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Traude Engelmann ist gebürtige Leipzigerin, studierte Pädagogik und Journalistik, war Redakteurin der Leipziger Volkszeitung und mehrerer im Leipziger Fachbuchverlag beheimateter Fachzeitschriften, später auch Mitarbeiterin eines Sachverständigenbüros. Sie schreibt in verschiedenen Genres und legte bisher u.a. fünf Romane vor.

Ihre Kriminalroman-Reihe um die Protagonistin Gisela Schikaneder startete mit ›Die Geldwäscherin‹ und der Fortsetzung ›Die Falschmünzerin‹ (2018).

www.engelmann-lebenstexte.de

Traude Engelmann

Die
Falschmünzerin

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1. Auflage, Februar 2018

Copyright © 2018 by edition krimi, Leipzig
edition krimi

Alle Rechte vorbehalten

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Lektorat: Leonore Sell

Umschlaggestaltung: ama medien

Umschlagmotiv: pischare/photocase.de

Satz: ama medien

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ISBN 978-3-946734-16-1 (print)

ISBN 978-3-946734-54-3 (ebook)

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www.edition-krimi.de

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

1.

Meine Stieftochter ist jung und schön, ganz ohne Frage. Aber beneide ich sie deshalb? Will ich sie gar hinter sieben Bergen verschwinden lassen? Im Gegenteil, ich liebe sie. Der junge Mann an meiner Seite scheint mir das nicht zuzutrauen. Taucht im Gedränge der Leipziger Petersstraße plötzlich neben mir auf, spricht mich mit meinem Namen an und kommt mir mit blöden Vorurteilen. Irenes richtige Mutter sei ich ja nicht, kriege ich von ihm zu hören. Wie taktlos.

»Woher wollen Sie das wissen?«, frage ich von oben herab, wobei ich leider zu ihm aufschauen muss. »Kennen wir uns?«

»Verzeihung. Stefan Tenner, Doktor der Rechtswissenschaft und Kunstliebhaber. Ich bewundere das Talent Ihrer Stieftochter.«

»Kann ich mir denken.«

Zugegeben, hübsch ist der Junge. Vor allem, wenn er lächelt wie jetzt – liebenswürdig, verbindlich. Sicher hat er seinen Ausrutscher erkannt und setzt nun auf Versöhnung. Was schon der Habitus verrät, zur kerzengeraden Haltung die deutliche Neigung des Kopfes. Überlegenheit mit Anmache. Wirksame Mischung. Sicher fallen Frauen in Scharen auf ihn herein. Natürlich lässt er seinem Patzer ein Kompliment folgen, von wegen mein jugendliches Aussehen ließe mich doch eher als Irenes Schwester erscheinen. Nicht ungeschickt gemacht, nicht wirklich falsch. Trotzdem, ich kann den Kerl nicht leiden.

»Für Irene wäre das aber wenig schmeichelhaft«, stichle ich.

»Meinen Sie?« Die Frage klang verwirrt. Auch ein Erfolg.

Endlich grüßt er und eilt davon. Ende der Debatte, den sehe ich nie wieder. Denke ich. Aber – will´s der Teufel? – schon eine halbe Stunde später kommt mir dieser Tenner zum zweiten Mal in die Quere. Komisch. Musste mich der erste Platzregen im April ausgerechnet in seine Nähe treiben? Wo es hier in der Mädlerpassage von Schutzsuchenden wimmelt. Der Hübsche sitzt allein an einem Tisch, und zwar hinter dem ersten Fenster jenes Lokals, das ich soeben noch selbst betreten wollte. Wollte. Nun stehe ich stattdessen mitten auf dem steinernen Gehweg und stiere in den Gastraum. Dumme Situation. Soll ich weitergehen oder bleiben? Mal sehen. Jetzt gesellt sich ein mittelgroßer, dunkelhäutiger Mann zu Tenner und verwickelt ihn gestenreich in ein Gespräch. Der Neuankömmling dürfte um die Vierzig sein. Er ist kahlgeschoren und glattrasiert.

Nach einer Weile schweigen die Partner. Dabei schaut sich jeder von ihnen kurz um, was wie eine Vorsichtsmaßnahme anmutet. Tenner hebt seinen Aktenkoffer auf den Schoß und öffnet ihn. Dann wuchtet er mühsam einen prallen braunen Lederbeutel in der Größe eines Kinderkopfes auf den Tisch. Sein Gegenüber nimmt den Gegenstand eher kraftvoll an sich und versenkt diesen rasch in der gediegen wirkenden alten Arzttasche, die er neben seinem Stuhl abgestellt hat. Meine Güte, der Kerl muss Bizepse haben. Da, der feine Wollstoff seines Jacketts wölbt sich an den Oberarmen. Interessant ist auch, dass sich die Männer während der Übergabe nicht einen Moment lang aus den Augen lassen, als würden sie ihr Gespräch wortlos fortführen.

Nun hebt der Dunkelhäutige lässig den Arm, womit er die Serviererin auf den Plan ruft. Sie ist ein jugendliches Dickerchen mit feuerrotem Kurzhaar und silbernem Nasenring. Ihren Auftritt scheint sie gut vorbereitet zu haben, denn schweigend, aber mit einem vertraulichen Lächeln stellt sie zwei gefüllte Whiskygläser auf den Tisch. Dann, nachdem sie ihrem Auftraggeber mit fragendem Blick ein kurzes Nicken entlockt hat, nimmt sie von ihrem Tablett ein Päckchen im Taschenbuchformat und überreicht es Tenner. Der steckt es mit Selbstverständlichkeit ein, obwohl es keinen bedeutungslosen Inhalt haben dürfte. Als sich die Serviererin gleich darauf wieder zurückzieht, mache ich ebenfalls kehrt und marschiere in Richtung Grimmaische Straße davon.

Ein wenig regnet es noch immer. Aber das muss die Frisur eben aushalten. Lächerliche zweihundert Meter sind es bis zu dem Gebäudeklotz zwischen Markt und Klostergasse. Bei besserem Wetter als dem heutigen würde ich im obersten Stockwerk die Terrasse unserer Wohnung erkennen. Nun ist es fast ein Jahr her, dass Lorenz und ich dort eingezogen sind. Damals waren wir, jeweils in zweiter Ehe, gerade zehn Monate lang verheiratet. Wie die Zeit vergeht.

Im Aufzug spazieren meine Gedanken zu Tenner zurück. Etwa aus Interesse an ihm? Nein, eher aus Misstrauen. Ich könnte wetten, der Mann will sich an Irene heranmachen. Aber sie ist in festen Händen, ha. Keine Chance, Herr Casanova. Na, hoffentlich. Vielleicht weiß Lorenz etwas über die Bekanntschaft der beiden jungen Leute. Während ich in der Diele die nassen Pumps von den Füßen schlenkere, liegen mir die Fragen schon auf der Zunge. Aber dort müssen sie zunächst bleiben, denn Lorenz sitzt bei geöffneter Tür in seinem Arbeitszimmer und telefoniert.

