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Prof. Dr. Ulla Beushausen, Psycholinguistin, Logopädin; Verhaltens- und Kommunikationstrainerin; lehrt Logopädie an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen, eigene Praxis in Nürnberg. Net: www.sicher-reden.de

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < http://dnb.ddb.de > abrufbar.

ISBN 978-3-497-02729-3 (Print)

ISBN 978-3-497-60413-5 (PDF)

ISBN 978-3-497-60458-6 (EPUB)

4. Auflage

© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany
Cover unter Verwendung eines Fotos von © Werner Dreblow – Fotolia.com

Satz: ew print & medien service gmbh, Würzburg

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

1 Was ist Sprechangst?

Angst ist nicht gleich Angst

Der Blick des Publikums

Änderungsmotivation

Kosten und Nutzen von Sprechangst

Zirkuläres Fragen

Wie äußert sich Sprechangst?

Welche Ursachen hat Sprechangst?

Erworbenes Verhalten

Angeborenes Verhalten

Ihre persönliche Sprechangst

Wie entsteht Sprechangst?

Der innere Bewertungsprozess

Die Person des Sprechers

Die Sprechsituation

So entsteht Sprechangst – ein Modell

2 Angst vor der Angst

Der Teufelskreis der Angst

Individuelle Angstkreisläufe

Den Teufelskreis durchbrechen

Vermeidungsverhalten

Test: Wie stark ist Ihre Sprechangst?

Erstellen Sie eine Angsthierarchie

Von Mythen und Etiketten

3 Erste-Hilfe-Kasten bei Sprechangst

Zehn Tipps für Eilige

Risiken und Nebenwirkungen von Tipps

Gegenanzeigen

4 Sicher reden – was ist das?

Unsicheres, selbstsicheres und aggressives Verhalten

Klischees der Geschlechter

Der Umgang mit Aggressionen

5 So können Sie Ihre Sprechängste überwinden

Trainingsbaustein 1: Atemtechnik

Atemübungen

Sprechatmung

Probleme mit Atemübungen

Trainingsbaustein 2: Entspannung

Ein Entspannungsverfahren zum sicheren Reden

Tipps für das Training

Probleme mit Entspannungstechniken

Trainingsbaustein 3: Der innere Film

Gute und schlechte Filme

Trainingsbaustein 4: Veränderung der Gedanken

Innere Befehle

Kognitive Irrtümer

Was tun Sie mit diesen Gedanken?

Trainingsbaustein 5: Sprechfertigkeit trainieren

Besser kommunizieren: verbale Ebene

Besser kommunizieren: nonverbale Ebene

Besser kommunizieren: vokale Ebene

Trainingsbaustein 6: Systematisches Training

Just do it!

Anleitung für selbstbewusstes Auftreten

6 Stolpersteine auf dem Weg

Aber bitte mit Humor!

Schlusswort

Literatur

Vorwort

Wer kennt es nicht, das Herzklopfen vor dem ersten Satz? Der eine wird erst bei 100 Zuhörern nervös, beim anderen genügt es schon, wenn der Chef ihn sprechen möchte.

Die meisten Menschen haben Probleme, in der Öffentlichkeit angstfrei zu reden. Diese Aufregung führt zu den bekannten körperlichen Reaktionen: Die Stimme wird hoch und zittrig, die Atmung schneller und flacher, manch einer beginnt zu schwitzen oder zu zittern, verliert den Faden oder verspricht sich häufig. Dauert dieser unangenehme Zustand an, beginnen die Gedanken um die Angst zu kreisen anstatt sich auf den Inhalt zu konzentrieren. Vermeidungsverhalten setzt ein und schließlich nimmt die Fähigkeit, sich gut auszudrücken durch fehlende Routine mit der Zeit ab.

