Anmerkungen

1 Vergleiche dazu Dokumente 1–5 und 7/8: Durchsuchungsbefehl und Sicherungsprotokolle der Polizei, sowie das Sicherstellungsprotokoll des Finanzamtes.

2 Vergleiche dazu Dokumente 6: Aufnahmen der Festnahme durch die Überwachungskamera am Hauseingang.

3 Vergleiche dazu Dokumente 9/10: Tatvorwurf und Abgabe einer DNA-Probe

4 Vergleiche dazu Dokumente 11–19: Identitätsnachweise, sowie Nachweise über die Flucht der Urgroßeltern und Großeltern von Rostov on Don.

5 Vergleiche dazu Dokument 17: Bezeugung der Flucht der Familie Goldberg. Übersetzung: »Während der Evakuierung ist Tochter N. an Masern, einer Lungenentzündung und an einer beidseitigen eitrigen Ohrentzündung erkrankt. Es gab keine medizinische Versorgung. Die Familie ist aufgrund der anhaltenden Bombenangriff aus Rostov on Don geflohen.«

6 Vergleich dazu Dokument 34: Heiratsurkunde meiner Mutter mit Igor P.

7 Vergleiche dazu Dokumente 20–32: Fallakteneinsicht der Polizei.

8 Vergleich dazu Dokument 33: Bericht über den Prozess an Igor P.

9 Vergleich Dokument 38: Bescheinigung meines Krankenhausaufenthaltes.

10 Vergleich Dokument 37: Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien setzt mein »Planktonweed«-Tape auf den Index.

11 Vergleich dazu Dokument 36: Nachrichtenterror vom Brate. Er schrieb die Nachrichten an einen meiner besten Freunde, der mit der Sache überhaupt nichts zu tun hat.

Danksagung

Nas und Nel – für euch mache ich alles, was ich mache! Ich lebe für euch.

Mum und Baba N – wenn ihr nicht gewesen wärt, wäre ich nichts! Ihr habt immer an mich geglaubt!

Pat, ohne Dich wäre BBM nicht möglich gewesen. Du warst von Tag eins dabei – Danke für alles!

Digital Drama, wir sind das Fundament.

Daniel, mein ältester Freund! Danke, dass du immer an meiner Seite warst.

Salah, mehr als Freundschaft! Wir stehen zusammen, wir fallen zusammen!

Danke Akay, für mich bist du der beste Sänger der Welt und ein noch besserer Freund!

Kollegah – Danke, dass wir zusammen Musik gemacht haben und ich der bin, der ich bin in meiner Karriere.

Julez, wir waren wie Familie. Danke.

Dennis, der erste Journalist, der an mich geglaubt hat. Danke, dass du meine Geschichte geschrieben hast, ohne dich hätte ich nicht den Mut gehabt.

Christian Jund, Danke, dass du an uns und an dieses Projekt geglaubt hast! Und Danke an Mischa für die geduldige Begleitung und die starken Nerven!

Danke an meine Fans – BBM ist die Gang, Brudaaa!

En Soph

EIN VORSPIEL

Rostov on Don, Russland. 19. November 1941

Der Krieg hatte sich angekündigt, lange bevor er sein Gesicht zeigte. Für die Menschen in Rostov begann er mit einem entfernten Geräusch. Es klang wie ein Gewitter. Ein Gewitter, das immer lauter wurde, immer näher kam. In der Nacht lagen die Menschen in ihren Betten und hörten den Artilleriebeschuss. Später gab es auch Nächte, da hörten sie Schreie. Die Menschen in Rostov wussten, was das bedeutete. Sie wussten, dass die Deutschen gekommen waren. Dass der große ferne Krieg nun direkt vor ihrer Haustür stand. Sofja hatte bereits die Koffer gepackt. Sie saß in ihrer kleinen Küche an einem Holztisch und diskutierte mit ihrem Bruder Henri.

»Wir müssen hier weg«, sagte sie. »Das wird nicht gut ausgehen.«

Sie hatte sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Sie hatte ihren wichtigsten Besitz in zwei Koffer gepackt und war bereit, alles Weitere zurückzulassen. Ihre gesamte Existenz. Ihr ganzes Leben. Henri schüttelte beinah unmerklich den Kopf. »Wir haben doch keine Wahl«, sagte Sofja beschwörend.

Aber Henri blieb hart. »Ich werde nicht gehen.«

»Sei nicht dumm«, sagte Sofja. »Mein Mann ist schon an der Front, ich will nicht auch noch meinen Bruder verlieren!«

»Ich werde diese Stadt verteidigen. Und wenn ich dabei sterben sollte.«

»Denk doch an uns«, flehte Sofja Henri an. »Denk an Naemi und Leopold. Sie sind noch so jung. Willst du, dass die Nazis sie bekommen? Du weißt doch, was passieren wird. Was sie mit uns Juden machen. Du kennst doch die Geschichten«, sagte sie mit Tränen in den Augen.

Die Geschichten. Das waren keine einfachen Geschichten, die man sich erzählte. Das waren Horrorstorys, die man sich nicht schlimmer hätte ausdenken können. Im besten Fall, so hieß es, würden die Deutschen die Männer einfach in Kriegsgefangenschaft nehmen und die Frauen und Kinder an Ort und Stelle erschießen. In den schlimmeren Fällen wurden die Frauen von den Soldaten brutal vergewaltigt. Vor den Augen ihrer Männer und Kinder. Und in den allerschlimmsten Fällen, da war man Jude. Und als Jude wurde man verschleppt und nach Deutschland gebracht und in Konzentrationslager gesteckt. Das war das Allerschlimmste. Entweder wurde man dort grausam vergast oder es passierten noch sadistischere Dinge.