Das Gespräch dreht sich um Münzen. Auf dem Schreibtisch ausgebreitet finden sich Schatullen, Kataloge, Lexika, Atlanten, Lupen, ein Mikroskop. Kein Wunder bei so einem Hobby. Alte Geldstücke bergen Geheimnisse. Sonst gäbe es die leidenschaftlichen Numismatiker nicht. Die es mächtig mit der Historie haben. Etwa der frühen Neuzeit in Tunesien, Algerien und Marokko. Zumindest Lorenz hat es damit. Wahrscheinlich glaubt er, sich jetzt in Nordafrika zu befinden, weit weg vom heimischen Herd. Von einem Stefan Tenner ganz zu schweigen. Nichts wie ab in die Küche.

»Von Piastern ist schon die Rede«, höre ich Lorenz nun aus größerer Entfernung erklären, »aber nicht von Budju und Mitkal. Es geht um den tunesischen Sebili. Verstehen Sie? Sebili. Ende achtzehntes Jahrhundert. Wirklich nicht? Nächstes Jahr erst. Schade. Eben, eben, das letzte Stück dieser Zusammenstellung. Natürlich würde ich ein Sonderangebot annehmen, obwohl es ja ohnehin um ziemlich viel Geld geht. Zweitausend. Ganz schön fett. Mal sehen. Meine Nummer haben Sie. Wiederhören.«

»Sebili?«, frage ich, als Lorenz eine halbe Stunde später in der Küche erscheint. Sein kantiges, von grauem Haargestrüpp gekröntes Gesicht zeigt tiefere Furchen als gewöhnlich. Also hat er Ärger.

»Riyal Sebili«, ergänzt er, tritt zu mir an den Herd und drückt einen Kuss auf mein noch feuchtes Haar. »Das ist eine alte tunesische Silbermünze, die immer mal wieder verändert wurde, was Prägung, Silberanteil und Gewicht betrifft. Eine komplette Sammlung wäre das reinste Geschichtsbuch. Was kochst du da eigentlich? Riecht wunderbar.«

»Soljanka. Welches Stück brauchst du denn?«

»Eines von der alten Variante aus der Zeit zwischen 1790 und 1807. Allein daran scheitert bei mir die Komplettierung. Lass bloß die rote Bete weg! Die ist nicht nach meinem Geschmack.«

»Weiß ich doch. Nimmst du mal die Teller aus dem Schrank?«

Dann verfällt Lorenz in Schweigen. Tenner zu erwähnen würde mir höchstens ein Schulterzucken einbringen. Ich sollte die beiden Begegnungen vom Nachmittag genauso abtun. Sollte. Aber es gelingt mir nicht, schon habe ich die Szene in der Mädlerpassage wieder vor Augen. Diese flüssigen Bewegungsabläufe. Die einem geheimen Ritual ähnelten. Geld gegen Ware. Wertvolle Ware? Verbotene Ware? Rauschgift? Ach was, ich spinne. Was gehen mich zwei Fremde an, denen ich zufällig über den Weg gelaufen bin? Nichts. Themenwechsel.

»Irene hat angerufen«, sagt Lorenz, als wir am Esstisch sitzen, der den Mittelpunkt des kleinen quadratischen Raumes zwischen Küche und Wohnzimmer bildet. »Die Berghütte soll verkauft werden.«

»Unsere Berghütte?«

»Welche sonst? Irene ist in heller Aufregung. Würde sich ein Käufer finden, kämen wir wahrscheinlich alle miteinander nie wieder dorthin.«

»Außer«, schlussfolgere ich gedehnt, »wir selbst würden der Käufer sein. Richtig? Ich ahne, was Henk davon hält.«

»Er kann nichts Gutes davon halten.« Lorenz’ Stimme klingt beschwörend, so dass ich mir den Inhalt des Telefongesprächs vorstellen kann: Irene möchte kaufen, ihr Ehemann nicht. Lorenz ergreift für ihn Partei. Und ich? Ich kann beide verstehen.

»Du bist also ebenfalls gegen den Erwerb der Berghütte«, schlussfolgere ich.

»Sagen wir, ich wäre dafür, wenn die Firma nicht Vorrang hätte. Da geht es mir genauso wie Henk.«

»Verstehe«, flüstere ich und seufze dann lautstark. Vielleicht kann ich damit ein hohes Maß an Enttäuschung ausdrücken und in Lorenz Zweifel wecken. Auch ich hänge an der Berghütte.

»Das musst du auch verstehen«, wehrt er sich gegen meine Attacke auf sein Gefühl. »Dass wir es uns hier so unangefochten von Arbeit und Stress gutgehen lassen können, haben wir zu einem großen Teil Henk zu verdanken. Bedenke, was alles auf seinen Schultern lastet, seit ich ihm die Verantwortung für das Unternehmen übertragen habe. Und er ist der Aufgabe gewachsen. Wenn er etwas erreichen will, erreicht er es auch. Dass er sich dabei selbst am wenigsten schont, weißt du. Und wenn er sagt, dass größere Privatausgaben gegenwärtig ein Fehler wären, dann glaube ich ihm das.«

»Ich doch auch«, begütige ich, um sofort zu bedenken zu geben, dass sich der Verzicht auf die Berghütte bald ebenfalls als Fehler erweisen könnte.

»Gisela«, verlangt Lorenz, »bitte lass das Theater! Mir fällt es schon schwer genug, Irenes Gejammer zu ertragen.«

Von da an berühren wir das Thema nicht mehr. Selbst Henk, der gegen einundzwanzig Uhr unangemeldet zu Besuch kommt, stellt keinen Anlass dar, von der Berghütte zu sprechen, denn er hat andere Sorgen. Es geht ihm um die Quartalsabrechnung der Firma. Wie gewöhnlich bewirkt allein die Erwähnung des Vorgangs, dass Lorenz mit seinem Gast unverzüglich im Arbeitszimmer verschwindet. Nach einer halben Stunde, als die Beratung beendet ist, wechselt Henk aus Höflichkeit ein paar Worte mit mir, indem er den Kaffee lobt, den ich ihm bereitgestellt habe, und geht wieder. Er müsse noch Schreibkram erledigen, ist seine Begründung beim Abschied. Sein Blick ist unverstellt, ehrlich. Jeder von uns weiß, welche Turbulenzen ein Quartalswechsel erzeugt; Henks Eile dürfte mehr als angebracht sein. Trotzdem wirkt er nicht abgehetzt, die Robustheit seines Körpers scheint sich seinem Charakter mitzuteilen. Dessen Vorzüge sind Unerschütterlichkeit, Willensstärke, Selbstbewusstsein. Diesen Felsen zum Einsturz zu bringen ist kaum vorstellbar. Nicht zufällig gilt Henk als einer, der immer recht hat.

Dass ich ihn einmal von seiner festen Meinung abgebracht habe, grenzt daher fast an ein Wunder. Wann war das gleich? Ach ja, letzten Sommer. In den Büroräumen der Firma war es wiederholt zu raffinierten Diebstählen von Geld und anderen Wertsachen gekommen. Im Familienkreis posaunte ich aus, dass ich Sven Hille für den Täter hielt – einen beliebten, erfahrenen Angestellten mit dem allerbesten Ruf, dem alle das größte Vertrauen entgegenbrachten. Damit hatte ich voll ins familiäre Fettnäpfchen getreten und musste mir zu meiner Ehrenrettung etwas einfallen lassen. Als ich meinen Verdacht mit Indizien untermauerte, deren Herkunft ich allerdings bis heute nicht verraten habe, fand ich noch immer kein Gehör – außer bei Henk. Er erstattete Anzeige, und die Polizei wies dem beliebten, erfahrenen Angestellten sogar nach, dass er auch anderenorts lange Finger gemacht hatte. Bingo. Der Erfolg für mich besteht eigentlich darin, dass mich mein angesehener Schwiegersohn ernst nimmt. Was nicht bedeutet, dass er immer nett zu mir ist.