Sprechen, das heißt: sich zu informieren, miteinander zu reden und sich mitzuteilen. Dies sind wesentliche Vorgänge im zwischenmenschlichen Kontakt. Wer Kritik, seine Einstellungen und Gedanken nicht äußert, Gespräche vermeidet, in den alltäglichen Sprechsituationen nicht mithält, wird von seiner Umwelt nicht verstanden, setzt sich nicht durch und wird schließlich falsch beurteilt. In Beruf und Bildung werden die persönlichen Fähigkeiten auch an der sprachlichen Mitteilung gemessen. Eine Rede oder ein Referat, die bzw. das trotz guter Vorbereitung nicht den eigenen Fähigkeiten entsprechend präsentiert wird, wirken wenig überzeugend.

Denn: Richtiges setzt sich in der Welt nicht allein deshalb durch, weil es richtig ist, es muss unseren Mitmenschen auch richtig erklärt werden.

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Als sehr wirksam gegen Sprechängste hat sich das Training Sicher Reden erwiesen. Es ist in langjähriger Erfahrung im Umgang mit Sprechangst entstanden und in einer Studie wissenschaftlich überprüft worden (Beushausen 1996). Ein solches Training bietet die Gelegenheit, die eigenen Sprechgewohnheiten zu verbessern, eine effektive Stressbewältigung für den Alltag zu entwickeln und wichtige Sprechsituationen sicher zu meistern. Dass es sich dabei nicht um kurzfristige Erfolge handelt, zeigten Untersuchungen nach sechs Wochen und einem Jahr: Sprechangst scheint verlernbar zu sein. Häufige Problembeschreibungen, die bei meinen Teilnehmern zum Besuch eines Seminars führen, sind das Unvermögen,

images im Schul-, Uni- oder Arbeitsbereich Fragen zu stellen oder zu beantworten,

images Smalltalk zu machen oder soziale Konversationen zu führen,

images an Gruppenaktivitäten teilzunehmen,

images sich mit Autoritätspersonen zu unterhalten,

images einen zusammenhängenden Vortrag in der Öffentlichkeit zu halten,

images sich seinen Fähigkeiten entsprechend zu präsentieren.

Durch Training zum Erfolg: Bevor Sie weiterlesen, sollten Sie wissen, dass Sie mit dem Problem Sprechangst nicht allein dastehen. Die Zahl der Anmeldungen zu den Seminaren übersteigt bei weitem das Angebot an freien Plätzen. Das Phänomen betrifft Frauen und Männer gleichermaßen und zieht sich durch alle Berufsgruppen: von Auszubildenden und Studierenden über Führungskräfte des oberen Managements bis hin zu Berufssprechern aus Funk und Fernsehen.

Für alle diejenigen, die eine Anleitung zur Selbsthilfe suchen, sich auf ein Gruppenseminar vorbereiten oder danach aktiv weiterarbeiten wollen, ist dieses Buch gedacht. Was Sie zum Training mitbringen müssen? Dasselbe, was sie zum Erlernen jeder neuen Sportart benötigen:

images Veränderungswillen und

images Ausdauer, regelmäßig zu trainieren.

Aber im Unterschied zu manchen Sportarten, für die ein gewisses Talent erforderlich ist, kann jeder lernen, sicherer zu reden.

Das Buch vermittelt Ihnen in den ersten Kapiteln psychologisches Wissen über Sprechangst allgemein. Eingestreut sind immer wieder Übungen und Fragebögen, die Ihnen Erkenntnisse ermöglichen über Ihre ganz persönliche Angstsituation, über Ihre speziellen Auslöser und Ursachen. Nehmen Sie sich Zeit für diese Übungen. Je größer Ihr Wissen über Ihre Sprechangst ist, desto verständlicher und kontrollierbarer wird das zunächst diffuse und überwältigende Angstgeschehen. Oft vermindert sich die Angst allein dadurch beträchtlich! Ab Kapitel fünf lernen Sie in sechs Trainingsbausteinen wirkungsvolle Strategien gegen Sprechängste kennen. Das letzte Kapitel ist schließlich eine Anleitung zum Training im Alltag. Denn das Umsetzen in die Praxis ist das Entscheidende. „Nicht nur lesen, sondern leben“, lautet die Devise.