In Rostov gab es bereits Gerüchte über Menschenversuche an Juden. Tatsächlich waren diese Versuche im Dritten Reich an der Tagesordnung. In dem Konzentrationslager Dachau wurden die ersten medizinischen Experimente durchgeführt. Berüchtigt wurden aber die Forschungen von Dr. Josef Mengele, die er im Konzentrationslager Auschwitz beaufsichtigte. Aus Gründen der »medizinischen Forschung«, wie er es nannte, infizierte er gesunde jüdische Kinder mit einem Bakterium, dass die Gesichtshaut verfaulen und abfallen ließ. Er experimentierte mit Zwillingen, denen er Fremdstoffe, Bakterien und Krankheitserreger injizierte, um zu sehen, wie sie wirkten. Er forschte an Augen und träufelte Kindern Chemikalien ein, die sie erblinden ließen. Alles im Namen der Forschung. »Krankheiten,« so begründeten das viele NS-Ärzte, die an solchen Experimenten beteiligt waren, »könne man nur bekämpfen, wenn man sie erforscht.«

Und dieser Josef Mengele war im Jahr 1941 in Russland. An der Front. Damals noch als einfacher Arzt, aber das wusste Sofja nicht, als sie mit ihrem Bruder über ihre Zukunft stritt.

»Lass uns gehen, bitte.«

»Geh du«, sagte Henri. »Bring deine Kinder in Sicherheit. Ich werde kämpfen.« Leopold war vier, Naemi gerade mal zwei Jahre alt.4

Die Nazis hatten ihren Russlandfeldzug am 22. Juni 1941 begonnen. Seitdem marschierte die Wehrmacht unnachgiebig in Richtung Osten vor. Rostov lag auf ihrem Weg. Rostov war schon damals eine der größten Städte im Land, ein strategisch wichtiger Ort nahe der ukrainischen Grenze. Die Nazis schienen unaufhaltsam. Nichts konnte ihren Vormarsch stoppen. Die Rote Armee spürte, dass sie auf verlorenem Posten stand. Und dennoch waren die Soldaten motiviert, ihr Land bis auf den letzten Mann zu verteidigen. Henri konnte nicht anders, als zu kämpfen. Er wollte nicht als Feigling dastehen. Nicht als Deserteur.

Als Sofja ihren Koffer nahm und mit ihren Kindern die Stadt verließ, war der Winter bereits eingebrochen. Es schneite. Die Deutschen standen schon vor den Toren der Stadt und lieferten sich Kämpfe mit den sowjetischen Soldaten. Es war die Zeit, als sich die Menschen das entfernte Grollen der Artillerie zurückwünschten. Jetzt hörten sie nur noch die Salven der Maschinengewehre. Sofja zog ihre Jacke zu, nahm ihre Tochter auf den Arm und ihren Sohn an die Hand und verließ mit den anderen Zivilisten die Stadt. Sie drehte sich nicht mehr um. Tagelang lief sie mit Hunderten anderer Frauen und Kinder durch die russische Pampa, in der ständigen Angst, dass die Nazis sie aufgreifen würden. Sie wusste, dass das ihr Todesurteil wäre. Sie betete jede Nacht dafür, dass die Soldaten die Nazis zurückhalten würden. Sie betete, dass ein Wunder geschehen würde. Sie betete, dass ihr Bruder Henri sich retten könnte. Auf der Reise wurde Naemi krank. Sie bekam die Masern, dazu eine Lungenentzündung. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie Taschkent in Usbekistan. Sofja und ihre Kinder waren in Sicherheit.5

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Als der Krieg 1945 zu Ende war, ging Sofja gemeinsam mit Naemi und Leopold zurück nach Rostov. Dort traf sie ihren Mann wieder, der als Soldat gedient hatte. Doch als die beiden in ihre alte Wohnung gehen wollten, mussten sie feststellen, dass dort schon eine andere Familie lebte. Die Wohnung war kaum noch wiederzuerkennen. Die Möbel waren komplett zerstört. Die Schränke eingetreten, die Teppiche geklaut. Von den Familienfotos gab es keine Überreste mehr. Wahrscheinlich hatte jemand ihren gesamten zurückgelassenen Besitz einfach irgendwo verhökert.

Auch Henri war verschwunden. Sofja fragte überall nach ihm. Bis ein Soldat ihr endlich sagen konnte, was mit ihrem Bruder passiert war. Henri wurde von den Deutschen in Kriegsgefangenschaft genommen. Sie brachten ihn nach Italien, wo man ihn in ein Konzentrationslager steckte. Ein Jahr lang musste er dort schwere Zwangsarbeit verrichten. Aber er hatte Glück. Er wurde nicht erschossen. Er wurde nicht in die Gaskammer gesteckt. Sie ließen ihn leben. Die Nazis beuteten seine Arbeitskraft aus und gingen davon aus, dass er irgendwann einfach an Erschöpfung sterben würde. Kurz vor Kriegsende gelang ihm die Flucht. Von da an verloren sich alle Spuren. Erst viele Jahrzehnte später kam heraus, dass Henri nach Palästina geflohen und von dort nach Kanada weitergereist war. Er baute sich ein neues Leben auf und arbeitete als Künstler. Er malte Bilder und schrieb Gedichte. Meine Uroma Sofja sollte ihn zu Lebzeiten nicht wiedersehen.

Aleph

Der Mensch ist, was er träumt, denn die Träume eines Menschen sind der Antrieb seiner Taten. Meine Mutter hatte immer nur einen Traum. Den Traum, ihre Familie zu beschützen. Vielleicht waren es die Erzählungen ihrer Mutter, die Erzählungen von Flucht und Vertreibung, die Erzählungen von Leid und Elend, die sich eingebrannt hatten und diesen Traum formten. Vielleicht waren es aber auch einfach ihre eigenen Erfahrungen, mit einem Mann, der gegen sie die Hand erhob, als sie noch schwanger war. Was auch immer sie antrieb, meine Mutter ist bereit gewesen, alles zu geben, um ihren Traum zu verwirklichen. Um mich zu beschützen. Träume sind etwas Mächtiges.