»Er hätte sich trotzdem etwas länger mit dir unterhalten können«, kritisiert Lorenz Henks Wortkargheit.

»Ach was«, erwidere ich heiter. »Genau so habe ich kürzlich an Florian herumgenörgelt, als er das Telefongespräch mit dir nur auf das Wesentlichste beschränkt hatte. Daraufhin hast du ihn noch in Schutz genommen. Und jetzt nehme ich Henk in Schutz. Ignoriert hat er mich zumindest nicht. Das würde bei ihm anders aussehen.«

»Vergiss nicht, dein Sohn ist vierundzwanzig, Henk fast neununddreißig.«

»Und du, mein Schatz, wirst im Mai sechzig.«

In der Nacht treibt mich eine unerklärliche Unruhe aus dem Bett. Ich schlüpfe in meinen Jogginganzug und gehe hinaus auf die Terrasse. Es hat aufgehört zu regnen, die Schritte der Spätheimkehrer aus Gaststätten und Theatern hören sich gelassen an. Wortfetzen klingen auf, ab und zu Lachsalven. Dann plötzlich Schreie aus mehreren Kehlen. Ich beuge mich über die Brüstung. In der baumbestandenen Grünanlage im Winkel von Thomasgasse und Petersstraße gibt es eine kleine Ansammlung von Menschen, die laut durcheinander sprechen und heftig gestikulieren. Irgendetwas muss dort passiert sein. Natürlich, vom Dittrichring her heulen mit zunehmender Lautstärke mehrere Martinshörner auf und geben ganz in der Nähe schlagartig Ruhe.

Auf einmal hält mich auf meinem fernen Beobachtungsposten nichts mehr zurück. Spontan verlasse ich die Wohnung und das Haus. Den Blick auf den Ort des Geschehens versperren jetzt zwei Polizeiautos, ein Fahrzeug des Medizinischen Rettungsdienstes und der Wagen eines Notarztes. Ich laufe zur Grünanlage hinüber. Soeben beziehen Zuschauer Posten an einem rot-weiß gestreiften Band, das – wahrscheinlich von den anwesenden zwei Uniformierten – um ein kleines Rasenstück gezogen worden ist. In dessen Mitte hocken dicht zusammen mehrere Personen, die jeweils entweder eine rot-gelbe Kombination oder einen weißen Kittel tragen.

Als sich die Leute erheben, sehe ich, dass sie sich um eine Frau bemüht haben, die bewegungslos auf dem Boden liegt. Es handelt sich um ein jugendliches Dickerchen mit feuerrotem Kurzhaar und silbernem Nasenring – die Serviererin aus dem Lokal in der Mädlerpassage. Sie ist tot, soeben deckt ein Mann in Weiß den gesamten Körper mit einer Plane ab. Ganze zwei Meter von mir entfernt. Als ob mir jemand meine Neugier vom Nachmittag mit einer makabren Drohung heimzahlen wolle. Quatsch, ich bin hier nicht im Kino. Aber beruhigend ist das auch nicht. Nervös wende ich mich ab und flüchte zurück ins Haus. Bald darauf liege ich wieder im Bett.

»Gisela, wach auf!«, höre ich Lorenz rufen. »Hast du schlecht geträumt?«

»Sagen wir, nicht gut«, ächze ich, während ich erleichtert feststelle, dass es schon hell wird. »Am besten, ich trinke ein Glas Wasser.«

»Wenn du Weinbrand sagst, bin ich dabei. Bleib liegen! Ich hole alles.«

Zwei Minuten später lassen wir die goldene Flüssigkeit durch Leib und Seele fließen. Ich fühle mich erneuert.

»Kennst du einen gewissen Stefan Tenner?«, frage ich nun doch, denn meine Beobachtungen in der Mädlerpassage werden mir nach dieser Nacht sowieso nicht mehr aus dem Kopf gehen. »Gutaussehend, sportlich, redegewandt.«

»Das ist doch der junge Rechtsanwalt, der Irene gleich zwei Bilder auf einmal abgekauft hat – die Stadtlandschaft und das Kinderporträt.«

»Ach der. Ja, jetzt erinnere ich mich. Das war kurz vor Weihnachten bei der Spendenausstellung für eine Klinik. Irene hat uns den Mann vorgestellt. Muss eine kurze Begegnung gewesen sein. Allerdings sprach er mich heute mit Frau Zorn an; er wusste genau, wer ich bin. Ich glaube, ich werde vergesslich.«

»Du bist eben keine Vierzig mehr.«

»Nicht?«

»Es kommt natürlich ganz darauf an, von welchem Standpunkt aus man dich betrachtet.«

2.

Irene ist am frühen Nachmittag in ihre Mansarde heraufgestiegen, um sich ausschließlich schönen Erinnerungen hinzugeben. Eine Zeitlang ist ihr dieses Vorhaben auch geglückt, wie ein prüfender Blick zur Staffelei bestätigt. Das Aquarell, an dem sie soeben den letzten Pinselstrich getan hat, zeugt von einer ausgeglichenen Gemütsverfassung. Denn Wasser und Farben vereinigen sich sanft zum Bild eines strahlenden Sommermorgens vor alpenländischer Kulisse. Deren Mittelpunkt markiert ein verhältnismäßig kleiner graubrauner Fleck. Das ist die Andeutung der geliebten Berghütte in ihrem mächtigen natürlichen Umfeld.

Lächelnd schließt Irene die Augen. Für die Dauer eines Moments scheint der Tag nach ihrer Hochzeit zurückgekehrt zu sein. Sie steht am Fenster der Berghütte, die sie nachts zum ersten Mal betreten hat, und nimmt mit allen Sinnen die Landschaft wahr. Diese ist ein untrennbarer Bestandteil ihrer Liebe zu Henk. Seine Stimme übertönt das Rauschen des Bergbaches mit nur einem Flüstern. Denn sein Mund verharrt dicht an ihrem Ohr und sagt immer nur dieselben drei Worte, die sie hören möchte. Vorbei. Irene reißt sich los von endgültig Vergangenem. Das Glück ihres bisherigen Lebens hatte nur die Dauer eines Honigmondes, der ausnahmsweise nicht mehr als zehn Tage lang schien. Und nach dem Abschied von der Berghütte unterging.

Während sie die Pinsel säubert und die Malutensilien zusammenpackt, schaut Irene ab und zu ins Freie. Vorbei an den noch kahlen Zweigen eines Kastanienbaumes verläuft sich ihr Blick auf teils bebautem, teils unbebautem Gelände – bis er zwangsläufig an einer scharf gezogenen Grenze haltmachen muss, einer Verschmelzung von Autobahn und Horizont. Hier, im Herzen Mitteldeutschlands, gibt es keine Berge. Irene, die in Leipzig geboren worden ist, hält diesen Umstand normalerweise nicht für bedauerlich; sogar mehrere Gemälde in sanften, warmen Farbtönen hat sie den heimatlichen Reizen der Ebene gewidmet. Erst seit gestern Nachmittag empfindet sie darin wieder einmal etwas Unvollkommenes.