Zu guter Letzt sei noch gesagt, dass es sich um ein Training handelt, nicht um eine Therapieform. Das heißt, dass Sie schwerpunktmäßig an der Änderung ihres derzeitigen sprechängstlichen Verhaltens arbeiten werden, unter dem Sie gerade im Alltag leiden. Denn Sie können sich hier und heute für eine Veränderung Ihrer bisherigen Gewohnheiten entscheiden.

Und nun geht’s los!

Jetzt!

Nürnberg, Oktober 2013 Ulla Beushausen

1 Was ist Sprechangst?

Katrin M. sitzt in einer Arbeitsgruppe für Marktforschung. Soeben wurde bekannt gegeben, dass jeder Teilnehmer die Ergebnisse seiner Meinungsumfrage selbst darstellen soll. Während der ersten Vorträge sucht sie nach Ausreden und Ausweichmöglichkeiten, wie sie die Präsentation vermeiden könnte. Aber nichts kann die Situation abwenden. Die Kollegin, die vor ihr ist dran ist, beendet soeben ihren Vortrag. Jetzt gleich wird sie an der Reihe sein. Katrin M. steht auf und geht zum Flipchart. Sie spürt, wie ihre Atmung und ihr Herzschlag sich beschleunigen. Als sie den Stift aufschrauben will, um die Überschrift auf das Papier zu schreiben, rutschen ihre schweißnassen Hände von der Kappe ab. Hoffentlich hat es niemand bemerkt! Sie schreibt zitternd und krakelig einige Wörter an. Als sie leise zu sprechen beginnt, wird sie rot. Alle schauen sie an! Die Zahlen und Fakten ihrer Umfrage sind aus ihrem Gedächtnis wie weggeblasen.

Viele von uns haben ganz spezifische Ängste: Wir fürchten uns vor dem Fliegen oder der Dunkelheit oder irgendetwas anderem. Es gibt jedoch gewisse Dinge, die wir tun können, um mit unseren Ängsten zu leben. Wer sich vor der Höhe fürchtet, kann eine Wohnung im Erdgeschoss anmieten; wer sich vor Flugzeugen fürchtet, kann mit der Bahn fahren und wer sich vor der Dunkelheit fürchtet, kann nachts die Lichter anlassen. Doch was ist mit Menschen, die sich vor ihren Mitmenschen fürchten? Sprechängstliche, die dem Objekt ihrer Angst erfolgreich aus dem Wege gehen, verdammen sich selbst zu einem isolierten Leben. Dieser absurde und irrationale Charakter der Sprechangst ist es, der es uns besonders schwer macht, unsere Angst zu akzeptieren. Dabei kennen die meisten Menschen das Gefühl, aufgeregt zu sein, wenn sie vor oder mit anderen sprechen sollen. Beim einen ist es eine größere Gruppe, beim anderen sind es einzelne Gesprächspartner, die unangenehme Gefühle hervorrufen. Betroffene beschreiben ihre Angst meistens als abhängig von bestimmten Situationen, in denen sie erfahrungsgemäß immer wieder auftritt. Man könnte auch von einer „Sprechsituationsangst“ reden. Solche Situationen kann man folgendermaßen einteilen:

images Sprechen vor Gruppen (z. B. Referate, Präsentationen, Reden halten)

images Gespräche mit Autoritätspersonen

images Gespräche mit bekannten oder mit unbekannten Personen

images Soziale Situationen (verbales Sich-Durchsetzen, Forderungen stellen und ablehnen, Kritik äußern, Gefühle äußern, Smalltalk etc.)

images Diskussionsbeiträge in Gruppen (Fachgruppen, Teams, Seminare etc.)

