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»Müssen wir nach der Revolution nun mit der Scharia rechnen?«, fragen besorgte Beobachter mit Blick auf Nordafrika. Doch der ›Islamismus‹ ist nicht allein im Orient entstanden, sondern wurzelt in einer gemeinsamen Tradition westöstlicher Anti-Aufklärung, deren militärischer Ableger die Aufstandsbekämpfung ist, die aktuelle Doktrin der NATO. So erscheint es alles andere als sicher, ob sich die Demokratie auf Dauer gegen ihre Feinde durchzusetzen vermag.

Seine Spurensuche führt den Autor durch Libyen, Tunesien, Saudi-Arabien, Algerien, Marokko und Afghanistan.

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Marc Thörner, geb. 1964, lebt in Hamburg. Seit 1994 freier Journalist, überwiegend für ARD-Rundfunkanstalten. Berichtet aus dem Maghreb, den Golfstaaten, dem Irak, Pakistan und Afghanistan. Bei Nautilus erschienen Der falsche Bart. Reportagen aus dem Krieg gegen den Terror (2007) und Afghanistan-Code (2010). 2009 erhielt er für ein Afghanistan-Feature den Otto-Brenner-Preis für investigativen Journalismus.

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EDITION NAUTILUS

Meiner Mutter

EDITION NAUTILUS

Inhalt

I. Die Rebellion

Kurve neun | Dr. Abdallah | Zwei Revolutionen | Arabische Welt | Dar Dar, Zenga Zenga | Sansbabouschen | Arabische Unterwelt | Die schädlichen Auswirkungen der Vernunft | »Du sprichst nicht mal libysches Arabisch!« | Tunis, Januar 2011 | Das personifizierte Chaos | Wer den Präsidenten kritisiert, lästert Gott | Freiheit? Da habt ihr sie! | Die Miliz | Zurück in die Zukunft? | Unabhängig – von der eigenen Bevölkerung | Tabubruch als Waffe | Versöhnung mit dem Westen?

II. Aufbau statt Freiheit

Das andere Frankreich | Shangri La | Der Westen hilft | Kriegsziel: Bildung | Kriegsziel: Frauenemanzipation 64 | Kontinuität | Wahlen | Abdullah Abdullah | Wichtiger als anzugreifen | »Noch besser als Wahlen« | Wir implementieren Bürgerwehren | Déjà Vu | Zufallsguerillas | Diebstahl und Vergewaltigungen | Génération Perdue | Wie man Bildung entwertet | »Das ist nicht mehr Galula, das ist Lyautey!« | Wilde Reiter | Wendejahr 2009 | Kriegsziel: Keine Frauenemanzipation | Risiken und Nebenwirkungen

III. Wie man eine Revolution rückgängig macht

Ein anderes Paris | Gegenrevolution in Übersee | Keine Wahlen, keine Mädchenschulen – Moderne ohne Aufklärung | Nicht einmal eine Idee | Nur eine militärische Strategie? | Einer, der nicht mehr will | Ehrenformation für deutsche Dschihadisten | Das Neue Europa | Der dritte Mann | »Is today killing?« | Die Stimmen von Riad | Hightech für würdige Informationen | Zwei Hemisphären | Das outgesourcte Protektorat | Der letzte »Neue Europäer« | Zurück in Afghanistan | Milizen gegen Milizen | Die Scharia muss eine wichtige Rolle spielen

Anhang

Anmerkungen | Glossar

I.
Die Rebellion

Kurve neun

Beine hängen aus dem Kofferraum wie die verdrehten Glieder einer Marionette. Ein stoppelbärtiger Alter in Militärmantel und Helm bahnt sich einen Weg zum Wagen, zieht eine Decke weg, schüttelt den Kopf und konstatiert: »Halsschuss. Typisch Gaddafi.« Andere Kämpfer drängen sich ums Auto, berühren den Verletzten, betrachten entgeistert das Blut an ihren Händen, schnalzen mit der Zunge, stöhnen: »Allah, Allah«, als entdeckten sie soeben, dass im Krieg gestorben werden kann. Empörung breitet sich aus. Fäuste recken sich gen Himmel, junge Männer in bunt zusammengewürfelten Uniformteilen feuern mit ihren Gewehren in die Luft, formieren sich zum Kreis, tanzen, klatschen, singen: »Wir fürchten nicht den Tod, nur Gott!«

Die militärische Bezeichnung dieser Stelle lautet Kurve neun. Kurve neun in der Wüstenstraße von Bengasi nach Tripolis, auf der schon Italiener gegen Türken und Rommels Soldaten gegen die Briten vorrückten.

