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Kagarlitzki schildert, was seit der Auflösung der UdSSR in Russland geschehen ist und wie sich das soziale und kulturelle Leben bis in die heutige Zeit verändert hat. Er beschreibt die Herausbildung neuer nationaler Oligarchien und das dramatische Fehlen einer echten Opposition. Ein Grundlagentext zum Verständnis der aktuellen Ereignisse in Russland.

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BORIS KAGARLITZKI, Soziologe und politischer Dissident in der UdSSR wie auch im postsowjetischen Russland. 1990 bis 1993 Mitglied der Sozialistischen Partei Russlands und Abgeordneter des Moskauer Stadtsowjets, später Mitbegründer der Arbeiterpartei und Berater des Vorsitzenden des russischen Gewerkschaftsbundes. Heute Direktor des Instituts für Globalisierung und Soziale Bewegungen (IGSO) in Moskau. Schreibt regelmäßig für die Moscow Times und Eurasian Home.

BORIS KAGARLITZKI

BACK IN THE

USSR

DAS NEUE RUSSLAND

AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZT VON RONALD GUTBERLET

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Die Originalausgabe des
vorliegenden Buches
erschien unter dem Titel
Back in the USSR
bei Seagull Books,
London/New York/Kalkutta
2009
Nachwort © Boris Kagarlitzki;
aus dem Russischen
übersetzt von Günter Meyer

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Ein eigenartiger Aspekt der post-sowjetischen gesellschaftlichen Situation in Russland und anderen früheren Republiken der UdSSR ist, dass sie fast zwei Jahrzehnte nach dem Zerfall des alten Staates noch immer als »ehemals sowjetisch« angesehen werden und sich auch so definieren. Bereits zehn Jahre nach dem Ende des Zarenreichs hat sich niemand mehr auf dessen Hinterlassenschaft bezogen, um die Lage im Land zu erklären. Und wenn jemand vom alten Regime sprach, dann nur, um den Unterschied zur Vergangenheit deutlich zu machen. Das gilt nicht für die Staaten der ehemaligen Sowjetunion.

Natürlich ist der Unterschied zwischen der sowjetischen Vergangenheit und der kapitalistischen Gegenwart eklatant, aber gerade das ist ja das Faszinierende an dieser Frage: Warum beziehen sich die neuen Eliten immer wieder auf die alten Zeiten, um ihre Existenz zu legitimieren? Warum versucht die Werbung ständig, den Konsumenten einzureden, dass die angebotenen Produkte genau die gleichen seien wie früher zu Sowjetzeiten? Warum organisiert die Regierung in Moskau Jahr für Jahr eindrucksvolle Siegesfeiern, die eindeutig an die alten sowjetischen Zeremonien erinnern?

Doch obwohl diese Eliten ihre Legitimität aus der ständig beschworenen Nachfolge der UdSSR ableiten, sind sie gleichzeitig strikt antikommunistisch. Auf der einen Seite wird die sowjetische Vergangenheit verherrlicht, auf der anderen werden ständig Schreckensnachrichten über sie verbreitet. Fernsehdokumentationen und Spielfilme über die stalinistische Repression und die Heldentaten der Weißen Garden im Kampf gegen die Bolschewiki werden mit beeindruckenden Budgets produziert.

Man könnte dies damit abtun, dass die russische Propagandamaschine eben schizophren ist. Aber die eigentliche Frage lautet doch: Warum ist das so?

Kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion war die Lage noch eine andere. Der Staat stellte sich als das »Neue Russland« dar und behauptete, nur wenig mit dem ehemaligen Regime gemein zu haben. Nun wurde der 12. Juni zum Tag der russischen Unabhängigkeit erklärt, um jenes Datum zu feiern, an dem das russische Parlament 1990 die »Erklärung der Souveränität« beschloss und Jelzin, ein Jahr später, zum Präsidenten gewählt wurde. Dieser öffentliche Feiertag ist geblieben, aber die offizielle Propaganda wagte es nicht länger, ihn als »Unabhängigkeitstag« zu bezeichnen. Er wurde später in »Tag Russlands« umgewandelt, und tatsächlich wunderte sich niemand darüber, warum genau dieser Tag gewählt worden war.