Für meine Mutter war es die schwerste Entscheidung ihres Lebens, die Ukraine zu verlassen und meinen Vater, den ich niemals kennengelernt habe, einfach sitzen zu lassen. Mein Vater war ein Säufer. Er hat meine Mutter geschlagen. Und sie wollte nicht, dass ihr einziger Sohn in einem solchen Haushalt aufwachsen muss. Das brachte sie zum Nachdenken. Aber es war ein anderer Vorfall, der letztendlich ausschlaggebend für ihre Entscheidung war. In dem Atomkraftwerk Tschernobyl kam es 1986 zu einer Kernschmelze. Es gelangte radioaktives Material in die Luft. Wir lebten in einer Stadt, die 500 Kilometer davon entfernt war. In Czernowitz. Meine Baba Naemi, meine Oma, war die leitende Kinderärztin in unserem Landkreis und so sah sie, dass in den Jahren nach dem Unglück immer mehr sogenannte »Vorfälle« gemeldet wurden. Es wurden missgestaltete Kinder geboren.

Albino-Kinder. Kinder, denen die Haare ausfielen. Es herrschte große Aufregung. Und da meine Mutter zu genau diesem Zeitpunkt mit mir schwanger war, nötigte meine Baba sie, dass sie nach Moskau ziehen und sich untersuchen lassen soll. Glücklicherweise schien alles okay zu sein. Am 17. März 1989 wurde ich geboren. Vollkommen gesund. Und gesegnet mit einer großen Klappe und einem Talent für Hochgeschwindigkeitsrap.

Und dennoch war Tschernobyl vielleicht das letzte Teil eines Puzzles, das meiner Mutter bestätigte, dass es richtig wäre zu gehen. Dass die Ukraine kein Ort ist, an dem ihr Sohn aufwachsen soll. Dass es bessere Alternativen gab. Sie wusste, dass sie alles aufgeben würde, was sie sich aufgebaut hatte. Meine Mutter war Musikerin. Sie hatte die Musikhochschule absolviert und war ausgebildete Gesangs- und Klavierlehrerin und sang auf verschiedenen Veranstaltungen. Noch als sie schwanger war, hat sie auf Hochzeiten gesungen. So wurde ich schon vor meiner Geburt ständig mit Musik konfrontiert. Aber das gab meine Mutter nun alles auf. Sie tauschte Sicherheit gegen Hoffnung. Den Status quo gegen eine Perspektive. Es war ein Risiko. Und sie war bereit, es einzugehen. Meine Mutter telefonierte in dieser Zeit viel mit einer alten Freundin von ihr. Antonia. Antonia lebte bereits seit ein paar Jahren in Deutschland. Immer wieder machte sie meiner Mutter Mut, doch nachzukommen. Und irgendwann fasste meine Mutter zusammen mit meiner Baba den Entschluss, das wirklich zu tun. Ihren Traum wahr zu machen. Antonia kümmerte sich um die organisatorischen Sachen und schickte uns ein Besuchervisum und ein One-Way-Zugticket von Kiew nach Berlin. Als meine Mutter, meine Baba und ich in den Zug stiegen, hatten wir zwei Koffer voll mit Bettwäsche, Klamotten und Töpfen dabei. Außerdem noch 200 DM Bargeld. Das war unser ganzes Hab und Gut.

Die Fahrt dauerte zwei Tage. Wir erreichten Berlin im tiefsten Winter. Dezember 1992. Ich war drei Jahre alt. Als wir am Bahnhof Zoo ausstiegen, bekam ich erst einmal einen Kulturschock. Das war eine komplette Reizüberflutung. Alles war voller Menschen. Und diese Menschen sprachen eine Sprache, die ich nicht verstand. Es klang alles so fremdartig. Ich klammerte mich an meiner Mutter fest. Als wir uns von den Gleisen wegbewegten und die große Pforte am Bahnhof durchschritten, sah ich Frauen in kurzen Röcken und offenen Pelzjacken mit kaum etwas darunter. Dabei lag in der Stadt zentimeterhoher Schnee. Meine Mutter beugte sich zu mir runter, um mir meine Jacke zuzumachen, da fiel mein Blick auf einen Mann, der zitternd auf dem Boden saß. Er starrte mich an, aber seine Augen waren komplett leer. Ich hatte das Gefühl, er nahm mich gar nicht wahr. Sein Gesicht war ganz braun und eingefallen, seine Klamotten schäbig. Er wippte immer vor und zurück. Ganz langsam. Sein Mund war leicht geöffnet. Aber am meisten Angst machten mir seine Augen. Sie waren komplett leer.

»Mama, was ist mit ihm?«, fragte ich, da sah ich, wie er aus seinem langen Mantel eine Spritze rauszog.

»Komm, Dima«, sagte meine Mutter und zog mich weg.

Es war eiskalt. Ich fror und verfluchte dieses neue Land, in das wir gekommen waren. Ich fühlte mich richtig unwohl. Wir liefen ewig umher, bis meine Mutter endlich Antonia fand. Sie stand auf dem Parkplatz und kam uns mit offenen Armen entgegengelaufen. Sie begrüßte meine Mutter und meine Baba und streichelte mir über den Kopf.

»Und Dima«, fragte sie mich auf Russisch. »Was ist dein erster Eindruck von Berlin?«

Ich zuckte mit den Schultern.

Sie lachte. »Das habe ich damals auch gedacht. Es ist kalt. Kommt, ich bringe euch in meine Wohnung.« Dann stiegen wir in ihr Auto und fuhren ein wenig herum. Nach einer halben Stunde erreichten wir ihr Apartment. Es war klein und nur spärlich eingerichtet. Die Wände der beiden Zimmer waren kahl.