In langer Schlange parken die Vehikel der Rebellen vor der Biegung: Toyota-Pick-ups mit schweren MGs, Pkw, Lafetten mit und ohne Flugabwehrgeschützen. Vor den Dünen rechts und links der Straße hockend, kann man die nächste Stadt erspähen: Aschdabiya. Regierungstruppen halten sie immer noch – eingeschlossen und vom Nachschub abgeschnitten, aber immer noch.

Bereits zweihundert Meter hinter der Biegung sitzen Gaddafis Scharfschützen in den Rohbauten dreier Villen und feuern konsequent auf alle, die sich weiterwagen. Gruppen von Rebellen fahren dennoch mit Pick-ups los, rollen zaghaft auf der Straße voran, um ein paar Meter Boden zu gewinnen oder Tote zu bergen. Immer wieder kommen sie zurück, mit eigenen Toten und Verletzten auf der Ladefläche.

In der Stadt stehen Panzer, Geschütze und Stalinorgeln mitten in Wohngebieten gut gedeckt platziert; die Artilleristen, heißt es, seien Serben oder andere Osteuropäer. Doch wer immer sie auch sein mögen ist – dass sie die Sache ernst nehmen, beweist plötzlich ein dumpfer Knall, der die Erde beben lässt. Ihm folgt ein vielstimmiger Entsetzensschrei. Von allen Anhöhen ringsum rennen, kugeln, purzeln Kämpfer die Dünen hinunter, laufen auf der Straße durcheinander, werfen sich in ihre Autos, lassen die Motoren an, wenden, sausen hupend und in wilder Jagd zurück, Richtung Bengasi. Klar fürchtet man nur Gott fürchtet und nicht den Tod, wer wollte das bezweifeln? Aber zu Hause wartet das Abendessen. Morgen früh wird man sich wieder zu derselben Stelle aufmachen.

Während die Dunkelheit einbricht, flammen Autoscheinwerfer auf, unzählige gelbe Punkte. Auf beiden Spuren liefern sich die Pick-ups ein Rennen, wer es als Erster in die sichere Stadt schafft. Im März 2011 ist Libyen in Aufruhr.

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Wollen Sie sehen? Bitte sehr. Hier finden Sie die antiseptischen Schuhbezüge, dort die Mundschutzmasken. Im Hawari-Krankenhaus von Bengasi sind die Ärzte durch Überarbeitung derart apathisch, dass ihnen ein Beobachter auch nichts ausmacht. Die Tür schwingt auf. Vier junge Männer liegen in einem Zimmer. Ohne Haare, ohne Lippen, ohne Augenbrauen ähneln sie Außerirdischen. Oder Abbildungen hautloser Menschen in Anatomiebüchern.

Der 17-jährige Mahmud heult laut auf, als eine Krankenschwester die Mullbinden von seiner rötlichgelben Haut herunterzupft. Als das vorbei ist, erzählt er heiser und stockend, wie alles passiert ist. Zu Hause, unweit vom Zentrum Aschdabiyas, saß er mit den Eltern und Geschwistern vor dem Fernseher. Das ist das Letzte, woran er sich erinnert. Erst im Krankenhaus kam er zu sich. Von der Familie weiß er nichts. Gaddafis Truppen feuerten auf alles, auf zivile ebenso wie auf militärische Ziele. Im Stadtzentrum sei er ihnen oft begegnet. »Schwarzafrikaner, manche sprechen kein Arabisch, weil sie aus Ghana, Nigeria oder dem Tschad kommen.«

Um einen Operationstisch in der Chirurgie stehen ein paar der philippinischen Krankenschwestern, die noch in Bengasi ausharren, ergänzt durch hilfswillige Laien, Hausfrauen oder Kinder, 13, 14 Jahre alt in Kitteln – die Schulen sind ohnehin geschlossen. Schrapnellwunden übersäen den Rücken eines Mannes, bis in den Unterleib haben ihn Splitter zerfleischt. Blut tropft auf den Boden.

