderen Pionieren der biologischen Landwirtschaft vorausgesehen haben, erweist sich die ökologische Landwirtschaft als die einzige und unumgängliche Alternative. Es schien mir in diesem Kapitel deshalb nicht nur wesentlich, eine Gesamtschau auf die Katastrophe zu geben, die uns droht, sondern auch auf die Lösungen hinzuweisen, die wir ihr entgegensetzen können; all dies im Lichte von vierzig Jahren Erfahrung und Beobachtung.

Die Welt riskiert, mehr und mehr

dem Hunger ausgesetzt zu sein –

der Westen bleibt davon nicht ausgenommen.

Die Ernährungskrise steht vor der Tür und sorgt bereits für erste Verheerungen. Die Aufstände, vor allem die zu Beginn des Jahres 2008 auf Haiti, in Kamerun, Mexiko, Ägypten und Burkina Faso, beweisen dies. Die Liste der betroffenen Länder ist lang und tragisch. Die FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) hat circa dreißig Länder benannt, für die das Ansteigen der Nahrungsmittelpreise katastrophale Auswirkungen hat. Bei fast einem Drittel der Länder, die von der Krise betroffen sind, kommen zu dieser Ernährungsnot noch politische und Sicherheitsprobleme wie etwa Bürgerkriege hinzu. Denn für jede Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel um ein Prozent gelangen – wie es die Daten des FIDA (Internationaler Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung) ausweisen – weitere 16 Millionen Menschen in Ernährungsschieflage. Von heute an bis 2025 könnten 1,2 Milliarden Menschen chronisch an Hunger leiden, d. h. 600 Millionen mehr, als es frühere Annahmen verkündet haben.

Die sogenannten entwickelten Länder werden dabei keinesfalls von der drohenden Nahrungsmittelknappheit verschont. Das können sich heute nur wenige unserer Mitbürger vorstellen, die an den Überfluss einer immer mehr gepanschten und vergifteten Nahrung gewöhnt sind, die schließlich im Mülleimer landet. Die Sicherheit, niemals Mangel zu leiden, wiegt die einzig um den Klimawandel besorgten Menschen in den Schlaf: Wenn der Hochsommer endlich da ist und die Großbrände ausbrechen, ist jedes Jahr erneut die Rede von Gluthitze, Trockenheit, Waldbränden und Wasserknappheit. Sobald die Menschen aus den Ferien in die Städte zu ihrer Arbeit zurückkehren, verstummen diese Reden und alles dreht sich um Überschwemmungen und die eventuelle Strenge des Winters. Doch diese Probleme wirken geradezu lächerlich gering angesichts der Warnsignale eines weltweiten Mangels. Und sämtliche Parameter, die dieses Problem betreffen, sind schon seit Jahren negativ. Zusammengenommen werden sie mittel- und langfristig sehr schwierige Zeiten aufkommen lassen. Und falls keine Entscheidungen gefällt werden, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, wird die Welt noch mehr an Hunger leiden. Diese Problematik, die größte von allen, muss dringend angesprochen werden. Zu wenige unserer Mitbürger sind sich der Erde und ihrer Funktionsweisen bewusst. Zu den Faktoren, deren gemeinsames Auftreten uns in diese Situation gebracht haben, gehören insbesondere:

___die Erosion der Böden durch Wasser, Wind, Entwaldung und unüberlegte landwirtschaftliche Techniken, die die Böden zusammenpressen, devitalisieren und vergiften, mit einem Maschinenpark, der immer schwerer und damit zerstörerischer wird.

___die immer schneller voranschreitende Versalzung der Böden überall auf dem Planeten.

___die Zerstörung der natürlichen Stoffwechsel der bebaubaren Böden durch die Agrochemie, mit Konsequenzen, die sich unmittelbar einstellen: Vergiftung der Gewässer und der natürlichen Umgebung mit unmittelbaren Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit.

___der unglaubliche Verlust der Vielfalt von Flora und Fauna (der Wildtiere wie auch der Haustiere), jenem 10 000 bis 12 000 Jahre unversehrt weitergegebenen elementaren Erbe der Menschheit, eine fabelhafte Zeit der landwirtschaftlichen Arbeit.

___die unwissend vorgenommenen genetischen Veränderungen, die Patentierung und Privatisierung des Lebendigen, was die Völker ihres jahrtausendealten Erbes beraubt, um sie von nicht reproduzierbarem Saatgut abhängig zu machen, dessen negative Folgen für Gesundheit und Umwelt durch streng wissenschaftliche Tests bewiesen wurden. (Man lese zu diesem Thema vor allem die sorgfältig dokumentierte Studie von Marie-Dominique Robin: Mit Gift und Genen. Wie der Biotech-Konzern Monsanto unsere Welt verändert.)

___die Eliminierung der Bauern, die auf der Erde insgesamt für eine abwechslungsreiche Nahrung gesorgt haben; statt ihrer haben wir nun Makrostrukturen in der Produktion, mit ständigen Transformationsprozessen und unendlich weiten Transportwegen, was die Abhängigkeit der Bevölkerung von einem zufallsbedingten und willkürlichen System beträchtlich vergrößert hat. Schon die kleinste Störung in der Transportkette oder der Produktion hat heute unmittelbare Einbußen bei den Vorräten zur Folge, deren Anlage dem Prinzip des »Just in time« und nicht dem der Vorsorge an Lebensmitteln gehorcht.

___der »Biotreibstoff«-Wahnsinn, der drauf und dran ist, aus der nährenden Erde, deren wunderbare Macht darin besteht, der Menschheit die Nahrung zu liefern, eine bloße Lieferantin von Brennstoff zu machen, um den Mobilitätswahn um jeden Preis aufrechtzuerhalten. Im Übrigen haben die Verknappung und der hohe Preis des Benzins einen fatalen Einfluss auf die Produktion und schädigen vor allem die Landwirtschaft der Dritten Welt. Man muss sich nur die Gleichung anschauen: Drei Tonnen Erdöl werden gebraucht, damit man eine Tonne Dünger erhält.

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