»Tut mir leid«, sagte Antonia. »Mehr als mein Wohnzimmer kann ich euch nicht anbieten.«

»Bleiben wir jetzt für immer hier?«, fragte ich meine Mutter.

»Nur vorübergehend, Dima.«

»Wo soll ich schlafen?«

Meine Mum schaute sich um und fuhr sich mit der Hand durch ihre Haare. Ja, wo sollten wir alle schlafen?

Wir mussten improvisieren. Meine Baba und meine Mutter schoben zwei Sessel und einen Karton zusammen und legten dort provisorisch eine Matratze drauf. Auf diesem wackeligen Konstrukt schlief meine Mutter. Baba und ich teilten uns die Couch.

»Allzu lange können wir hier nicht bleiben«, flüsterte Baba meiner Mutter zu.

»Ich weiß«, sagte sie. »Ich werde mich gleich morgen um was Neues kümmern.«

Am nächsten Tag stapften meine Mutter und ich durch die schneebedeckten Berliner Häuserschluchten. Es war noch kälter als am Vortag. Ich dachte, ich müsste erfrieren. Wir waren auf der Suche nach einer Telefonzelle. Einer ganz besonderen Telefonzelle, wie meine Mutter sagte. Antonia hatte uns eine Wegbeschreibung auf ein Stück Küchenpapier gemalt. Sie war allerdings nicht sonderlich aussagekräftig.

Nach einer guten Viertelstunde hatten wir unser Ziel dann dennoch entdeckt. Ein kleines, gelbes Telefonhäuschen neben drei Müllcontainern. Als wir in die Telefonzelle gingen, sahen wir, dass sie halb kaputt war. Irgendwelche Russen hatten so oft mit einem Hammer auf den Münzeinwurf eingeschlagen, dass er komplett verbeult war. Das war das Besondere an dieser Telefonzelle. Man musste jetzt bloß noch ein 1-DM-Stück reinschmeißen und konnte stundenlang telefonieren. Russischer Pragmatismus.

Meine Mutter machte ein paar Anrufe und bekam den Hinweis, dass sie sich bei der Jüdischen Gemeinde in Hannover melden sollte. Dort könnte man uns vielleicht eine Unterkunft organisieren. Sie müsste aber persönlich vorbeikommen. Meine Mutter schrieb sich eine Adresse auf und bedankte sich.

»Werden wir dann da wohnen?«, fragte ich sie.

»Hoffentlich.«

Wir hangelten uns von Tag zu Tag. Von Hinweis zu Hinweis und von Hoffnung zu Hoffnung. Wir hatten einfach keinen Plan, wie es weitergehen sollte.

An unserem dritten Tag in Deutschland stieg meine Mum in einen Zug nach Hannover, um unseren weiteren Aufenthalt zu klären, während ich mit Baba zurückblieb.

»Heute machen wir ein tolles Programm«, sagte Baba. »Wir besuchen einen alten Freund von mir.«

Der Mann hieß Boris. Baba kannte ihn wohl schon seit Jahrzehnten, hatte ihn aber seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Sie hatte sich mit ihm auf dem Alexanderplatz verabredet. Meine Baba sprach noch kein Wort Deutsch, aber einen Satz lernte sie bei Antonia auswendig: »Wo ist Alexanderplatz?«

Damit wollte sie sich durchhangeln. Antonia wollte ihr noch eine Liste geben mit weiteren wichtigen Sätzen, aber Baba winkte ab. »Wo ist Alexanderplatz« reichte ihr. Dort würde sie dann ja Boris treffen und der hätte schon die Orientierung. Es ging auch alles gut. Wir liefen zu Fuß durch die Stadt, alle paar Minuten fragte Baba »Wo ist Alexanderplatz?« und bekam die Richtung angezeigt. Wir verständigten uns mit Körpersprache und dank Babas Powersatz kamen wir irgendwie am Fernsehturm an. »Sogar pünktlich«, freute sich Baba.

Unter dem Fernsehturm wartete schon Boris. Ein älterer Herr in einem dicken Wintermantel. Er kniff mir in die Wange und brachte uns in ein Café, in dem wir den ganzen Tag verbrachten. Baba unterhielt sich ganz super.

Irgendwann fragte Boris sie, wo wir denn eigentlich wohnen würden. Baba sagte ihm, dass unsere Wohnung gegenüber von einem Autohaus läge.

»Gegenüber von einem Autohaus?«, fragte ihr Freund.

»Ja«, sagte Baba. »Wir müssen jetzt zu diesem Autohaus.«

»Hast du eine Adresse?«

»Nein«, sagte Baba.

»Einen Stadtteil?«

»Nein.«

»Irgendwas? Woran erinnerst du dich?«

»Ein Autohaus, wir wohnen gegenüber von einem Autohaus. Was ist daran so schwer? So viele Autohäuser kann es doch nicht geben.«

»Naemi, es gibt Tausende Autohäuser in Berlin, gibt es noch etwas, woran du dich erinnerst?«

»Da waren Fahnen vor dem Autohaus.«

Boris schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen.

»Bring mich doch einfach zu dem Autohaus«, sagte Baba und wurde wütend. Und so liefen wir quer durch Berlin. Im kältesten Winter, an den ich mich erinnern kann. Von einem Autohaus zum nächsten. Als wir nach mehreren Stunden endlich unsere Unterkunft wiedergefunden hatten, war ich vollkommen am Ende. Ich legte mich zitternd auf unsere Couch und spürte meine Füße nicht mehr.

Als meine Mum spät nachts wieder nach Hause kam, hatte ich 40 Grad Fieber und dachte, ich müsste sterben.

»Was ist denn mit Dima passiert?«, fragte meine Mutter, als sie mich sah.