Dr. Abdallah ist ein älterer Herr mit grau meliertem Schnurrbart und roten übernächtigten Augen hinter seinen Brillengläsern. Er lehnt sich mit dem Rücken an eine Wand und gönnt sich einen Moment der Einkehr. Wer will das alles schon hören? Selbst wenn es jemand hören wollte, wann hätte man die Zeit, es zu erzählen?

Dr. Abdallah

»Seit einem Monat und drei Tagen bin ich rundum 24 Stunden im Einsatz. Täglich operiere ich bis zu 16 Fälle. Schussverletzungen, Wunden, die von Panzern und Raketenwerfern herrühren. Brüche, offene Brüche, Leichen ohne Kopf, halbierte Leichen: oberer Teil unbekannt, unterer Teil unbekannt. Gaddafis Truppen machen zwischen Kombattanten und Zivilisten keinen Unterschied. Kinder werden eingeliefert. Zehn Jahre alt, sechs Jahre alt. Vorgestern allein sind 94 Menschen gestorben. Manchmal sehe ich 15 tote Körper am Tag. Ich weine nur noch innerlich. Ich habe keine Tränen mehr, ich sage nur noch: Gut, wenn ihr uns töten wollt, kommt, tötet uns.

Hätte er … ich meine: Hätte er nicht einfach zuhören, einen Dialog führen können? Die Revolution hat mit Fahnen begonnen. Mit friedlichen Demonstrationen. Die Leute fanden: 42 Jahre Diktatur sind genug. Wissen Sie, wir haben keine Bürgerrechte. Gaddafi regiert das Land allein mithilfe seiner diversen Spezialpolizeien, die einzig und allein dazu geschaffen sind, dass er Staatschef bleibt. Jemand wandert für 15, 16 Jahre ins Gefängnis, später heißt es – pardon, uns war ein Fehler unterlaufen. Ich garantiere Ihnen: Niemand bei uns liebt ihn. Gaddafi, Gaddafi, 42 Jahre bloß Gaddafi. Libyen ist ein sehr reiches Land, aber wir sind arm. Wieso? Er regiert durch Zwang – nur Zwang. Lässt Leute vor den Kameras aufbauen, lässt sie jubeln und dabei abfilmen, transportiert dieselben Demonstranten von A nach B, dieselben Gesichter überall, wir kennen sie und lachen uns tot, wenn wir sie sehen. Der Mann war bereit, Bengasi von der Landkarte zu tilgen und an unserer Statt hier eine Million Gastarbeiter anzusiedeln, versehen mit dem nötigen Startkapital. Er denkt, er kann alles kaufen, alles drehte sich nur um Geld. Zwei Piloten, die uns bombardieren sollten, sind einfach nach Malta abgedreht. Zwei andere warfen ihre Bomben ins Wasser, ehe sie zu den Aufständischen überliefen. Deshalb ließ er bei allen anderen die Fallschirme aus den Kabinen entfernen, die Piloten anketten und ihre Familien in Geiselhaft nehmen – unser Übergangsrat bewahrt die Ausweispapiere eines gefangenen serbischen Piloten auf. Gaddafi beschäftigt Serben, Syrer, Ausländer aller Art. Die Libyer werfen die Bomben irgendwo über dem Wasser ab. Aber die Ausländer zielen richtig, sie bombardieren, um zu töten.«

Dr. Abdallah setzt die Brille ab, reibt sich die Augen und nimmt einen Schluck Wasser, ehe er weiterspricht.

»Diese arabischen Länder! Diese abgrundtiefe Dummheit. Präsidenten, seit Jahrzehnten im Amt! Der im Jemen 33 Jahre, was will er noch? Wenn die Tunesier und die Ägypter nicht angefangen hätten, vielleicht wären wir nie auf die Idee gekommen, unser System zu hinterfragen. Aber jetzt wollen wir leben wie die Menschen überall auf der Welt. Mein Gott, lasst uns ein bisschen Demokratie versuchen! Bis jetzt war ich an Politik nicht interessiert. Die meisten von uns sind keine Politiker, wir haben nicht mal eine richtige Regierung. Wir wissen auch nicht, wie man kämpft. Selbst wenn uns jemand gute Waffen gäbe, hätten wir keine Ahnung, wie man die bedient. Ich bin für noch mehr Luftschläge, Sie werden sich wundern: sogar dafür, dass ausländische Bodentruppen kommen und uns helfen. Dank unserer jungen Leute und dank Sarkozy konnten wir Gaddafi vor den Toren von Bengasi stoppen. Ich liebe Sarkozy. Wenn ich einen Sohn bekomme, werde ich ihm seinen Namen geben.«

