Inhaltsverzeichnis
Im Büro
Zu Hause
Weder zu Hause noch im Büro …
Auf der Straße
Im Krankenhaus
Das Krankenzimmer ohne Nummer
Die Behandlung
Unvorhergesehene Folgen
Gitarre oder die nächtliche Vision eines Wächters
Ein Handtuch auf dem Telefonhörer oder »Ich komme bald, meine Teure«
Auf jeden Fall
Dehar
Der Rundgang
Das Rudiment
Annex
Nachwort
Impressum und Copyright

Nachwort

In Georgien muss man Naira Gelaschwili nicht vorstellen. Dort ist sie als Autorin, Übersetzerin und Politkerin bekannt, ihren autobiographisch geprägten Roman »Ich bin sie« etwa, über die unerfüllbare erste Liebe einer Dreizehnjährigen, die sich in einen studierenden Bewohner des Nachbarhauses verguckt, schenken sich bis heute Verliebte im ganzen Land.
Hierzulande ist das leider bislang noch anders. Dabei rühmt man Naira Gelaschwili gleich für drei große Leistungen.
Zum einen ist sie Germanistin und Übersetzerin aus dem Deutschen, so hat sie das Werk Rainer Maria Rilkes ins Georgische übertragen, aber auch Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Friedrich Hölderlin und Georg Trakl. Man merkt an dieser kleinen Auswahl: Sie macht es sich nicht leicht.
Die 1947 im Ostgeorgischen Sighnaghi geborene Wissenschaftlerin lebt seit ihrem siebten Lebensjahr in Tbilissi, der georgischen Hauptstadt, von 1975 bis 1981 lehrte sie dort Germanistik, von 1982 bis 1990 wirkte sie als Lektorin, Übersetzerin und Mentorin im Staatlichen Übersetzerkollegium.
Von 1970 an war sie zehn Jahre lang mit dem deutsch-georgischen Philosophen und Schriftsteller Giwi Margwelaschwili verheiratet und bemühte und bemüht sich seither darum, dass dessen auf Deutsch verfasste Romane, Erzählungen und philosophische Abhandlungen in Georgien und in Deutschland größere Verbreitung finden.
Doch nicht nur als Germanistin kennen viele sie in Deutschland, sondern auch als politischen Kopf. 1993 begründete sie in der georgischen Hauptstadt ein Zentrum für kulturellen Austausch, Das kaukasische Haus, in dem sie sich um die friedliche Koexistenz der in der Region Kaukasus lebenden Völker verdient gemacht hat. Dort will sie religiöse und politische Gegensätze mithilfe kultureller Arbeit überwinden, zugleich kümmert man sich im Kaukasischen Haus um die Fortbildung des akademischen Nachwuchses und publiziert unermüdlich Texte aus anderen Kulturen. Die erste Übertragung des Korans in die georgische Sprache etwa geht auf die Initiative Gelaschwilis zurück.
Die auch in Westeuropa hoch angesehene Institution, der sie bis heute vorsteht, war vielfach unter den wechselnden Regierungen in Georgien umkämpft, doch immer wieder gelang es Gelaschwili, die Einrichtung zu erhalten – auch mithilfe vieler internationaler Solidaritätsadressen.
Vor allem aber ist die »wortgewaltige Publizistin«, wie sie der FAZ-Redakteur Tilman Spreckelsen nannte, eine der berühmtesten und verehrtesten Autorinnen der georgischen Gegenwartsliteratur. Und anders als viele ihrer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen hat sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht ihren Mut und ihre Sprache verloren, im Gegenteil, sie veröffentlichte trotz ihrer Leitungsfunktion im Kaukasischen Haus und trotz ihrer Übersetzungstätigkeit zahlreiche Romane, Erzählungen und Gedichte.
In Deutschland sind ihre belletristischen Texte bis 2017, als erstmals der Roman »Ich bin sie« auf Deutsch vorlag, nur in Anthologien erschienen. 1997 wurde allerdings das von ihr in deutscher Sprache verfasste Sachbuch »Georgien – ein Paradies in Trümmern« im Aufbau Verlag veröffentlicht, in dem auch Gespräche mit Eduard Schewardnadse enthalten waren, dem sie von 1992 bis 1994 als Beraterin für Kulturpolitik und nationale Minderheiten gedient hatte.
Nun liegt endlich ihre Novelle »Ich fahre nach Madrid« vor. Naira Gelaschwili schrieb sie 1982 und bot sie der monatlich erscheinenden Zeitschrift »Ziskari« – zu Deutsch »Morgendämmerung« – an. Doch der zuständige Chefredakteur zögerte anderthalb Jahre, bis er es endlich wagte, den Text zu drucken. Die verärgerte Autorin hatte ihr Manuskript zuvor schon zurückziehen wollen.