Ob wir nun von Redehemmungen, Lampenfieber, Publikumsangst, Redeangst, Aufgeregt sein oder Sprechangst reden wollen, all diese Begriffe bezeichnen dasselbe Phänomen. Eine psychologische Definition lautet:

DEFINITION

Sprechängste sind erlernte, flüchtig oder andauernd auftretende Befürchtungen und Sorgen, gefühlsmäßige oder körperliche Reaktionen auf vorgestellte oder tatsächlich zu vollziehende “Leistungen“ (vortragen, vorsprechen, rezitieren, vorsingen, sich vorstellen, diskutieren usw.) vor einem imaginären oder realen Publikum. (Kriebel 2014)

Wer diese Beschreibung genau liest, bleibt vielleicht an dem Wort „erlernt“ hängen. Wenn wir gelernt haben, in bestimmten Situationen mit Angst zu reagieren, können wir dieses Verhalten auch wieder verlernen. Interessant ist auch, dass schon ein nur vorgestelltes Publikum und eine Redeleistung, die bloß im Geiste stattfindet, dieselben Reaktionen hervorrufen kann wie anwesende Zuhörer bei einer echten Rede. Das bedeutet, dass unser Vorstellungsvermögen bei der Entstehung von Angst eine entscheidende Rolle spielt. Darin liegt einer der Schlüssel zum Angstabbau. Denn wenn ich in meiner Phantasie Angst hervorrufen kann, kann ich auf diesem Wege auch lernen, sie zu kontrollieren.

Aber auch die Umgangssprache kennt Sprechängste: Da haben wir „Muffensausen“ oder „Bammel“. Das Wort Angst stammt von einem indoeuropäischen Wortstamm, der übersetzt „eng“ oder „bedrängend“ bedeutet. Uns ist „bange“, wir fühlen uns „beklommen“ oder uns „geht die Düse“ und wir „haben Schiss“. Das sind weitere Anspielungen auf körperliche Gefühle und Vorgänge bei Angst.

Wer Sprechängste am eigenen Leibe erfährt, meint meistens, dies sei ein seltenes Phänomen. Dabei ist Sprechangst die am weitesten verbreitete Angst in der Bevölkerung – ca. 30% geben an, „mehr als andere nervös beim Sprechen vor großem Publikum zu sein“ oder „unvernünftig viel Angst beim öffentlichen Sprechen zu haben“. Frauen berichten etwas mehr Redeängste als Männer, und in studentischen Stichproben fällt der Anteil der Redeängstlichen höher aus (Kriebel 2014). In einer eigenen Untersuchung bezeichneten sich mehr als 60% der schriftlich Befragten als mittel bis hochgradig sprechängstlich (Beushausen 1996).

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Abb. 1: Angstmaß

Sind Sprechängste also normal? Und ab wann ist Sprechangst krankhaft? In der Psychologie wird Sprechangst als leichte Form von Sozialangst gewertet. Das Gemeinsame aller Varianten von sozialer Angst sind Beklemmungen in Gegenwart anderer Personen. Die extreme Ausprägung von Sprechangst, das heißt ihre „krankhafte“ Form, wird als Logophobie bezeichnet und ist gekennzeichnet durch das konsequente Vermeiden von Situationen, die öffentliches Sprechen erfordern. Die Übergänge zwischen „ein bisschen aufgeregt sein“ und einer Logophobie sind jedoch fließend und machen deshalb eine Abgrenzung schwierig.

Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe ein Messgerät für Sprechangst. Eine Seite der Skala dieses Gerätes steht für keinerlei Angst beim Sprechen, die andere für übersteigerte Panik. Und zwischen diesen Polen finden Sie lauter feine Abstufungen für die Stärke Ihres Angstgefühls.