»Er hat sich wohl erkältet«, sagte meine Baba und zuckte mit den Schultern. »Wir sind heute ein bisschen durch Berlin gelaufen.«

Meine Mutter traute sich nicht, einen Krankenwagen zu rufen, weil unser Aufenthalt noch nicht geklärt war. Sie saß die nächsten drei Tage an meinem Krankenlager in dem kleinen Wohnzimmer neben ihrem aus Sesseln und Kartons gebauten Bett und pflegte mich gesund. Ich war mir selber nicht ganz sicher, ob ich die erste Woche Deutschland überleben würde.

»Ich weiß, dass gerade alles ganz schlimm für dich ist, mein Schatz. Aber ich verspreche dir, dass es besser werden wird. Dass alles gut werden wird. Dass wir ein schönes Leben hier führen werden.«

Ich nickte. Mir war nicht klar, ob meine Mutter mir oder sich selbst Mut zusprach. Aber es war auch egal. Wir konnten es beide gebrauchen. »Und ich habe noch eine gute Nachricht für dich, Dima. Wir haben einen Platz in einer neuen Unterkunft.«

Ich nickte.

»Sie ist in der Nähe von einer schönen Stadt. Sie heißt Osnabrück.«

Osnabrück. Ich versuchte, mir den Namen einzuprägen.

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Als ich wieder auf den Beinen war, machten wir uns auf den Weg nach Bad Rothenfelde, einem kleinen Kurort vor den Toren von Osnabrück. Das Flüchtlingsheim war ein großes Haus in der Natur. Wir waren hier mitten im Nichts. Es war so viel ruhiger als im großen, lauten Berlin. Durch den Schnee wirkte alles wie in einem Märchen. Ich glaubte damals, das wäre so eine Art Winterwunderland, wie ich es aus dem Fernsehen kannte. Aber das Leben in der Unterkunft selber war dann doch nicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Dafür war es viel zu beengt. Wir bekamen ein kleines Zimmer mit zwei Stockbetten zugeteilt. Auf dem Flur gab es ein großes Gemeinschaftsbadezimmer mit einer Dusche und einer Toilette für sechs Familien. Es war ziemlich schäbig. Unsere Türen konnten wir nicht abschließen. So etwas wie Privatsphäre gab es nicht. Und jeden Samstag mussten wir alle gemeinsam in die Synagoge fahren. Wir aßen dort jüdisches Sabbatbrot. Challah. Ich habe es gehasst. Ich werde den Geschmack niemals vergessen.

Ich brauchte ein paar Monate, um mich zu akklimatisieren. Das Essen war ungewohnt. Es gab nur Brei und Hühnersuppe. Jeden Tag. Das war fast so ekelhaft wie das Challah-Brot am Samstag. Aber als ich mich an meine neue Heimat gewöhnt hatte, da fing ich an sie zu mögen. Das Heim hatte einen Innenhof, in dem ich mit den anderen Kindern spielte, die hier waren. Alles russische oder ukrainische Juden. Viele waren in meinem Alter. Man verstand sich blind, weil man dasselbe Schicksal hatte. Zumindest mehr oder weniger. In dieser Zeit entwickelten sich einige Freundschaften, die mein Leben lang halten sollten.

Meine Baba erzählte mir jede Nacht vor dem Einschlafen eine Geschichte. Sie kannte unendlich viele Geschichten. Am liebsten hörte ich die aus der Thora. Oder irgendwelche jüdischen Volksmythen. Eine ihrer Geschichten faszinierte mich besonders. Die Geschichte von Moloch.

Moloch war ein alter Gott. Baba erzählte mir, dass die Anhänger seiner Religion glaubten, dass er ihnen ein besseres Leben ermöglichen würde, wenn sie es schafften, ihn gnädig zu stimmen. Und besonders gnädig würde er immer dann werden, wenn man ihm etwas opferte. Etwas, dass einem besonders wichtig war.

Die Menschen bauten eine riesige Statue in der Wüste auf. Sie zeigte einen sitzenden Mann mit ausgestreckten Händen. Doch sein Kopf war nicht menschlich. Moloch hatte den Kopf eines Bullen. Das Innere der Figur war hohl, denn im Inneren brannte ein Feuer, das angeblich niemals erlöschen würde. Die Menschen brachten der überdimensionalen Molochfigur ihre Opfer. Es sollte das geopfert werden, was ihnen am wertvollsten war. Und das wertvollste, was die Menschen besaßen, waren ihre erstgeborenen Kinder. Sie wurden bei lebendigem Leibe verbrannt.

Meine Baba erzählte mir die Geschichte, weil sie dafür stand, dass das Judentum einen humaneren Glauben durchgesetzt hatte. Dass er den Menschen die Zivilisation brachte. Und einen Gott, der keine Opfer verlangte. Für mich hatte die Geschichte aber eine andere Bedeutung. Für mich war die Geschichte eine Geschichte über die Abgründe der Menschen. Wie konnten sie nur bereit sein, etwas zu opfern, was sie liebten? Nur um sich selber ein besseres Leben zu ermöglichen. Ich konnte das nicht begreifen.

Nach drei Monaten bekamen wir ganz offiziell eine Aufenthaltsgenehmigung ausgestellt. Wir würden also in Deutschland bleiben. Meine Mutter und meine Baba machten einen Sprachkurs im Goethe-Institut, ich bekam einen Platz im Kindergarten und sah, wie meine Freunde aus dem Heim nach und nach wegzogen, weil ihre Eltern richtige Wohnungen bekamen.

»Können wir auch in eine richtige Wohnung ziehen?«, fragte ich meine Mutter.