Zwei Revolutionen

Seit dem 17. Februar 2011 streiten Libyer gegen Gaddafi. Nachdem die Tunesier ihren Tyrannen Ben Ali davongejagt hatten und die Ägypter ihren Langzeitherrscher Mubarak, scheint in der arabischen Welt nichts mehr wie vorher. Am 17. Dezember 2010 hatte sich ein Straßenhändler namens Mohammed Bouazizi im tunesischen Sidi Bouzid selbst verbrannt, er starb am 4. Januar 2011. Nicht einmal einen Stand, um Gemüse zu verkaufen, wollten die Behörden ihm genehmigen.

Schluss mit der Macht der Stammesführer; Schluss mit den Stammeskriegen. Ein Gott, eine Autorität, die sinnvolle Regeln für alle aufstellte – so lautet die revolutionäre Botschaft, die schon vor Jahrhunderten die arabische Halbinsel erreichte. Doch schon bald nach dem Tod des Propheten spielte sich die mächtige Mekkaner Familie der Omayaden im 8. Jahrhundert in den Vordergrund. Statt sich der Religion zu unterwerfen, unterwarf sie sich die Religion, forderte von den Menschen Gehorsam gegenüber dem Prophetennachfolger, dem Kalifen, und verwandelte die Gleichheitsreligion der Vielen zum Mittel, um die Macht des Einen zu stärken. Ist der Gläubige nur Gott Gehorsam schuldig? Kann er dank seiner eigenen Vernunft allein wissen, wie er das Offenbarte umsetzt oder muss er sich dem Machthaber, dem Führer der Gläubigen oder, wie sich die Kalifen bald nannten: dem Statthalter Gottes, unterwerfen? An dieser naheliegenden Frage entzündete sich die islamische Philosophie und entfesselte bald eine Art zweiter Revolution, so gewaltig, dass der daraus hervorgehende Rationalismus zur Basis abendländischer Wissenschaften wurde.

In der arabischen Welt hingegen setzten sich die Stammestraditionen wieder durch. Vernunftfeindliche Religionsgelehrte lieferten den Mächtigen dafür den geistigen Unterbau, indem sie alles Räsonieren, alle neuen Ideen, kurz alles, was dem menschlichen Geist entsprang, als Gotteslästerung verpönten. Bücher gingen in Flammen auf, Philosophen wurden gejagt und verbannt, Rechtsgelehrte zementierten eine restriktive Scharia, verboten alle rationalen Deutungen, die »Tore zur freien Interpretation« schlossen sich. Der Kalif, meistens ein Stammeschef, wurde samt seiner Familie vergöttlicht, er war der Besitzer der Religion und konnte damit umgehen, wie er wollte.

Einerseits erklären sich viele Muslime bis heute überzeugt, eine revolutionäre, fortschrittliche Religion zu leben. Andererseits scheint die Macht über die Segnungen des Fortschritts in der westlichen Hemisphäre zu liegen, ein Eindruck, der sich durch den Kolonialismus verfestigte. Und auch nach der Unabhängigkeit wurden die Araber wieder nicht wie Menschen behandelt, sondern wie Verfügungsmasse, nur dazu gut, den Reichtum der kleinen Gruppe Mächtiger um einen Staatschef zu vergrößern; abgefunden mit ein bisschen Unterhaltung, den immer gleichen billigen Vorabendserien saudischer Produzenten, mit Fantasie-Villen, Fantasie-Büros, Fantasie-Cabrios, die durch Fantasie-Straßen fahren, Traumhochzeiten in gediegenem Ambiente, um die Hoffnungslosigkeit zu vergessen.

Arabische Welt

Das war die »arabische Welt«. Über Jahrhunderte, bis in den Winter 2010/11 hinein, hatten Politologen, Publizisten und Wirtschaftsführer die Theorie verfochten, hier wohne ein ganz besonderer Menschenschlag, unterliege besonderen Regeln und Gesetzen, denke anders, fühle anders und wisse mit Freiheit nichts anzufangen.