Nehmen Sie an, die Zahl 0 steht für gar keine, die Zahl 100 für sehr starke Sprechängste. Wo würden Sie sich zurzeit einordnen? (Abb. 1)

Generell gilt, je häufiger Sie Sprechsituationen vermeiden, je unangemessener Ihnen Ihre eigene Angst erscheint, je stärker Sie unter Ihrer Angst leiden, desto ausgeprägter ist Ihre Sprechangst. Beantworten Sie sich einmal in einer ruhigen Minute folgende Fragen:

ÜBUNG

Leidensdruck

images Welche Situationen in Ihrem Leben vermeiden Sie?

images Wie stark ist Ihre Lebensqualität durch die Angst beeinträchtigt?

images Welche beruflichen oder privaten Einschränkungen erfahren Sie durch Ihre Angst?

images Wie stark leiden Sie unter Ihrer Angst?

Die Entscheidung, die Angst aktiv zu bewältigen, hängt davon ab, wie hoch Ihr Leidensdruck ist und wie stark Sie sich durch Ihr Vermeidungsverhalten in Ihrem beruflichen Fortkommen oder in Ihrem sozialen Ausdrucksvermögen beeinträchtigt fühlen. Der Gradmesser sind also Sie und Ihre Einschätzung sowie die Beeinträchtigung Ihrer Lebensqualität durch die Angst.

Manchmal reicht ein Selbsthilfeprogramm allein nicht aus, um Sprechängste in den Griff zu bekommen. Persönlichen, fachlichen (ärztlichen/psychologischen) Rat sollten Sie immer dann aufsuchen, wenn Sie

images ohne erkennbaren Grund von plötzlichen Panikattacken überfallen werden,

images zunehmend unter körperlichen Beschwerden wie Herzrasen, Herzrhythmusstörungen, Magenschmerzen etc. leiden,

images länger andauernde depressive Verstimmungen und körperliche Symptome, wie Schlafstörungen oder Müdigkeit, an sich bemerken,

images sich „logophobisch“ verhalten, dass heißt, ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten an den Tag legen.

Diese Symptome weisen daraufhin, dass es sich um eine umfassendere Problematik handelt und nicht mehr um eine isolierte Sprechangst. Hier ist direkte therapeutische Hilfe erforderlich.

Angst ist nicht gleich Angst

Der Wunsch vieler Sprechängstlicher, ihre Angst loszuwerden, um ganz ohne Aufregung sprechen zu können, ist verständlich, aber leider unrealistisch. Wenn Sie den Anspruch an sich haben, dass Sie überhaupt keine Angst mehr haben dürfen, setzen Sie sich selbst unter Druck und Sie verhalten sich kurzsichtig, denn ein Leben ohne Angst wäre biologisch gesehen sogar gefährlich. Angst ist unser Alarmsystem für Lebensbedrohungen und sichert somit unser Überleben. Je mehr Sie über die positiven Eigenschaften von Angst wissen, umso differenzierter können Sie mit dem Gespenst Sprechangst umgehen. Zu diesem Wissen zählt auch folgende Tatsache: Angst aktiviert uns und befähigt uns zu Höchstleistungen. Theaterpremieren sind u. a. deshalb so spannend und ihre Karten begehrt, weil die Schauspieler mit größerem Engagement und höherer Anspannung spielen als in der 150igsten Vorstellung. Allerdings gibt es auch eine Kehrseite der Medaille: zu viel Angst wirkt hemmend und leistungsmindernd. In der Psychologie spricht man von einer umgekehrt U-förmigen Beziehung zwischen Aktivierung (Angst) und Leistung (Horwitz 2002). Wie das aussieht, zeigt Abbildung 2.

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Abb. 2: Zusammenhang: Aktivierung und Leistung

Die beste Sprechleistung finden wir bei einem Menschen mit einem mittleren Grad des Aktiviertseins. Auch dann gibt es vielleicht schon Anzeichen, wie sie bei leichter Sprechangst auftreten: z. B. eine bessere Durchblutung des Gesichts und eine höhere Muskelspannung. Sie werden aber vom Sprecher noch als gespannt und nicht als angespannt gewertet und behindern die sprachliche Leistung in keiner Weise. Im Gegenteil: Er ist motivierter und leistungsfähiger als ein Sprecher, der zu wenig aktiviert ist und wirkt dadurch überzeugender. Zu viel Anspannung dagegen kann die Ausdrucksfähigkeit und das Erinnerungsvermögen hemmen und zum gefürchteten „Blackout“ führen.