»Bald, Dima«, sagte sie. »Wenn die Zeit gekommen ist.«

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1993 lernte meine Mutter Igor P.6 kennen. Igor war ein Ex-Soldat. Ein ehemals hohes Tier in der ukrainischen Armee. Und Igor war ein menschgewordenes Geheimnis. Ein verschlossener Mann, der wenig redete. Er hat nie jemandem erzählt, was genau er beim Militär gemacht hatte. Es gab nur jede Menge Gerüchte. Angeblich soll er in einer Eliteeinheit gedient haben, die beste Verbindungen in den Kreml hatte. Es war nicht so ganz von der Hand zu weisen. Immerhin sah Igor nicht aus wie ein einfacher Soldat. Er war ein Charakter. Eine gottverdammte Maschine. Er war groß, durchtrainiert und hatte sich seine Haare zurückgegelt. Er sah aus wie Jean-Claude van Damme in seinen besten Zeiten. Seine Freunde nannten ihn nur den Leytenant. Dabei war der Leytenant auch noch ziemlich intelligent. Er hatte die Militärhochschule mit einem 1,0-Abschluss absolviert und kam aus einem guten Elternhaus. Sein Onkel war in der ukrainischen Regierung und seine Mutter eine hochdekorierte Ärztin. Warum der Leytenant nach Deutschland gekommen war, blieb für immer ein Geheimnis.

Ich mochte den neuen Mann meiner Mutter. Für mich war der Leytenant so etwas wie eine Vaterfigur. Und ich hatte das Gefühl, dass seit dem Tag, an dem er in unser Leben kam, alles besser wurde. Wir zogen endlich weg aus dem Flüchtlingsheim. Wir zogen nach Osnabrück-Eversburg. Ein Stadtteil im Nordwesten der Stadt. Dort hatten wir eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung. Ich schlief bei meiner Mutter im Bett. Ein eigenes Zimmer hatte ich nicht. Aber wenigstens mussten wir uns nicht mehr mit sieben Familien das Badezimmer teilen. Die Ecke, in der wir wohnten, war keine gute Ecke, aber das wusste ich damals noch nicht. Wir wohnten an der Atterstraße, einem Block mit allen möglichen Ausländern. Fast alle unsere Nachbarn waren Libanesen. Familien, die vor dem Bürgerkrieg geflüchtet waren. Sie lebten teilweise mit sechs, sieben, acht Kindern in den kleinen Wohnungen. Luftlinie 200 Meter entfernt lag dann der Zigeunerblock. Von außen war alles schäbig. Die meisten Häuser waren Sozialbauten aus den 1960er-Jahren, um die sich niemand kümmerte. Die nach und nach verfielen.

Aber innen war bei uns alles vom Feinsten. Im Wohnzimmer standen die edelsten Ledermöbel, es lagen teure Teppiche aus, die Schränke waren neu gekauft und wir hatten einen riesigen Röhrenfernseher. Es brachen gute Zeiten für uns an. Statt irgendeiner Matsche und der ewiggleichen Hühnersuppe gingen wir jetzt fast jeden Abend zum Essen in die besten Restaurants der Stadt. Der Leytenant verwöhnte uns. Er schien unnormal viel Geld zu verdienen. Wie er das machte, wusste ich zunächst noch nicht. Erst sehr viel später sollte ich erfahren, dass er ein gottverdammter Drogenbaron war. Weil der Leytenant in Deutschland einen Asylanten-Status hatte, durfte er nicht legal arbeiten. Er vertrieb sich seine Zeit mit illegalem Kartenspiel. Er hatte einen Hang zum Zocken. Eines Nachts verlor er 50.000 DM. Und um seine Schulden zu begleichen, fing er an, Kokain im großen Stil zu verkaufen. Davon bekamen meine Mutter und ich zunächst überhaupt nichts mit. Wir genossen nur die vielen Vorzüge, die sein Lebensstil uns bot.

Unsere Wohnung war immer full house. Wir bekamen beinahe täglich Besuch. Männer in Uniformen. Männer in teuren Anzügen. Männer in schwarzer Kleidung. Der Leytenant bewirtete sie bis spät in die Nacht. Meine Mum und ich mussten draußen bleiben, wenn die Männer im Wohnzimmer etwas besprachen. Wir bekamen nicht viel mit. Erst als ich sehr viel älter war, verstand ich, dass all diese Männer Unterweltgrößen waren. Die meisten von ihnen trugen Tätowierungen.

Sie waren Diebe im Gesetz. Ein Teil der russischen Mafia. Meine Mutter wusste das wohl schon damals. Aber sie hatte kein Problem mit solchen Leuten. Sie kann mit ihnen umgehen. Sie kennt die Werte, die sie verkörpern. In Russland war das soziale Leben ein anderes als in Deutschland. In Russland war es egal, in welcher sozialen Schicht du lebtest, du warst immer mit Verbrechen konfrontiert. Verbrechen waren allgegenwärtig, Verbrechen waren Alltag. Es herrschten andere Zustände. In Russland verkauften sie einem Backsteine auf der Straße. Das war eine begehrte Masche. Irgendeine Person kommt auf dich zu, zeigt dir ihren Stein und bietet dir an, ihn zu kaufen. Wenn du ablehnst, schlägt er dir mit dem Stein so lange in die Fresse, bis du das bescheuerte Ding zu einem unnormal überhöhten Preis kaufst. Standard. Meine Mutter sagte mir später mal, dass man die Menschen nehmen muss, wie sie sind, und wenn die Menschen Verbrecher sind, dann haben sie vielleicht Gründe für das, was sie tun, und es wird jemanden geben, der sie für das richtet, was sie getan haben. »Aber das werden nicht wir sein, Dima. Wenn ein Mensch gut zu dir ist, dann musst du auch gut zu ihm sein.«

Ich habe mir das eingeprägt. Menschen haben Gründe, zu sein, wer sie sind. Und nur weil sich einem die Gründe nicht erschließen, bedeutet es nicht, dass es sie nicht gibt. Sie hatte vollkommen recht.