Die Erfindung einer herrschenden Klasse

Die Angehörigen der neuen Wirtschaftselite, die nach dem Ende des Sowjetsystems in Moskau und anderen Städten ziemlich schnell entstand, wurden bald schon als die »neuen Russen« bezeichnet. Kurz darauf kamen zahlreiche Witze über ihre eigenartigen Verhaltensweisen und ihren luxuriösen Lebensstil auf. In einem dieser Witze versuchen zwei »neue Russen«, einander zu übertrumpfen: »Ich hab diese Krawatte für eintausend Dollar gekauft«, sagt der eine. »Da hast du dich ja ganz schön übers Ohr hauen lassen«, erklärt daraufhin der andere, »nicht weit von hier gibt es einen Laden, wo du sie für das Doppelte kaufen kannst!«

Viele dieser Leute schienen aus dem Nirgendwo zu kommen, niemand kannte ihre persönlichen Hintergründe. Noch mehr von ihnen hatten eine kriminelle Vergangenheit. Aber der größte Teil des Wohlstands ging nicht an diese Emporkömmlinge, sondern an die Elite der alten sowjetischen Bürokratie, die früher als »Nomenklatura« bezeichnet wurde. Diese Gruppe bestand aus Partei- und Staatsfunktionären, die nicht nur über politische Macht, sondern auch über bestimmte materielle Privilegien verfügten, was in einer Mangelwirtschaft sehr wichtig ist, auch wenn die Privilegien in modernen kapitalistischen Verhältnissen eher bescheiden waren.

Tatsächlich war die russische Privatisierung kaum mehr als eine Umverteilung von Wirtschaftsgütern zwischen den verschiedenen bürokratischen Gruppen, die im sowjetischen System schon lange vor den Reformen existiert hatten. Die liberalen Reformen der 1990er Jahre hatten den Zweck, nationales Eigentum praktisch zum Nulltarif wegzugeben und das wirtschaftliche Potenzial der früheren Supermacht aufzulösen. Man sollte sich in diesem Zusammenhang noch einmal vergegenwärtigen, dass die Sowjetunion nicht nur in politischer, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine Supermacht gewesen war. Sicherlich, die sowjetische Wirtschaft arbeitete so ineffektiv wie nur möglich, aber sie war dennoch die zweitgrößte der Welt.

Kurz vor den marktwirtschaftlichen Reformen rechneten einige Ökonomen aus, dass in Russland nicht genügend Kapital vorhanden sei, um die Wirtschaftsgüter, die sich in Staatsbesitz befanden, kaufen zu können. Die finanziellen Ressourcen der Bevölkerung würden nur knapp ausreichen, um ein Prozent der vorhandenen Wirtschaftsgüter zu privatisieren. Natürlich kommt es darauf an, wie hoch man den Wert der jeweiligen Güter ansetzt. Anatoli Tschubais, der später als »Vater der russischen Privatisierung« bezeichnet wurde (und nun Vorsitzender einer Aktiengesellschaft ist, die in die Entwicklung von Nanotechnologien investiert), wurde nicht müde zu verbreiten, man könne keine vernünftigen Berechnungen durchführen, weil es gar keinen Markt gebe, und nur der Markt könne Auskünfte über den wahren Wert der Wirtschaftsgüter geben. Ob es wirklich »keinen Markt« in der UdSSR gab, ist eine offene Frage, aber die Weltmärkte existierten sehr wohl und hätten den Reformern deutliche Hinweise auf den Wert dieser Güter geben können. Und selbst wenn niemand gewusst hätte, wie viel ein Interessent für eine zur Privatisierung anstehende Fabrik bezahlen sollte, hätte man zumindest eine Vorstellung vom Wert der hergestellten Produkte haben können. Wenn eine Fabrik zu weniger als fünf Prozent des Wertes der Produkte in ihren Lagerhallen veräußert wird, dann besagt das schon sehr viel. Oftmals kaufte jemand eine Fabrik, veräußerte die vorhandenen Waren und schloss anschließend den Betrieb. Damit konnte man immerhin 500 bis 1000 Prozent Gewinn machen. Sogar wenn die Käufer die Maschinen als Schrott verscherbelten, erzielten diese »neuen Unternehmer« einen enormen Profit.