»Die erschreckende Einfachheit des semitischen Geistes lässt das menschliche Gehirn zusammenschrumpfen, schließt es gegen jede verfeinerte Idee ab, gegen jede rationale Forschung, um es vor die ewig gleiche Tautologie zu stellen: Gott ist Gott«1, so hatte der französische Historiker und Nahostexperte Ernest Renan im 19. Jahrhundert geurteilt. Gut 150 Jahre später schreibt der deutsche Nahostexperte Peter Scholl-Latour: »Mag sein, dass eines Tages auch die Welle dessen, was wir den ›islamischen Fundamentalismus‹ nennen und die im Grunde nur streng praktizierter koranischer Glaube ist, wieder abflaut und neuen Richtungskämpfen Raum gibt. Zur Stunde« – seine Bücher aktualisieren die These immer wieder jeweils »zur Stunde« – »ist jedoch die Politik in dieser Region nicht zu trennen von der Theologie. Ob der rationale Westen dies anerkennt oder nicht, mächtige Mythen erheben wieder ihr Haupt.«2

Das Zauberwort, das diesen Zustand einordnete, lautete: Kultur. »In der arabischen Kultur…«, hatten sich westliche Politiker, Wirtschaftsführer und Geisteswissenschaftler angewöhnt zu sagen, um zu erklären, weshalb kein Weg daran vorbei führe, mit Potentaten zusammenzuarbeiten, die Killer, Diebe, Folterer waren. Und: »In unserer Kultur…« echoten arabische Machthaber, Geistliche und Generäle.

Was sie damit meinten? Nicht auszuschließen, dass es etwas gab, das die beschriebenen Zustände rechtfertigte. Während dieses Etwas also möglicherweise existierte, ging es mit der öffentlichen Bildung in den arabischen Ländern stetig bergab. Staatliche Einrichtungen vermittelten nicht mehr die nötigen Kenntnisse, um im internationalen Konzert mitzuhalten, ja nicht einmal, um die nationalen Bedürfnisse befriedigen zu können. Reguläre Schulen hatte es ohnehin erst seit der Unabhängigkeit gegeben, also in den meisten islamischen Ländern seit ca. 1950. Ab ca. 1970 begann die Bildung eine neue Generation zu prägen. Überbevölkerung, Korruption und schlecht gemanagte Privatisierungen zerstörten die bescheidenen Erfolge ab ca. 1990 wieder. Qualifizierte Lehrer fehlten oder wurden nicht eingestellt. Ein normaler Standard in Mathematik, Textverständnis, Geschichte, Naturwissenschaften ließ sich nur noch auf teuren Privatschulen erwerben. Gute Arbeitsplätze gab es nur, wenn man sich in die Machtstruktur der jeweiligen Herrschaftsfamilie einkaufen konnte. Kurz: Manche Väter und Mütter lasen noch. Viele ihrer Kinder lesen kaum mehr und betrachten nur noch Bilder, die es im Fernsehen oder im Internet zu sehen gibt. Und dadurch kam der Wandel ins Rollen.

Solange kritische Schriften im Internet heruntergeladen und in Ruhe ausgewertet werden mussten, brauchten sich die Regime keine Sorgen zu machen. Die betreffenden Seiten wurden oft nicht einmal gesperrt. Seit sich Menschen selber abfilmen und erzählen, wie sie von den Behörden ihres Landes behandelt wurden, und das ins Internet stellten, entwickelte sich eine neue Öffentlichkeit, und zwar über die Grenzen der einzelnen Länder hinaus. Plötzlich konnte man sich direkt an den König oder Präsidenten wenden, ihn ansprechen, ohne Sanktionen gewärtigen zu müssen. Oder die Macht des öffentlichen Wortes riss einen derart mit, dass man ungeachtet möglicher Strafen seine Kritik äußerte bzw. darauf vertraute, die Öffentlichkeit würde den jeweiligen Machthaber daran hindern, einen Kritiker einfach wie vorher verschwinden zu lassen.

Dar Dar, Zenga Zenga

Ali hatte ich am Grenzübergang Sallum getroffen, gegen zwei Uhr in der Nacht. Dort stand er plötzlich im Halbdunkel neben meinem ägyptischen Taxi wie ein Bote des Schicksals, ein leicht untersetzter junger Mann, mittelgroß, mit schütteren Haaren, Lederjacke, Jeans, dem Ansatz zur Halbglatze.