Experimentell nachgewiesen wurde auch die Tatsache, dass die Aufregung/Aktivierung während einer Redesituation nicht gleichförmig verläuft. In den ersten drei bis vier Minuten ist sie am stärksten, um dann durch zunehmende Vertrautheit mit der Situation abzunehmen. Diesen Gewöhnungseffekt (Abb. 3) sollten Sie kennen, um unangenehme Situationen nicht zu früh zu beenden. Sie machen sonst nie die Erfahrung, dass auch Ihre Aufregung nachlässt und Sie vielleicht später ruhiger weitersprechen können.

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Abb. 3: Gewöhnungseffekt

Sie sehen, Angst ist nicht gleich Angst. Deshalb ist es wichtig, Angst als Teil des Lebens zu akzeptieren und sie sich zuzugestehen. Im Gegenzug dazu soll das Gute an der Angst Sie nicht dazu verleiten, nun nichts mehr an Ihrem sprechängstlichen Verhalten ändern zu wollen. Denn gegen eine leistungshemmende, übermäßige Aktivierung kann man etwas unternehmen. Die Übungen sollen Ihnen helfen, Ihre Angst besser kennen zu lernen und Ihnen zeigen, welche Bewältigungsstrategien schon in Ihnen schlummern.

Der Blick des Publikums

Es gibt Momente, in denen schon ein einfacher Blick Unbehagen auslösen kann, z. B. wenn man eine banale Handlung, wie einen Platz suchen, einparken, essen oder schreiben unter dem Blick der anderen ausführen muss. Diese Situationen müssen nicht unbedingt etwas mit sprechen zu tun haben, manch einer sitzt nicht gern direkt neben einem Redner, weil die Aufmerksamkeit des Publikums dort auf ihn gelenkt werden könnte. Das unangenehme Gefühl beim Beobachtetwerden gibt es auch im Tierreich: Der feste Blick ist ein Mittel zur Untermauerung der Dominanz. Das dominante Tier bringt das Rangniedere dazu, seine Augen niederzuschlagen. Verweigert Letzteres diese Geste, kommt es zu Aggression und Kampf. In überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln oder im Fahrstuhl senken wir den Blick, wenn wir nicht als unhöflich oder provokativ gelten wollen. Das Unwohlsein unter dem Blick der anderen ist also charakteristisch für uns Menschen. Solche Situationen sind jedoch nur dann problematisch, wenn wir anfangen, sie besonders zu fürchten und schließlich zu vermeiden.

ÜBUNG

„Im Mittelpunkt stehen“

Schaffen Sie bewusst Situationen, in denen Sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, aber nicht sprechen müssen. Bleiben Sie so lange in der Situation, bis Sie sich daran gewöhnt haben, z. B.:

images Setzen Sie sich in der U-Bahn nicht hin, obwohl vielleicht noch Plätze frei wären. Bleiben Sie stehen und sehen Sie Ihre Mitfahrer der Reihe nach an.

images Stehen Sie im Kino oder Theater noch einmal auf, bevor die Vorstellung anfängt, lassen Sie die Augen noch einmal suchend über die Reihen gleiten.

images Stehen Sie im Restaurant auf, um eine Zeitung, Salz, Zucker o. Ä. zu holen.

images Kommen Sie in die Vorlesung, ins Flugzeug etc. bewusst als einer der Letzten.

images Schauen Sie beim Friseur im Spiegel die anderen Kunden an.

images Wenn Sie zu einer Veranstaltung zu spät kommen, stellen Sie sich an einen Platz, der Sie gut sichtbar macht für die anderen. Sehen Sie sich im Raum um.

images Wenn Sie an Team- oder Seminartreffen teilnehmen, bleiben Sie stehen. Wenn die anderen sitzen, gehen Sie im Raum herum, öffnen Sie das Fenster.