Den Anstoß gab der Brief mit der Mitteilung zum bevorstehenden Verkauf der Berghütte. »Sie, liebe Familie Zorn«, fügt die Eigentümerin hinzu, »haben an der Immobilie mehrmals Interesse gezeigt. Deshalb frage ich jetzt an, ob es vielleicht noch vorhanden ist. Falls Sie sich für den Kauf schon innerhalb der nächsten Woche entscheiden sollten, würde ich vom taxierten Preis, der 110.000 € beträgt, absehen und Ihnen mit einem Sonderpreis von nur 100.000 € entgegenkommen …«

Irene seufzt. Entgegenkommen oder nicht, das Paradies ist teuer. Während sie ihren bunt beklecksten Kittel auszieht und über die Lehne eines Stuhls wirft, fallen ihr Henks abweisende Worte vom Vortag ein: »Spinnst du, Irene? Gegenwärtig kann der Firma ein solcher Betrag ganz und gar nicht entzogen werden. Vor allem deshalb, weil kein Gewinn herausspringt.«

»Du meinst, kein materieller Gewinn«, hat Irene enttäuscht geantwortet und von da an geschwiegen. Henks Härte in Geldangelegenheiten ist ihr zur Genüge bekannt; weder Worte noch Tränen hätten eine Chance gehabt, beachtet zu werden.

Irene steigt die schmale, gekrümmte Treppe zum ersten Stockwerk hinab. An der Wand über dem zwei Quadratmeter großen Absatz hängt ein hoher Spiegel, der kurz ihr Bild zeigt. Sie ist schlank und wohlproportioniert. Schulterlanges Lockenhaar in Kupferrot umrahmt ein pikant geschnittenes Gesicht in Creme. Henk empfand diese Details früher als hinreißend. Sollte sie darauf noch setzen?

Im Wohnzimmer klingelt soeben das Telefon. Bevor Irene den Hörer abhebt, schlenkert sie die Pantoletten von den Füßen und wirft sich auf ihre Lieblingscouch. Von hier aus kann sie durch die zahlreichen bodentiefen Fenster in drei Himmelsrichtungen schauen – nach Westen über die Felder bis zur Autobahn, nach Süden über den kleinen Vorplatz mit dem Eingang für Fußgänger bis zur Straße, nach Osten über das Riesenquadrat des Parkplatzes mit dem rechter Hand befindlichen Tor.

»Zorn«, meldet sich Irene, Gleichmut demonstrierend. Sie weiß, dass Henk der Anrufer ist.

»Hier auch«, sagt er in bekannter lakonischer Manier, die ihr oftmals wie Überdruss vorkommt. »Irene, ich bin in Eile. Geh doch schnell mal ins Büro und schau nach, ob in der Postmappe ein Storno des Reisebüros Lindner liegt. Wenn ja, müsste ich den Einsatzplan für übernächste Woche ändern. Was zu unseren Gunsten wäre. Der Ersatzkunde zahlt mehr.«

»Solltest du nicht besser deiner Perle sagen, dass …«

»Frau Nitsche arbeitet samstags nur bis zwölf Uhr. In welcher Zeit lebst du eigentlich? Jetzt ist es kurz vor fünf.«

»Warte, ich bin gleich zurück.«

Irene legt den Hörer neben den Apparat und läuft zur Tür hinaus. Die Treppe zum Erdgeschoss hat die gleiche Krümmung wie die zur Mansarde. Aber an der Wand über dem zwei Quadratmeter großen Absatz hängt ein Gouache-Gemälde – Stillleben mit rotem Mohn. Irene hat es einst als Studentin der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst geschaffen und damals viel Lob dafür geerntet. Der Flur im Erdgeschoss führt geradlinig zum Portal. Rechts gehen zwei, links drei Türen ab. Dahinter befinden sich die Räume der Firma.

Gegenwärtig herrscht eine für diesen Ort außergewöhnliche Stille, nicht einmal das viel genutzte Kopiergerät surrt. Also ist keiner der Angestellten mehr im Haus. Irene geht in Richtung Portal und drückt rechter Hand die Klinke der Tür mit dem Schild ›Anmeldung/Sekretariat‹ herunter. Umsonst, die Tür ist verschlossen. Aber gleich daneben, unter der hölzernen Deckplatte des kleinen Tisches mit den Werbeprospekten, die alle ockerfarben sind und einen Reisebus als lachende Karikatur zeigen, hängt der passende Schlüssel. Irene durcheilt einen schmalen, mit Schränken, Regalen, einem Schreibtisch und zahlreichen technischen Geräten vollgestopften Raum. Dann betritt sie, wie ebenfalls ein Schild verrät, das Büro des Geschäftsführers.

Es ist bedeutend größer als das Sekretariat und dennoch besonders sparsam eingerichtet – ohne Bilder, ohne Blumen, ohne Zierrat. Der wuchtige Schreibtisch aus Teakholz steht mit der Längsseite parallel zur Fensterwand, wodurch er seiner zusätzlichen Funktion als Barriere besonders gut gerecht wird. Henk hasst es, bei der Arbeit gestört zu werden. Deshalb beugt sich Irene, an Distanz gewöhnt, von der Besucherseite her über den Schreibtisch und zieht die Postmappe zu sich herüber. Hastig schlägt sie Seite um Seite auf. Briefe, E-Mail-Ausdrucke, Fax-Blätter, Rechnungen und Prospekte hat Frau Nitsche einzeln und mit dem Kopf nach oben eingelegt. Kuverts sind nicht dabei, außer einem mittelgroßen in Graublau. Es ist noch verschlossen, sicher aufgrund des Vermerks ›Herrn Henk Zorn persönlich‹. Das Schreiben des Reisebüros Lindner ist das vorletzte in der Mappe. Irene nimmt es in die Hand und beeilt sich, wieder nach oben zu kommen.

»Tatsächlich«, ruft sie schnell atmend ins Telefon. »Lindner storniert. Er schreibt: Wie wir uns vertraglich vorbehalten haben, sind wir leider gezwungen …«

»Ist doch gut«, unterbricht Henk ihren Wortschwall, »nachlesen kann ich selbst. Die Hauptsache ist, dass ich Handlungsfreiheit habe.«

»Wann kommst du?«, fragt Irene, ohne mit einer eindeutigen Antwort zu rechnen.

»Kann spät werden«, lautet dann auch die Auskunft.

»Hast du noch einmal über die Berghütte nachgedacht?«

»Ja, unentwegt«, sagt Henk sarkastisch, »ich habe ja nichts anderes zu tun. Im Übrigen betrachte ich dieses Thema als abgeschlossen. Wir können es uns nicht leisten, das Geld zum Fenster hinaus zu werfen. Oder soll die Firma abrutschen?«

»Aber du hast doch selbst gesagt, dass wir aus dem Schneider seien seit die Daueraufträge für Ungarn und Norditalien eingegangen sind.«

»Aus dem Schneider ist man nie. Denk an unsere Bauvorhaben, vor allem an die firmeneigene Waschanlage! Und außerdem muss der Fuhrpark erweitert werden. Also bis später. Tschüs.«

Aus der Traum von der Berghütte. Mit dem Schreiben des Reisebüros Lindner trottet Irene wieder ins Erdgeschoss hinunter. Im Büro schaltet sie das elektrische Licht ein, der Aprilabend ist trübe. Dann legt sie das Papier in die geöffnete Postmappe zurück. Schlägt diese zu. Geht zur Tür. Und hat plötzlich eine Eingebung. Später wird sie nicht erklären können, warum sie umgekehrt ist – aufgrund einer Ahnung oder einer Erkenntnis. Aber sie kehrt um. Schlägt die Postmappe zum zweiten Mal auf. Und nimmt das verschlossene graublaue Kuvert mit dem Vermerk ›Herrn Henk Zorn persönlich‹ an sich.