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Der Leytenant hatte eine ganz besondere Angewohnheit. Er stand jeden Tag um Punkt 12 Uhr mittags auf. Zunächst machte ich mir darüber gar keine Gedanken. Aber als mir die anderen Kinder erzählten, dass es merkwürdig wäre, dass mein Stiefvater so lange schlief, weil Erwachsene eigentlich nicht so lange schlafen, sondern morgens früh aufstehen, weil sie ja arbeiten gehen müssten, fragte ich ihn irgendwann einfach mal.

»Sag mal, warum stehst du eigentlich immer um 12 Uhr auf?«

»Weil um 13 Uhr die beste Zeit zum Geldverdienen ist, mein Sohn.«

Diesen Satz werde ich niemals vergessen. Um 13 Uhr fuhr der Leytenant in den Wald und traf sich mit seinen Kollegen, um zu besprechen, was so anstand.

Einmal nahm er mich mit. Ich kletterte in seinen Geländewagen und fuhr mit ihm in einen Wald, der weit außerhalb von Osnabrück lag. Wir fuhren über so einen matschigen Feldweg so tief hinein, wie es nur ging. Irgendwann parkte der Leytenant und lief mit mir durch tiefe Büsche und Sträucher, bis wir auf eine kleine Lichtung kamen. Dort warteten schon fünf andere Männer. Seine Jungs. Sie trugen Lederjacken, adidas-Trainingshosen und Zockerschuhe und hockten sich in einem Kreis zusammen.

»Geh spielen, Dima«, befahl mir der Leytenant. »Wir müssen jetzt Erwachsenensachen besprechen.«

Ich streunerte ein bisschen durch den Wald, bis mich der Leytenant nach einer halben Stunde rief.

»Wir sind fertig, lass uns nach Hause fahren.«

»Was habt ihr besprochen?«

»Geschäfte.«

Der Leytenant war nach wie vor kein Mann der großen Worte. Ich hatte keine Ahnung, was er machte. Ich hatte nicht mal eine Vorstellung davon. Ich bekam nur mit, dass es unserer Familie von Monat zu Monat immer besser ging. Dass wir uns immer neue Sachen leisten konnten. Dass meine Mutter plötzlich glücklich war und die Sorgen, die wir damals hatten, als wir noch gemeinsam in dem kleinen Wohnheim wohnten und uns mit Baba ein Zimmer teilen mussten, so weit entfernt schienen, als wären sie noch aus einem anderen Leben. Manchmal nahm mich der Leytenant mit zum Einkaufen. Ich konnte mir dann alles aussuchen, was ich haben wollte. Ich musste es nur in den Einkaufswagen legen und er bezahlte es.

Ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter ihr Versprechen, das sie mir damals gegeben hatte, eingelöst hatte. Ja, es schien wirklich alles besser für uns zu werden in Deutschland. Es fühlte sich teilweise an, als wäre das Leben ein Traum. Alles war so, wie ich es immer haben wollte. Nur hin und wieder bekam der Traum ein paar Risse und die Realität brach herein.

Einmal fand ich auf dem Wohnzimmerboden ein paar Metallkapseln und nahm sie mit in mein Zimmer. Ich hatte keinen Plan, was das für Dinger waren. Ich fing an, mit ihnen zu spielen. Als meine Mutter reinkam, rastete sie komplett aus. Sie nahm mir die kleinen Kapseln weg und schrie Igor an.

»Bist du total verrückt? Wo hat Dima die Patronen her?«

»Beruhig dich«, sagte er nur und machte die Wohnzimmertür zu. Es war eine der Situationen, die ich als Kind überhaupt nicht einschätzen konnte.

Am Abend sah ich dann meine Mutter, wie sie vor ihrem Bett saß und betete. Sie betete sonst nie. Oder zumindest habe ich sie noch nie dabei gesehen.

»Was machst du da, Mama?«

»Dima, komm her zu mir«, sagte meine Mutter und nahm mich in den Arm. »Bitte versprich mir, dass du immer ein guter Junge bleibst. Dass du niemals auf die schiefe Bahn gerätst.«

Ich verstand nicht, was sie hatte. Aber ich sah, dass sie weinte. Daher nickte ich einfach nur.

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Meine Mum weinte immer öfter. Es schien, als hätte das gute Leben, das wir führten, einen Preis. Und diesen Preis mussten wir nun immer häufiger zahlen. Es gab zwischen meiner Mum und ihrem Mann schlimme Streitereien. Und sie wurden von Tag zu Tag schlimmer. Einmal kam der Leytenant mit einer Tüte Scampis nach Hause.

»Hier«, sagte er zu meiner Mutter. »Die waren scheiß teuer. Ich bringe heute Abend einen Freund mit. Mach uns die.«

Er drückte ihr die Tüte in die Hand und zog wieder ab. Meine Mutter fügte sich. Sie bereitete das Essen vor. Ich saß an unserem Küchentisch, malte und schaute ihr zu. Als sie die Scampis gerade anbraten wollte, fiel ihr auf, dass sie kein Bratöl hatte. Sie schaute auf die Uhr. Es war schon zu spät. Der Leytenant würde jeden Moment wieder nach Hause kommen. Sie konnte jetzt nicht mehr rausgehen und irgendwas organisieren. Sie fluchte.

»Was ist denn, Mum?«

»Nichts, mal weiter.«

Ich nahm meine Buntstifte und krakelte in irgendeinem Malbuch rum, das sie mir heute gekauft hatte. Dann sah ich schwarzen Rauch aus der Pfanne aufsteigen.

»Mum, alles in Ordnung?«, fragte ich noch einmal.

»Verdammt, verdammt, verdammt. Komm, Dima, geh in dein Zimmer. Ich habe zu tun.«

Meine Mutter war extrem nervös. So hatte ich sie selten gesehen. Sie zitterte richtig. Als ob sie vor irgendwas Angst gehabt hätte. Sie holte die Scampis aus der Pfanne und versuchte mit einem Messer das Schwarze von ihnen abzukratzen. Aber es hatte keinen Sinn. Sie waren komplett verbrannt. Da war nichts mehr zu retten.