»Sie sind Deutscher, Sie fahren nach Libyen hinein?« Er stellte sich vor als Vertreter der libyschen Gemeinde in Berlin, auf dem Weg nach Bengasi zu seiner Familie. »Danke, dass Sie über die Lage berichten. Wenn Sie wollen, fahren wir zusammen, ich helfe Ihnen, lade Sie ein, bringe Sie nach Bengasi, sorge für Ihre Unterbringung…«

Das Angebot klang höchst verlockend. Als Berichterstatter für das DeutschlandRadio hatte ich im März 2011 in einem Taxi halb Ägypten durchquert und wollte erst mal weiter nach Bengasi, ohne zu wissen, was mich dort erwartete. Nun also: Mitfahrgelegenheit, Unterbringung, Hilfe … zu schön um wahr zu sein. Ein Trick? Die Falle von Gaddafi-Loyalisten? Ich musterte den Mann genau. Er wirkte eifrig, seine Augen waren gut. Ja oder nein? Eine einzige Sekunde entschied – ja. Gemeinsam wuchteten wir mein Gepäck von dem ägyptischen Taxi in den libyschen Minibus, den Ali und ein paar andere Passagiere gemietet hatten.

Die ägyptische Grenzseite glich einem riesigen Lager. Überall breiteten sich vor allem schwarzafrikanische Flüchtlinge aus, Frauen, Kinder, Babys lagen auf Matratzen oder in dicke Wolldecken eingerollt neben der Straße, die unter einem Sonnendach zum libyschen Posten führte. Gastarbeiter, die nicht mehr bezahlt wurden oder deren Leben in Libyen unerträglich geworden war, weil die Bevölkerung sie mit den von Gaddafi angeheuerten Milizen aus Schwarzafrika gleichsetzte.

Um in die Büros der Beamten zu kommen, die uns eine ägyptische Ausreisemarke erteilen mussten, stiegen wir in einer an die Straße angrenzenden Halle über Dutzende schlafender Flüchtlinge. Ali ging voraus, unsere Pässe in der Hand, schnappte sich einen ägyptischen Zöllner, stopfte ihm ein paar Banknoten in die Taschen und ernannte ihn zu unserem Gewährsmann. Der Schwarzuniformierte klopfte für uns an verschiedene Türen, hinter denen träge Vorgesetzte rauchend und Kaffee trinkend Stapel von Pässen abarbeiteten, unsere aber sofort durchsahen und unserem Helfer wieder aushändigten, ehe es in andere, ähnliche Büros ging. Irgendwann war der kafkaeske Irrgarten durchschritten. Zurück in der Halle, knallte uns ein Dicker zwei Stempel auf die frisch erworbene Marke, entschuldigte sich achselzuckend für die Flüchtlinge, deren Matratzen sich bis kurz vor seinen Sessel ausgebreitet hatten – »Wir geben ihnen, was wir haben, aber ihre Botschaften helfen ihnen nicht« –, und wir strebten wieder unserem Minibus zu.

Auf der libyschen Seite empfingen uns Grenzer in Schlapphüten und zusammengesuchten Uniformteilen, tranken mit uns Tee, sangen klatschend ihre Persiflagen auf Gaddafis legendär gewordene Rede »Dar-Dar-Zenga-Zenga« vor – Haus um Haus, Gasse um Gasse wollte er das Land von Aufständischen säubern. Lachend zeigten sie uns die Anti-Gaddafi-Slogans, mit denen sie seit dem 17. Februar 2011 die Wände des Abfertigungsterminals für Autos bedeckt hatten, gaben uns Badges in den neuen-alten libyschen Farben mit, versorgten uns mit Fresspaketen und wünschten uns gute Weiterfahrt. Der Chauffeur, in dessen Taxi wir hinter der Grenze wechselten, wollte von Bezahlung nichts wissen, witzelte über die »ewig korrupten Ägypter – die libysche Revolution ist nicht die ägyptische!« – und erklärte es zur Pflicht des Revolutionärs, zwei Gäste wie uns sicher bis nach Bengasi zu bringen.

Auf der Weiterfahrt erzählte Ali, dass er, ausgebildet zum Polizeioffizier, vor neun Jahren mit dem Regime in Konflikt geraten war. Aus Verhafteten falsche Geständnisse herauszupressen, das sei nicht seine Sache gewesen. In Deutschland erhielt er politisches Asyl, hatte in Nürnberg und Berlin gelebt und sich inzwischen nicht nur eine Mischung aus Bayerisch und Norddeutsch, sondern auch, wie er sagte, eine Mentalität angeeignet, die es ihm unmöglich mache zu akzeptieren, wie die Menschen hier lebten.