Nun hat sie es eilig. Mit ihrer Beute jagt sie zurück zum Flur und von dort aus in die Mansarde hinauf. Vor unangemeldeten Besuchern ist sie hier sicher. Sie legt das Kuvert auf den Arbeitstisch und schiebt die Spitze eines Bleistifts in eine der kleinen seitlichen Öffnungen der Verschlussklappe. Dann, indem sie den Bleistift flach hält und dreht, löst sie nach und nach die Klebeverbindung, ohne das Papier zu verletzen. Das Kuvert ist offen. Irene hebt es an den beiden unteren Ecken an und lässt den Inhalt herausgleiten. Dieser besteht aus einer steifen Pappunterlage, über der sich wie ein Fächer mehrere Fotografien ausbreiten. Obenauf liegt ein weißes Blatt Papier mit einem gedruckten Text.

»Zorn«, heißt es darin, »Du bist ein Schuft! Anbei der Beweis in Form eines deutlichen Zeugnisses Deines Doppellebens. Ich beabsichtige, das Material auch Deiner Frau und Teilhaberin Eures gutgehenden Unternehmens vorzulegen. Oder möchtest Du das lieber verhindern? Wenn ja, würde Dich meine Zurückhaltung lediglich 50.000 € kosten – einen Pappenstiel gegen Euren Jahresgewinn. Der Betrag ist zu hinterlegen am kommenden Montag, genau dreizehn Uhr drei, in einem jener Gepäckschließfächer, die sich an der Ecke von Osthalle und unterer Querverbindung zur Westhalle des Leipziger Hauptbahnhofs befinden. Den Schlüssel wirf anschließend in eine geöffnete Reisetasche! Diese wird unter einem der Aufsteller mit den Fahrplänen wenige Meter von den Gepäckschließfächern entfernt stehen und mit einem Eurer Werbeaufkleber versehen sein. Danach verlass den Hauptbahnhof auf direktem Weg! Falls Du die Polizei einschalten solltest, würde das auch für Dich unangenehme Folgen haben. Entscheide!«

Verschreckt greift Irene zu den Fotografien. Es sind fünf an der Zahl und haben jeweils fast die Größe des Kuverts. Bereits der zuoberst liegende Abzug lässt erkennen, dass kein Stümper am Werk war. Die Wiedergabe des Schauplatzes ist erstklassig. Inmitten eines ausgedehnten Strandes, der rechts von Wasser, links von dichtem Buschwerk begrenzt wird, liegen ein Mann und eine Frau – beim Namen genannt von einem rückseitig platzierten, handschriftlichen Text, der lautet: »Henk und sein Sternchen in ewiger Liebe«.

Von beiden ist nur so viel zu erkennen, dass sie nackt sind und sich einer innigen Umarmung hingeben. Das nächste Bild, ein vergrößerter Ausschnitt des ersten, rückt die von einer hellblonden Haarflut umspülten vollen Brüste der Frau ins Blickfeld. Auf dem dritten und vierten Bild, ebenfalls vergrößerte Ausschnitte des ersten, dominiert der muskulöse Körper des Mannes, der den seiner Partnerin unter sich zu begraben scheint. Erst das fünfte und letzte Bild enthüllt jeweils zur Hälfte die Gesichter der Liebenden. Diese lassen nur eine Schlussfolgerung zu: Der Mann ist Henk Zorn, die Frau eine junge Angestellte des Reisebüros Wilten.

»Die Keller«, stößt Irene aus. »Henk und die dümmste Blondine der Welt.«

Dann geht sie auf und ab. Ihre Fantasie lässt die kompromittierenden Bilder wie einen Film über eine innere Leinwand laufen. Eins bis fünf, eins bis fünf. Immer wieder. Als ob ihr das Bewusstsein einer ungeheuren Kränkung nicht verlorengehen dürfe. Denn Irene meint nun den eigentlichen Grund für Henks Nein zur Berghütte zu kennen: Er liebt das alte Paradies nicht mehr, weil er längst schon ein neues gefunden hat.

3.

Diese schlechte Laune habe ich nun schon seit einer Stunde. Zuvor saß ich so friedlich beim Friseur – Färben, Waschen, Föhnen – und freute mich auf alles Mögliche: das bessere Aussehen, Lorenz’ anerkennende Blicke, den Abend mit Freunden. Bis mein Handy sein Klimpern von sich gab und Irene bei mir Dampf abließ. Etwas Furchtbares sei geschehen, ich möge zu ihr kommen. Nein, nicht morgen, sondern auf der Stelle. Als ob ich nichts anderes zu tun habe als auf Abruf zu reagieren. Sieht nicht gut aus mit den jungen Eheleuten – Henk zum Samstagabend nicht zuhause, Irene in Tränen. Und ich als Retter in der Not. Bernd und Ursula werden aus allen Wolken fallen, wenn Lorenz ihnen erzählt, er wisse auch nicht genau, warum sich seine Frau heute so verspäte. Denn das Schlimmste hat mir Irene auch noch zugemutet: ihrem Papa nichts zu sagen. Mist.

Knurrend sitze ich hinter dem Lenkrad und starre auf die nur verschwommen wahrnehmbare Heckseite des Geländewagens vor mir. Es regnet schon wieder, und neblig ist es auch. Dieses besondere Ungemach steigert den üblichen abendlichen Wochenendverkehr fast zum Chaos. Jede der zahlreichen Ampelkreuzungen an meinem Weg zu Irene kostet mich viel Wartezeit. Nach und nach wird auch nichts besser, denn an ihrer westlichen Grenze ist die Stadt noch lange nicht zu Ende. Gleich hinter der Brücke über den Elster-Saale-Kanal die Gartensiedlungen von Rückmarsdorf, ein paar Minuten später, in gedämpftes Licht getaucht, die Großmärkte von Burghausen. Dann Häuser, dann Felder. Wieder Häuser. An einer Kreuzung am Rand eines kleinen Ortes mit einem bedeutungslos klingenden Namen biege ich nach rechts ab und zuckle zunächst eine breite Hauptstraße entlang, von der mehrere von Einfamilienhäusern gesäumte Nebenstraßen abzweigen. Eine davon führt mich zu dem weithin sichtbaren, weil besonders klotzigen Gebäude mit dem an dessen Ostseite befindlichen großen quadratischen Parkplatz.