Und dann kam der Leytenant nach Hause. Er hatte gute Laune, war offenbar schon ein wenig angetrunken und machte Scherze mit seinem Kumpel, den er mitbrachte.

»Mh, das riecht gut, das riecht gut«, rief er laut und schlug seinem Freund auf die Schulter. »Mein Bruder, freu dich auf die besten Scampis, die du in deinem ganzen Leben gegessen hast.«

Ich sah, wie meine Mutter rot anlief. Das würde nicht gut ausgehen, dachte ich mir. Aber der Leytenant hatte so gute Stimmung, dass er es vielleicht locker nahm. Er saß lustig am Tisch und machte Witze und prahlte, dass bald das beste Essen auf dem Tisch stehen würde, dass man für Geld nur bekommen konnte, und nahm große Züge aus einer Wodka-Flasche. Bis meine Mutter die Scampis brachte. Die schwarzen Scampis.

Es wurde totenstill. Der Leytenant schaute meine Mutter an. Dann die Scampis. Dann wieder meine Mutter.

»Meinst du das ernst?«, fragte er leise. »Meinst du das jetzt wirklich ernst?«

Meine Mutter senkte den Kopf.

»Es tut mir leid«, sagte sie kaum hörbar.

Es herrschte für ein paar Sekunden eine gespenstische Stille im Raum. Es war, als könnte man die Spannung mit der Hand greifen. Dann stand der Leytenant auf, ging in die Küche, holte die Pfanne und baute sich vor meiner Mutter auf.

»Um eine Sache habe ich dich gebeten«, fing er an und man sah eine Ader an seinem Kopf pulsieren. »UM EINE GOTTVERDAMMTE SCHEISS SACHE!«

Er nahm die Pfanne und schmiss sie durch das Wohnzimmer. Die Scheibe eines Schrankes zersplitterte. »Du willst mich wohl komplett verarschen!«, brüllte er meine Mutter an und räumte mit einer Handbewegung den gesamten Esstisch leer. Gläser und Teller fielen runter. »Cyka, bist du denn zu nichts zu gebrauchen? Wie blöd kann man eigentlich sein, blyatj?«

So hatte ich den Leytenant noch nie erlebt. Ich hatte panische Angst. Ich dachte, er würde uns jetzt alle umbringen. Er geriet immer mehr in Rage und fing an, das halbe Wohnzimmer auseinanderzunehmen. Meine Mutter weinte. Ich war wie gelähmt. Es war, als würde sich mir der Hals zuschnüren. Ich hoffte nur, dass es aufhören würde. Dass es einfach enden würde, aber der Leytenant ließ sich nicht mehr beruhigen. Es war, als wäre er nicht mehr er selbst. Er nahm alles auseinander. Irgendwann stellte sich sein Kumpel vor ihn und packte ihn an beiden Schultern. »Igor«, sagte er bestimmt. »Es reicht.«

Der Leytenant strich sich durch die Haare, nahm einen großen Schluck Wodka aus der Flasche und verließ die Wohnung. Er knallte die Tür so laut zu, dass wir aufschreckten. Meine Mutter und ich blieben verängstigt zurück. Was für ein Albtraum.

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Das Leben meines Stiefvaters hatte seine Schattenseiten. Und diese Schatten legten sich nach und nach auf unsere Familie. Je größer die Geschäfte des Leytenants wurden, je mehr Geld er mit nach Hause brachte, desto mehr verlor er sich in seinen Geschäften. Desto aggressiver wurde er. Aber das war nicht das einzige Problem. Das Problem war, dass der Leytenant sich immer mehr Feinde machte. Und das sollten wir zu spüren bekommen. Der erste Vorbote kam einem Mittwoch. Meine Mutter hatte mich gerade aus dem Kindergarten abgeholt und machte mir eine Dose Ravioli warm, als es an unserer Tür klopfte. Meine Mutter schien nervös zu sein. Das war sie schon die gesamten letzten Tage. Sie zuckte richtig zusammen, als sie das Klopfen hörte. Sie ging zur Haustür, drei Männer kamen in die Wohnung gestürmt und drückten sie gegen die Wand.

»Keine Sorge«, sagte einer in einem starken russischen Dialekt. »Wir sind Freunde vom Leytenant.«

»Er ist nicht hier …«, sagte meine Mutter.

»Das wissen wir«, antwortete der Mann in ruhigem Ton und zündete sich eine Zigarette an, während er sie weiter gegen die Wand drückte.

»Bitte!«, sagte meine Mutter. »Mein Sohn sitzt in der Küche.«

Als ich hörte, dass irgendwas nicht stimmte, lief ich gleich in den Flur. Als der Typ mich sah, ließ er meine Mum sofort los und kniete sich zu mir runter.

»Keine Sorge, kleiner Freund. Wir sind Geschäftspartner von deinem Papa. Wir müssen hier nur schnell etwas erledigen. Geh doch mal in dein Zimmer.«

Ich schaute Mama an. Sie nickte.

Ich hatte gar keinen Nerv, sie jetzt mit den komischen Typen alleine zu lassen, aber ich verstand auch, dass es der falsche Zeitpunkt war, irgendwie rumzudiskutieren. Also ließ ich sie alleine und ging in mein Zimmer. Ich stellte mich an meine Tür und versuchte zu hören, was sie besprachen.

»Was wollen Sie hier?«, fragte meine Mutter.

»Wir wollen Geld abholen.«

»Ich habe kein Geld.«

»Igor hat Geld.«

»Selbst wenn – ich habe keine Ahnung, wo es ist.«

»Keine Sorge«, sagte der Mann. »Ich weiß es.«