Ziel der Übung: Sie erfahren den Gewöhnungseffekt, das heißt, dass das anfänglich unangenehme Gefühl, im Mittelpunkt zu stehen, schließlich nachlässt. Beachten Sie: Es ist nicht Sinn der Übung, andere zu stören, sondern Ihren Freiraum auszuschöpfen, aus der Masse herauszuragen. Sie können es aushalten, im Mittelpunkt zu stehen!

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Abb. 4: Urmensch trifft Bär

Änderungsmotivation

Bei einem Trainingsprogramm in Buchform ist die Eigenmotivation das Wichtigste, das Sie bei der Stange hält. Je höher der Leidensdruck, desto höher auch der innere Druck zur Veränderung. Dauerhaften Erfolg werden Sie jedoch erst dann verspüren, wenn Sie auch bei nachlassendem Leidensdruck und ersten Erfolgserlebnissen weiter üben, sodass die positiven Erfahrungen einen Erfolgssog entwickeln können, der Sie automatisch weiterzieht. Wie in Urzeiten unsere Vorfahren im Angesicht des wilden Bärs, können Sie sich nun entscheiden, weiterhin vor der Angst wegzulaufen oder sich ihr aktiv zu stellen (Abb. 4), um in den Genuss des Erfolgssogs zu gelangen.

Sich aktiv der Angst zu stellen, heißt dann auch, dass Sie sich selbstständig über die in den Übungen genannten Trainingssituationen hinaus neue Herausforderungen suchen sollten, die Angstgefühle auslösen werden. Nur in solchen Situationen können Sie neue Bewältigungsstrategien erproben, für den Alltag festigen und theoretisches Wissen in Handlungen umsetzten. Das Tun ist dabei wichtiger als die Theorie. „Action speaks louder than words.“, lautet ein amerikanisches Sprichwort.

Kosten und Nutzen von Sprechangst

Manchmal gibt es für Sie jedoch ganz konkrete Gründe, die gegen eine Verhaltensänderung sprechen. Unser ängstliches Verhalten birgt auch positive Anteile. So hat ein starkes Vermeidungsverhalten den Vorteil, uns viel Arbeit und Vorbereitungszeit für Vorträge und Referate und die Auseinandersetzung mit den eigenen Fähigkeiten zu ersparen. Es stellt in gewisser Weise einen Schutzmechanismus für uns dar, denn unsere wahren Fähigkeiten – unser sprecherisches Können, aber auch unsere Defizite – stehen so nie auf dem Prüfstand. „Zurückhaltend“, „still“, „bescheiden“, das alles sind Beschreibungen für sprechängstliche Menschen mit positivem Beiklang. Die Angst lässt einen besonnen und selbstkritisch erscheinen, vorsichtig und behutsam. Vielleicht werden wir auch als gute Zuhörer von unseren weniger ängstlichen Mitmenschen geschätzt. Sprechangst ist oft eine Maske, hinter der wir Anonymität und Schutz davor erfahren, in der Menge aufzufallen oder Dinge zu tun, die wir eigentlich tun sollten.

ÜBUNG

Ihre Motivation zur Veränderung

Nehmen Sie sich etwas Zeit und malen Sie sich vor Ihrem inneren Auge passende Situationen zu den folgenden Fragen zur Klärung Ihrer Änderungsmotivation aus. Wichtig dabei ist, dass Sie sich dabei selbst in diesen Situationen sehen:

images Was würden Sie konkret tun, wenn die Angst nicht so stark wäre?

images Was wäre dann anders?

images Welche negativen Auswirkungen gibt es, wenn die Angst nicht mehr da wäre?

Erstellen Sie anschließend eine Kosten-Nutzen-Analyse in Tabellenform. Die Tabelle auf S. 21 zeigt die Angaben eines meiner Klienten.