Dieser ist nur mäßig beleuchtet und wirkt verlassen; im Hintergrund steht kein einziger Bus, und in der langen Reihe der überdachten Parkfelder für Personenkraftwagen finde ich allein Irenes weißes Cabriolet vor. Wie zur Gesellschaft rücke ich diesem mein abgewetztes, kleines blaues Auto zur Seite, dann laufe ich zum Portal und öffne mit meinem eigenen Schlüssel. Irene kommt mir zur Begrüßung entgegen und fällt mir – was gewiss nicht ihre Art ist – wortlos um den Hals. Was ist bloß geschehen? Wir steigen schweigend in das erste Obergeschoss hinauf und betreten die Küche. Auf dem in der Mitte stehenden Tisch ausgebreitet liegen fünf Fotos, ein beschriftetes Blatt Papier, ein graublaues Kuvert, ein Stück Pappe. Ich sehe, was zu sehen ist, lese, was zu lesen ist. Begreife erst nichts, dann alles.

»Das ist nicht Henk«, sage ich diktatorisch und lasse mich, vom Gegenteil überzeugt, auf einen Stuhl fallen.

»Nein? Und warum verteidigst du ihn?« Irene spricht in einem feindlichen Tonfall, den sie mir gegenüber bisher noch nie angewandt hat. Sie steht noch an der Tür. Ihr Gesicht ist kalkweiß und wirkt streng.

»Weil es zwar so aussieht, als ob er es wäre. Aber er kann es nicht sein. Er nicht.« Argumente sind das kaum.

»Gisela, deine Wünsche widersprechen den Tatsachen. Hier, schau dir den herzigen Spruch an: ›Henk und sein Sternchen in ewiger Liebe.‹«

»Vielleicht ist das eine Fälschung«, versuche ich es mit einem letzten Aufbegehren. Dann schweige ich betroffen. Vor meinem inneren Auge sehe ich den Felsen, auf den ich bisher bedingungslos gebaut habe, von einer Sprengung bedroht. Der Fels ist das funktionstüchtige Lebensgefüge aller vier Zorns, dem Henk den stärksten Halt gibt. Noch. Solange Irene es will. Sie ist die Dame im Spiel. Sie entscheidet über das Wohl der ganzen Familie. Verdammt, ich muss mir etwas einfallen lassen, um ihr Verantwortungsgefühl zu stärken. Und das schnell.

»Willst du mich verhöhnen?«, bäumt sich Irene gegen meinen Beschönigungsversuch auf, was mir mein Vorhaben nicht gerade erleichtert.

»Woher hast du das Zeug eigentlich?«, zeige ich mich noch immer skeptisch. Wie finde ich den Ausweg, der die Lunte nicht berührt?

»Aus der Postmappe von heute. Immer noch Zweifel?«

»Irene, dein Tonfall macht mir Angst, du spielst dich kaputt.«

»Das wird sich ändern. Bald ist Henk der Kaputte. Das hier soll er mir büßen.« Sie tritt an den Tisch, um sich die Fotos zu greifen. Doch ich fange schnell ihre Hände ein.

»Bitte«, flehe ich, »übereile nichts! Gib uns allen eine Chance! Oder wenigstens dir selbst. Sei klug!«

»Wie soll das denn aussehen?« Diese Häme im Ton.

»Weiß ich noch nicht. Mach uns erst einmal einen Tee! Mir wird schon etwas einfallen.«

Irene zuckt die Achseln und erhebt sich lasch. Ich zwinge mich zur Ruhe und nehme die Bilder erneut zur Hand. Meine besondere Aufmerksamkeit gilt der abgebildeten Frau – dem Gesicht mit dem verzückten Ausdruck, dem Arm, der den Oberkörper des Mannes umschlingt, dem vollen Busen, der sich nur andeutungsweise zeigt, dem angewinkelten Bein mit dem wohlgeformten Knie. War es dieses Knie, das mir vor etwa einem halben Jahr so ins Auge stach?

Ich stand im Sekretariat, um Frau Nitsche eine Nachricht für Henk zu hinterlassen. Plötzlich trat er aus dem Chefzimmer, bestellte Kaffee für zwei Personen und traf irgendeine weitere Anordnung. Als ich einen Blick durch die offenstehende Tür schickte, sah ich auf dem Besuchersessel vor dem Schreibtisch eine attraktive junge Frau mit langem blondem Haar sitzen. Sie war offensichtlich nicht schüchtern; zwei übereinandergeschlagene lange Beine, die sie einschließlich der Oberschenkel zur Schau stellte, schienen ihr einen starken inneren Halt zu geben. Am Abend desselben Tages erfuhr ich von Lorenz, dass das Reisebüro Wilten, gegenwärtig wichtigster Auftraggeber der Firma Zorn, eine Reiseleiterin mit guten Sprachkenntnissen eingestellt hätte. Name Manuela Keller. Sie sei besonders für die Einsätze mit dem Vier-Sterne-Bus nach Italien, Frankreich und Spanien vorgesehen.

»Er hat sie sich gekapert«, bemüht sich Irene gleichmütig zu sprechen, während sie zwei Teetassen auf den Tisch stellt. »Es kann auch umgekehrt gewesen sein, was nichts ändern würde. Gelegenheiten gab es zur Genüge. Du weißt, wie oft sich Henk auf Reisen begibt, um die Routen zu kontrollieren. Meine Reisewünsche hingegen fallen ihm deutlich zur Last. Nimm bloß die Berghütte. Weißt du, was ich denke? Nicht der Mangel an Geld ist der ausschlaggebende Faktor für seine Ablehnung, sondern der Überfluss an sexuellen Angeboten.«

»Bedenke aber«, lenke ich das Gespräch in eine andere Richtung, »dass selbst der Erpresser zu wissen scheint, dass seinem Opfer die gute Meinung von dessen Frau einiges wert ist. Sonst wäre dieser Brief hier nie zustande gekommen.«

»Gisela«, hört sich Irene nun wieder streng an, »diese Wertschätzung habe ich der Tatsache zu verdanken, dass in allen wesentlichen Dokumenten ich als Eigentümerin geführt werde. Und ich selbst bin es, die mit großer Selbstverständlichkeit mein von Papa schon vor dessen Tod ererbtes Geld Henks Geschäftstüchtigkeit überantwortet. Es steckt in jeder Investition für die Konkurrenzfähigkeit der Firma und den Umbau des Hauses. Es ist Teil des inzwischen wesentlich gewachsenen Gesamtvermögens. Es ist der eigentliche Grund für sein Interesse an meiner guten Meinung von ihm.«

»Das klingt scheußlich. Es stimmt und stimmt nicht. Bedenke, dass Henk eigenes Vermögen in das Geschäft eingebracht hat. Es war nicht wenig.«

»Kann sein, aber die Absage an die Berghütte müsste ich trotzdem nicht akzeptieren, es sei denn aus Vertrauen zu Henks Entscheidungen im Interesse der Firma. Nun aber scheint es, dass er diese Entscheidungen im ureigensten Interesse fällt, vielleicht auch in dem einer Fremden. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Absage an die Berghütte eine Unverschämtheit. Meinst du nicht auch, Gisela?«

»Ach was«, wehre ich ab und gehe in die Offensive: »Obwohl du jetzt tief in der Krise steckst, darfst du deinen kühlen Verstand nicht aufgeben. Denn am Ende stehst du entweder als klug da oder als dumm. Vielleicht auch als Siegerin oder als Verliererin.«

»Soll ich raten, was besser wäre?« Immerhin setzt sich Irene zu mir an den Tisch.