»Wie plötzlich aufgekommener frischer Wind, der ans Fenster schlägt und es weit aufmacht …« – mit diesen Worten beschrieb seinerzeit ein bekannter Literaturkritiker den Eindruck, den die Novelle auf ihn ausübte. Die entsprechende Ausgabe der Zeitschrift, die immerhin in einer Auflage von rund 80.000 Exemplaren erschien, war nach einer Woche vergriffen.
Es stellte sich allerdings heraus, dass der Chefredakteur sich nicht geirrt und zurecht gezögert hatte. Er bekam einen Anruf vom Zentralkomitee der kommunistischen Partei Sowjetgeorgiens: Es sei schon entschieden, dass er wegen der Veröffentlichung »dieser antisowjetischen Erzählung« bald entlassen werden würde, wurde ihm mitgeteilt. »Ja, aber dort steht doch kein einziges Wort gegen die Sowjetunion!«, versuchte der Redakteur sich und den Text zu retten. Die Stimme des Anrufenden wurde noch eisiger: »Sie verstehen doch sehr gut und wir auch, dass dies nicht notwendig ist.« So hat es der damalige Chefredakteur berichtet.
Denn die Idee war naheliegend: Das Gefühl der Freiheit, obschon im Text die Freiheit ja nur im Traum erlangt wird, drang nach außen. Das Andere, Fremde, Ferne ist jedoch gefährlich für eine totalitäre Regierung. Es ist ein Rudiment aus den Zeiten vor dem Regime, deshalb muss es verdammt werden, da es eine andere Sicht auf eine Gesellschaft ermöglicht. Gerade Georgien war eine Sowjetrepublik, in der sich die Sehnsucht nach der Unabhängigkeit, die Georgien 1918 für drei Jahre erlangt hatte, bevor die Rote Armee es überrannte, besonders lang erhalten hatte, noch lange nach der Okkupation kam es in Tiflis zu Unruhen.
Sollte es also wirklich zur Entlassung des Chefredakterurs der Zeitschrift »Ziskari« und zum Verbot der »Madrid«-Novelle kommen?
Die Sache entwickelte sich überraschenderweise ganz anders: Der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes Georgiens, Nodar Dumbadse, dem die Novelle sehr gefallen hatte, setzte im Eiltempo durch, dass dem Text der Preis des Schriftstellerverbandes als »Beste Erzählung des Jahres« verliehen wurde. Da die Angelegenheit somit bereits eine große Öffentlichkeit gefunden hatte, und da es der Regierung wenig opportun erschien, sich dem Schriftstellerverband entgegenzustellen, wich das Zentralkomitee zurück. Der Chefredakteur behielt seine Stelle und druckte nach einem weiteren Jahr sogar einen kleinen Roman von Naira Gelaschwili über die Liebe (»Ambrni, Umbrni da Arabni«), der bis heute als einer der beliebtesten Romane in Georgien gilt.
Und auch »Ich fahre nach Madrid« erhielt nun weiteren Zuspruch. »Die vortreffliche Belebung der romantischen Ironie im literarischen Raum der (sowjetischen) Postmoderne« sah ein Kritiker in der Novelle.
Interessant ist, dass »Ich fahre nach Madrid« nicht allein im Kontext des Realsozialismus funktioniert. Vielmehr beschreibt der Text eine universelle Erfahrung – gestresst von Arbeit, ermüdet von der alltäglichen Routine sehnt man sich oft nach einem Raum, der von allem entfernt liegt, der in einem neue Kräfte weckt und die Kreativität herauskitzelt. Man sehnt sich nach einem »Madrid«, das man nicht mit einem Flugzeug oder einem Auto erreichen kann, denn es liegt in unserer Phantasie verborgen. Wir müssen nur die Zeit nehmen, es zu finden. Und dazu ermutigt diese Novelle der großen Schriftstellerin Naira Gelaschwili auch heute.
Jörg Sundermeier
Berlin, Januar 2018

Impressum und Copyright

Ich reise nach Madrid

Erste Auflage

© Verbrecher Verlag 2018

www.verbrecherei.de

Buchsatz und Ebook: Christian Walter

Der Verlag dankt Insa Hansen-Goos,
Lucia Müther und Hannah Vogel.

ISBN Print: 978-3-95732-308-8

ISBN Epub: 9783957323231

ISBN Mobipocket: 9783957323248


The book is published with the support of the
Georgian National Book Center and the
Ministry of Culture and Sport of Georgia.

NBC
Naira Gelaschwili

ICH FAHRE NACH
MADRID


Novelle


Aus dem Georgischen übersetzt
von Lia Wittek
und Mariam Baramidse
signet

Im Büro