Sie sehen daraus, dass Sie sorgfältig abwägen müssen, ob und welche Vorteile es bringt, mit weniger Angst durchs Leben zu gehen. Was passiert, wenn der Nutzen der Angst plötzlich wegfällt? Überwiegen jedoch die Kosten und negativen Folgen eines ängstlichen Sprechverhaltens, sollten Sie schleunigst mit dem Training beginnen.

Kosten Meine Sprechangst bewirkt, dass . . .

Nutzen Meine Sprechangst hilft mir dabei . . .

images ich kaum noch Kontakt zu anderen Menschen habe,

images ich von anderen oft negativ bewertet werde, z. B. für arrogant gehalten werde,

images ich im Beruf nicht die Position innehabe, die meinen Fähigkeiten entspricht,

images ich wenig Menschen kennen lerne, da ich nur schwer über mich reden kann,

images ich mich nicht traue, Fragen zu stellen und mir so viele interessante Informationen vorbehalten bleiben,

images ich immer mehr Situationen meide,

images ich mich angespannt, unzufrieden, isoliert und wertlos fühle,

images ich mein Wissen und meine Gefühle anderen nicht mitteilen kann.

images mein Alleinsein und meine introvertierte Persönlichkeit zu rechtfertigen,

images Konflikte mit anderen zu vermeiden,

images bequem zu leben, denn Herausforderungen, die eventuell Energie und Durchsetzungsvermögen erfordern würden, vermeide ich,

images eine Erklärung für meine berufliche Stagnation zu finden,

images eine Ausrede zu finden, wenn ich Dinge, die ich ungern tue, vermeide,

images auf andere besonnen und selbstkritisch zu wirken,

images eine bequeme Art der Anonymität und des Schutzes zu erfahren.

Zirkuläres Fragen

Das so genannte zirkuläre Fragen führt dazu, dass wir ein Problem plötzlich aus einer anderen Perspektive wahrnehmen können. Das Hineinversetzen in die Sicht unserer Freunde, Partner und Verwandten bewirkt eine Erweiterung der Wahrnehmung auf Aspekte, die wir vielleicht bisher übersehen haben. Machen Sie sich eine Liste der Personen Ihres näheren Umfeldes, Ihres Verwandten- und Freundeskreises und beantworten Sie aus der Perspektive jeder einzelnen Person folgende Fragen:

ÜBUNG

Zirkuläres Fragen

images Wie würde Person x,y,z bemerken, dass ich selbstsicherer geworden bin?

images Wie würde Person x,y,z darauf reagieren?

images Wie würde Person x,y,z meine Unsicherheit beschreiben?

images Wer würde es bedauern, wenn ich plötzlich selbstbewusster wäre?

Wie äußert sich Sprechangst?

Sprechängste zeigen sich auf drei Ebenen: 1. in Körperreaktionen, 2. in besorgten Gedanken und inneren Sätzen und 3. in veränderten Verhaltensweisen, wie dem Sprechverhalten (Abb. 5).

1. Körperliche Symptome: Bei körperlicher Aktivierung unter Angst/Sprechangst findet eine Reaktion des Organismus statt, bei der das sympathische System des vegetativen Nervensystems verstärkt die Botenstoffe Noradrenalin und Adrenalin freisetzt. Der Körper befindet sich dann in einem Zustand höchster Reaktions- und Leistungsbereitschaft (zur Flucht oder zum Kampf). In einer Sprechsituation wird nun aus der früheren Lebensbedrohung (z. B. durch den plötzlich auftauchenden Bär in grauer Vorzeit) eine soziale Bedrohung. Da wir in sozialen Umgebungen häufig weder weglaufen noch um uns schlagen können, ist Angst dort hinderlich, es kommt zum Stau – zur Überkonzentration – der Botenstoffe, die nicht schnell genug abgebaut werden können. Die typischen Folgen für den Körper sind:

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Abb. 5: Symptome von Sprechangst

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