»Dumm wäre, das vorläufig Leichtere zu wählen – will sagen, alles hinzuwerfen, Wut abzureagieren, die Trennung sofort einzuleiten. Und zuzugeben, dass du dich an Henks Post vergriffen hast. Klug wäre, das Geheimnis zu hüten, abzuwarten, zu beobachten, planmäßig zu handeln. Schweig doch erst einmal und schau, was genau hinter dem Ganzen steckt! Du hättest den Kopf vorn, denn du weißt etwas, wovon Henk annimmt, dass du es nicht weißt. Du könntest ihm lässig auf die Finger sehen und weitere interessante Aufschlüsse erhalten. Du könntest herausfinden, ob und wie er sich aus der Affäre zu ziehen vermag. Ob er die Erpressung überhaupt ernst nimmt. Und wenn ja, könntest du vielleicht sogar sein schlechtes Gewissen nutzen. Also ich wüsste, wofür. Bedenke auch, dass du leichter als Henk sogar dem Erpresser auf die Spur kommen könntest. Irene, du hast eine Aufgabe. Bitte, leg den Brief wieder dorthin, wo du ihn gefunden hast!«

»Niemand kann Henk von morgens bis abends beobachten.«

»Das nicht, aber du hast wertvolle Informationen. Selbst am wichtigsten Termin, dem der Geldübergabe, brauchst du nicht herumzurätseln.«

»Am Montag zwischen zwölf und zwei muss ich in einer Schule den Vortrag über Leonardo da Vinci halten. Daran lässt sich nicht rütteln.«

»Gut, dann übernehme ich den Part im Hauptbahnhof. Du musst vor allem deine Rolle als Ahnungslose gut spielen. Wir beide zusammen kriegen das schon hin. Einverstanden?«

»Einverstanden, aber sag Papa nichts! Wenn er von dem ganzen Drama auch nur ein Minimum mitbekommt, ist der Teufel los.«

»Da hast du leider recht«, gebe ich seufzend zu. »Aber nun brauche ich meinen Tee.«

Eine Viertelstunde später betreten wir zu zweit das Sekretariat. Irene bringt Brief und Fotos wieder in die richtige Reihenfolge, zieht behutsam das graublaue Kuvert darüber und verschließt es mit Büroleim. Während sie es im Nebenzimmer an seinen Platz in der Postmappe zurücklegt, trete ich an Frau Nitsches Schreibtisch. Obwohl dieser mit Papieren eigentlich überfrachtet worden ist, erkennt man ein System aus wohlgeordnet aneinandergereihten Stapeln, als würde ein Regiment abrufbereiter Soldaten bereitstehen. Der Terminkalender scheint der Adjutant des Kommandeurs zu sein. Ich erkenne mit einem Blick, dass das Blatt des kommenden Montags schon obenauf liegt. Es enthält insgesamt fünf Eintragungen, drei davon bezeichnen Termine. Unter 10.00 Uhr heißt es: ›Rapport Zweiachser-Bus. 13.00 Uhr: Vertragsabschluss Becher-Wäsche. 14.30 Uhr: Beratung Reifendienst.‹ Das kann eng werden, schlussfolgere ich nicht ohne Bosheit. Langsam packt mich der Ehrgeiz des Ermittlers.

»Lorenz, verzeih mir die Verspätung«, spreche ich ins Handy, als ich über den Parkplatz zu meinem Auto eile. »Ging nicht anders, Irene hatte ein Problem. Ach, eine Frauensache, wir sind ins Quatschen gekommen. Was, schon fast zwanzig Uhr? Ich fliege nach Hause, jetzt ist ja nur noch wenig Betrieb auf den Straßen. Am besten, du empfängst Bernd und Ursula mit Sekt. Alles andere in einer halben Stunde, länger werde ich nicht brauchen. Du, ich glaube, die Idee mit dem kalten Büfett war gut. Und ob ich Hunger habe. Ja, ich bin schon am Auto. Warum zurück? Den Katalog mit den neuen Busmodellen? Der liegt auf dem Tisch neben dem Portal. Gut, bringe ich dir mit. Bis gleich. Ich dich auch.«

Während ich wieder den Flur betrete, beabsichtige ich, Irene von unten her über meine erneute Anwesenheit zu informieren, bevor ich mich mit dem Katalog in der Hand sofort endgültig zurückziehen werde. Aber dazu kommt es nicht, weil ich sie laut sprechen höre. Offensichtlich benutzt sie das Telefon, das oben im Wohnzimmer steht, und hat die Tür nicht geschlossen. Ihre Stimme klingt eine Spur samtiger als sonst und strotzt vor Koketterie.

»Warum sollten Sie es nicht glauben«, säuselt die Stimme, »irgendwann habe ich Ihnen doch versprochen, Ihre Einladung anzunehmen.«

Pause.

»Sagen Sie selbst, wo und wann!«

Pause.

»Lieber erst in zwei Stunden in unserem Lokal.«

Pause.

»Ich mich auch.«

4.

Als Irene nach kurzem Schlaf erwacht, liegt das Zimmer im Halbdunkel. Trotzdem ist alles erkennbar. Das große quadratische Bett, auf dem sie und Stefan Tenner liegen, steht über Eck. Das Erkerfenster gegenüber gibt den Blick in die graue Dämmerung frei. Irene erhebt sich mit vorsichtigen Bewegungen. Behält dabei die linke Seite des Bettes im Auge, wo der Mann den Schlaf der Erschöpfung gefunden hat. Sammelt Handtasche und Kleidungsstücke auf, die neben ihr auf dem Boden liegen. Geht auf Zehenspitzen aus dem Raum. Im Korridor ragt eine mächtige alte Standuhr auf. Wie zur Begrüßung schlägt sie einmal. Es ist Viertel nach sechs.

Das elektrische Licht im Bad wird durch hohe Wände aus schwarzem Marmor gedämpft. Eine teure Ausstattung, stellt Irene fest. Muss gut sein im Beruf, dieser Stefan. Das Gesicht im Spiegel erscheint Irene als zu flach und zu ausdruckslos, um ihr eigenes zu sein. Auf der langen, chromblitzenden Konsole stehen Flaschen, Dosen und geschliffene Gläser. Frische, akkurat gestapelte Badetücher finden sich im ebenfalls chromblitzenden Hängeschrank. Die Duschkabine ist das passende Pendant. Doch am Türgriff hängt, was wie ein Stilbruch anmutet, eine dünne Kette aus Gold. Der Anhänger symbolisiert das Tierkreiszeichen des Krebses.

Nach dem Duschen kleidet sich Irene an und macht sich oberflächlich zurecht. Als sie den Korridor betritt, sieht sie Tenner im Rahmen der geöffneten Schlafzimmertür stehen. Er hat einen Morgenmantel an und ein Lächeln im Gesicht, das Unbekümmertheit und Liebenswürdigkeit ausdrückt. Sowie Bewunderung. Irene wäre keine Frau, wenn sie ein solches Lächeln nicht mögen würde. Aber es könnte ihr einen langen Abschied aufzwingen.

»Ich muss gehen«, versucht Irene, ihre Eile zu begründen. »Heute gibt es viel zu tun.«

»Zum Sonntag?«, fragt er zweifelnd.

»Zum Sonntag«, bestätigt sie ein wenig trotzig. »Der Termin für die Abgabe einiger Buchillustrationen steht bevor, und die Firma kennt gleich gar keine Pause.«

»Aber das richtige Geldverdienen darfst du doch getrost deinem Gemahl überlassen«, unterstellt er ein wenig herausfordernd.