»Ich kann das nicht mehr … guckst du hier, diesen Schmarrn: keine Straßenschilder. Wer weiß, wie weit es noch bis nach Bengasi ist. Das gibt es doch gar nicht! 42 Jahre Gaddafi, und du weißt nicht mal, welche Abzweigung du nehmen musst, um in welche Stadt zu kommen. Hat ihn nicht interessiert. Nur seine eigene Familie interessiert ihn!«

So sprudelte es in einem fort aus ihm heraus, als ob er unter Drogen stand. In Wirklichkeit hatte er seit fast einem ganzen Tag nichts gegessen. Als er von der Revolution in Libyen hörte, der Bedrohung seiner Heimatstadt Bengasi durch Gaddafis Kolonnen, machte er sich so schnell wie möglich auf, ohne viel nachzudenken. Was kommen sollte, war ihm nicht klar. Aber dass verschwinden könnte, was jetzt ist, löste Enthusiasmus in ihm aus, er musste nicht essen, nicht schlafen, er wollte nur »hin«, daran teilhaben, sich von all dem zu befreien, was er hasste: das Buckeln vor Autoritäten, die Heuchelei, die Doppelmoral, die Brutalität. Etwas anderes musste anfangen. Was, war ihm nicht so wichtig, Hauptsache anders. Seine Leute sollten irgendwie so ähnlich leben wie er in Berlin. Nach Regeln, die für alle gelten und die alle anerkennen, ohne dass man lügen und bestechen muss, ohne Herrscherfamilie, die alles und vor der man nichts ist: ein Staubkorn, weniger als das, ein Molekül, das nicht mal knirscht, wenn es unter den Stiefel des Schwagers des Halbbruders des Neffen des Erlauchten und Erleuchteten gerät.

In einer Art Rauschzustand befand sich auch der Taxifahrer. Nicht nur, dass er keine Bezahlung wollte. Immer, wenn wir stoppten, kaufte er uns Unmengen an Wasserflaschen, Keksen, Joghurtpackungen, die keiner von uns anrührte – die beiden Libyer nicht, weil sie zu aufgeregt waren, und ich nicht, weil ich nicht als Einziger essen wollte. Nur weiter, weiter, Revolution, Revolution!

Hinter Tobruk passierten wir etliche Rebellen-Checkpoints, wo hauptsächlich Jugendliche an sowjetischen Flak-Geschützen aus den achtziger Jahren herumkurbelten oder auf erbeuteten Panzern saßen. Gegen Mittag trafen wir in Alis Wohnstraße in einem ruhigen Viertel abseits des Zentrums ein. Sein Vater, ein pensionierter Polizist, hatte hier seiner gesamten Großfamilie ein Haus gebaut, das den gesichtslosen Mietshäusern ringsum glich. Im dritten Stock erhielt ich die Dreizimmerwohnung eines der Söhne.

Meine Kenntnisse über Libyen hatten sich bisher in dem erschöpft, was jeder mitteleuropäische Medienkonsument wissen konnte: Das gab es einen »Revolutionsführer« mit der Neigung zu prächtigen Kostümen, Enfant terrible des arabischen Sozialismus, mit antikolonialistischen Ideen, in Terrorismus verstrickt, der sich seit einigen Jahren um Aussöhnung mit seinen Gegnern im Westen bemühte. Die griffen das Angebot gern auf, weil es in Libyen viel Öl gibt. Hinzu kam, was kritische Intellektuelle seit Beginn der Revolution beisteuerten:

»Nach UN-Kriterien zählt Libyen zu den hoch entwickelten Ländern der Erde. Der Human Development Index, eine Art Messlatte für Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung, erfasst die Lebenserwartung, den Bildungsgrad und das Jahreseinkommen eines durchschnittlichen Einwohners. Auf der globalen Länderliste belegt Libyen den 53. Platz. Damit überragt es alle anderen afrikanischen Staaten. (…)«, schreibt der Hamburger Konfliktforscher Reinhard Mutz.

»(Libyens) Platzierung verrät zwar nichts über Rechtsstaatlichkeit und persönliche Freiheiten, aber sie gibt einen Hinweis darauf, dass es sich nicht um ein Stück Afrika handelt, dessen Reichtum notorisch in den Taschen der Mächtigen verschwindet.«3