In der Praxis wurden die meisten sowjetischen Unternehmen für weniger als ein Prozent ihres Marktpreises privatisiert – so gesehen waren die Ökonomen der späten 1980er Jahre allzu optimistisch gewesen. Als 1993, nach Jelzins Staatsstreich, das Parlamentsgebäude von der Regierung übernommen wurde, sollte es durch einen Zaun geschützt werden. Die Kosten für den Bau dieses Zauns waren viel höher als die Einnahmen des Staates durch die Privatisierung der Wirtschaft. Nur drei russische Firmen waren für einen Betrag verkauft worden, der über den Kosten für die Errichtung dieses Zauns lag.

Auch wenn das völlig absurd erscheint, hat dieser Prozess seine eigene Logik. Wenn man etwas nicht verkaufen kann (weil niemand es kaufen will), dann muss man es eben verschenken. Zwar waren ausländische Firmen durchaus bereit, mehr zu zahlen als russische Interessenten, aber auch sie schreckten davor zurück, allzu viel Geld zu investieren: Sie interessierten sich nur für die Sahnestücke, die die russische Elite sich ebenfalls unter den Nagel reißen wollte. Als die Frage, woher das Kapital kommen sollte, vom Tisch war, ging es nur noch darum, die Wirtschaftsgüter an Freunde, Partner und Verbündete zu verteilen.

Jene Führungskräfte in den politischen und ökonomischen Institutionen, die schon während der späten »kommunistischen« Jahre der UdSSR Macht besaßen, behielten auch während des gesamten Privatisierungsprozesses die Kontrolle und stellten nun den Kern der neuen kapitalistischen Elite dar. Zwei Drittel der Angehörigen der kapitalistischen Klasse, die in den 1990er Jahren entstand, hatte einen Parteihintergrund. Andere stammten aus der Geheimdienstelite des KGB. Natürlich ließ es sich nicht vermeiden, dass auch ungebetene Gäste mitmischten. Einige der neuen Besitzer waren zunächst nichts weiter als Treuhänder mit dem Auftrag, Geld und Güter für die Parteiführer und die staatlichen Funktionäre zu verwalten, da diese aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage waren, das öffentlich zu tun. Natürlich hatten diese Treuhänder auch ihre persönlichen Vorteile im Auge. Oftmals unterschlugen sie Kapital, um eigene Unternehmen damit aufzubauen. Auf diese Weise sind viele berühmte Oligarchen zu Reichtum gekommen. Mitte der 1990er Jahre waren die Namen von Wladimir Gussinski, Boris Beresowski, Michail Chodorkowski, Roman Abramowitsch und vielen anderen auf der ganzen Welt bekannt. Aber als sich die politische und soziale Lage in Russland zu stabilisieren begann, verloren diese Newcomer an Einfluss. Und diejenigen unter ihnen, die nicht verstehen wollten, dass ihre Zeit um war, verloren nicht nur ihre politische und wirtschaftliche Macht, sondern auch große Teile ihres Eigentums.

Später beklagten sich westliche Experten lautstark über die Korruption in Russland. Seltsamerweise taten sie das rückwirkend, als der Prozess schon abgeschlossen und die neuen Besitzverhältnisse etabliert waren. Als in den frühen 1990er Jahren Nachrichten über Korruption und Plünderungen in Russland die westlichen Beobachter, Journalisten und Experten erreichten, von denen viele in Moskau arbeiteten, wiesen sie dies pauschal als »kommunistische Propaganda« zurück. Aber selbstverständlich waren ihnen diese Geschichten bekannt. Später, Ende der 1990er Jahre, zitierten sie genau jene Quellen, die sie wenige Jahre vorher als unseriös abgelehnt hatten.