»Sagen wir, ich muss es ihm überlassen – was ihm einige Freiheiten verschafft.«

Irene wendet sich brüsk ab. Auf Henk wollte sie auf keinen Fall zu sprechen kommen. Vor dem antiken Schrank aus Nussbaumholz, der den Korridor beherrscht, verharrt sie tatenlos und sucht nach einem verbindlichen Wort. Mit einem Missklang soll diese Nacht nicht enden. Die mächtige alte Standuhr schlägt dreimal. Die Scheiben der gegenüberstehenden Vitrine zittern leicht, wodurch sie Irenes Aufmerksamkeit auf sich und vor allem auf die glänzende Pracht lenken, die hinter dem Glas sorgfältig geordnet zur Schau gestellt wird. Es handelt sich um ein beachtliches Sammelsurium von Münzen.

»Schön, dass du da warst«, hört Irene ihren Gastgeber einlenkend sagen. Er ist ihr gefolgt und offensichtlich zu Zugeständnissen bereit. »Ruf mich an, wenn dir danach ist. Ich werde zu jeder Zeit versuchen, für dich da zu sein.«

»Nächste Woche«, gibt Irene einer Eingebung nach, »muss ich vielleicht schnell mal ins Alpenländische fahren. Komm doch mit, wenn du willst und kannst!«

»Was hast du denn dort verloren?«, fragt er überrascht.

»Eine Berghütte, ich will sie kaufen. Das heißt, die Entscheidung steht noch aus.«

»Sicher ein teures Vorhaben.«

»Geht so. Das Gebäude ist zwar wunderbar gelegen, aber vom Zahn der Zeit angenagt – was allerdings seinen Charme ausmacht. Wie wäre es, wenn du mich beraten würdest?«

»Gern. Sag Bescheid, wann es losgehen soll!«

5.

Ich schlurfe durch die Wohnung wie eine frisch Operierte. Der Kopf scheint eine Explosion vorzubereiten und der Magen eine Kehrtwendung zu üben. Erklärlich bei diesem Kater. Aber was ist mit dem Rücken? Hat einer sein Messer darin stecken lassen? Verdammt, ich bin ein Krüppel. War der gestrige Abend dieses Opfer wert? Während ich Gläser und Flaschen von den unterschiedlichsten Möbeln picke, versuche ich, die Bruchstücke meiner Erinnerung zusammen zu puzzeln. Aber zu einem übersichtlichen Ergebnis komme ich zunächst nicht, weil sich mit nervendem Geklimper mein Handy meldet. Es steckt in dem Tulpenstrauß, der den Esstisch ziert. Dort sollte ich es eigentlich lassen, denn als Gesprächspartnerin könnte ich jetzt niemandem nützlich sein. Oder doch?

»Zorn«, melde ich mich träge.

»Endlich«, höre ich Irene verärgert sagen, »es ist dringend.«

»Vor allem ist es zeitig«, mäkle ich gequält.

»Ich bitte dich, Gisela, sieben Uhr dreißig. Ich will dir nur sagen, dass ich mit deiner klugen Variante nicht zurechtkomme. Ich stehe vor unserem Haus und Henk ist schon drin. Wenn er auch nur ein einziges Wort des Vorwurfs gegen mich erhebt – ich meine wegen der Nacht, die ich außerhalb verbracht habe – dann explodiere ich. Du weißt, in welcher Form.«

»Du bist fremdgegangen«, bricht es aus mir heraus. Auf einmal bin ich hellwach, die familiäre Katastrophe droht wieder.

»Na und, steht mir doch zu«, entgegnet Irene schnippisch. Mein Einfluss auf das Geschehen scheint verwirkt zu sein.

»Mir geht es scheiße«, versuche ich meinen desolaten Zustand zu erklären, der mich nicht das kleinste Wunder vollbringen lässt. Verzweifelt raufe ich mir das Haar, das damit völlig aus der Form gerät. Dann flenne ich.

»Bitte nicht, Gisela«, lenkt Irene erschrocken ein, worauf ich lauter flenne. »Ich habe doch auch eine Idee, deshalb rufe ich eigentlich an. Du gibst mir Henk gegenüber für die letzte Nacht ein Alibi, falls es erforderlich werden sollte. Dann könnten wir bei unserer Abmachung bleiben. Na, was hältst du davon?«

»Vergiss deinen Vater nicht!«, warne ich streng, um meine Erleichterung nicht zu zeigen. »Er weiß besser als ich selbst, in wessen Gesellschaft ich mich letzte Nacht befand.«

»Ach was, Henk wird ihm gegenüber das Thema bestimmt nicht anschneiden. Also, was ist? Einverstanden? Ich muss ins Haus.«

»Na gut. Viel Glück!«

»Kann ich gebrauchen. Und vergiss nicht, dass du dich morgen auf die Lauer legen musst. Hauptbahnhof, dreizehn Uhr drei.«

Nachdenklich schlurfe ich zurück in mein Bett. Lorenz schläft noch, er macht einen friedlichen Eindruck. Dabei soll es möglichst bleiben. Im Halbschlaf sehe ich Irene vor mir wie sie ist – klug, schön, interessant. Sicher wird Henk der Keller keinesfalls den Vorzug vor seiner Frau geben. So blöd ist dieser Mann einfach nicht.

»Warum schüttelst du denn den Kopf?«, fragt Lorenz.

»Weil ich einen bösen Traum loswerden will.«

»Hast du Probleme? Die vorangegangene Nacht bist du auch schon so unruhig gewesen.«

»Weil in der Innenstadt wieder einmal eine Leiche herumlag, die einer sehr jungen Frau. Ich kannte das arme Ding vom Sehen.«

»Die Tageszeitung von gestern hat darüber berichtet. Die Kleine soll erwürgt worden sein. Hinweise auf den Mörder gleich Null.

6.

Irene schaut noch einmal auf die Uhr. Halb acht. Um diese Zeit ist sie noch nie allein nach Hause gekommen, zumindest nicht ohne Ankündigung. Als der Schlüssel im Schloss des Portals ein knackendes Geräusch erzeugt, fühlt sie sich wie einst als Kind, wenn sie sich heimlich Kompott aus dem Keller geholt hatte und fürchtete entdeckt zu werden. Deshalb streift sie nach alter Manier die Schuhe von den Füßen und betritt den Flur auf Zehenspitzen. Aber bereits nach dem zweiten Schritt hält sie inne. Die Tür zum Sekretariat steht einen winzigen Spaltbreit offen. Irene wendet sich nach links. Gibt der Tür einen Stups. Sieht, dass sich im Raum niemand befindet. Tritt behutsam ein. Und erschrickt, als plötzlich Henk aus seinem Büro tritt.

»Du?«, fragt er verwundert. »Um diese Zeit. Und komplett angezogen. Hast du so früh schon einen Termin?«

»Ja«, antwortet Irene einsilbig. Sie braucht eine Weile, um mit ihrer Verblüffung fertig zu werden. Erst dann gelingt es ihr, den Sinn von Henks Worten zu deuten. Er hat sie in der Nacht gar nicht vermisst. Sein Bett scheint ebenso wenig berührt worden zu sein wie das ihre.