Ilse Wellershoff-Schuur

Gott ist größer

Muslime und Christen –
Herausforderungen des
religiösen Lebens

Inhalt

Präludium

Die Feuer-Parabel und ihr Umkreis

Was ist Religion?

Religiöse Erneuerung?

Hauptteil

»Näher als die Halsschlagader«

Zuhören und Lernen

Rechtleitung und Irrlehre

Die Mutter des Buches

99 Namen

Erkenntnis und Bekenntnis

Der innere Muezzin

Intermezzo: Insch’allah!

Fasten und Feiern

Al-Hamdu-l’illah!

Weltgemeinschaft der Muslime

Das zweischneidige Schwert

Am Ende

Zurück zum Feuer

Muslim werden, um Christ zu sein – oder umgekehrt?

Anhang

Die 99 Gottesnamen

Beispiele für die Namen des Göttlichen in den Ritualen der Christengemeinschaft

Glossar

Verwendete Textausgaben

Verwendete und weiterführende Literatur

Dank

Impressum

Im Namen des barmherzigen Gottes!1

Mit dieser Widmung stelle ich mein Tun in den Kontext der Entwicklung, wie sie vom Schöpfer des Menschen und der Welt gewollt ist.

Am Anfang jeder Tat steht in der islamischen Tradition die erste Sure, al-Fatiha, die Eröffnungssure des Heiligen Koran, oder wenigstens ihre erste Zeile, als kurzes Gebet.

Die Hoffnung auf Erhörung setzt das Leben der Menschen immer wieder in Bezug zur göttlichen Welt. Als Christin schließe ich mich diesem Gebet von Herzen an. Gleichzeitig schwingt das Gebet mit, das all mein Denken, Fühlen und Handeln begleitet – das paulinische Wort: Nicht ich, sondern der Christus in mir!

Möge dieser Beginn eine Herausforderung sein, vielleicht für so manchen westlich-säkularen Leser anstößig im wahren Sinne des Wortes, befragungswürdig, anregend für neue Gedanken – und so eine Anregung zu einem eigenen lebendigen religiösen Leben, so wie es Goethe als Ideal sah, der sich als Heide, Christ und Muslim zugleich empfand!

Talismane

Gottes ist der Orient!

Gottes ist der Okzident!

Nord- und südliches Gelände

Ruht im Frieden seiner Hände.

Er, der einzige Gerechte,

Will für jedermann das Rechte.

Sei, von seinen hundert Namen

Dieser hochgelobet! Amen.

Mich verwirren will das Irren;

Doch du weißt mich zu entwirren.

Wenn ich handle, wenn ich dichte,

Gib du meinem Weg die Richte.

Ob ich Ird’sches denk’ und sinne,

Das gereicht zu höherem Gewinne.

Mit dem Staube nicht der Geist zerstoben,

Dringet, in sich selbst gedrängt, nach oben.

Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:

Die Luft einziehn, sich ihrer entladen.

Jenes bedrängt, dieses erfrischt;

So wunderbar ist das Leben gemischt.

Du danke Gott, wenn er dich presst,

Und dank’ ihm, wenn er dich wieder entlässt.2

Präludium

Die Feuer-Parabel und ihr Umkreis

Ich beginne mit einer Geschichte, die helfen soll, die Aufgabe dieser verschriftlichten Gedanken zu verdeutlichen. Dieses Buch ist keine Einführung im gewöhnlichen Sinn, keine Gebrauchsanweisung zum Thema Islam, kein Überblick über seine Entstehung, seine Praxis, seine Bedeutung oder gar eine Bewertung einer der großen religiösen Strömungen unserer Menschheit. Es geht um Perspektiven, Sichtweisen, um Begegnungen, um das Neue, das daraus entsteht, dass sich Menschen aus verschiedenen kulturellen und religiösen Umfeldern gegenseitig wahrnehmen, befragen und vielleicht auch in Frage stellen. Wie das gemeint sein kann?

Es war im Jahre 2006, als der islamische Fastenmonat Ramadan und das jüdische Laubhüttenfest Sukkot zusammenfielen. Das ist nicht immer so, wie jeder weiß, der den islamischen und den jüdischen Kalender und die jeweiligen kosmischen Gesetze kennt, nach denen sie sich richten.

Da ist einerseits der islamische Kalender, dessen Jahreszählung mit dem Jahr der Hidschra beginnt, als der Prophet Mohammed (Gottes Frieden und Segen über seiner Seele …3) aus seiner Heimatstadt Mekka nach Yathrib, das später Medina genannt wurde, auswanderte, um dort seine neue Offenbarung in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen. Nach unserer Zeitrechnung war das im Jahre 622. Der islamische Kalender ist ein echter Mondkalender, das heißt, seine Monate beginnen mit dem Neumond und dauern dann bis zum nächsten Mondzyklus. Das Sonnenjahr ist aber länger als die sich so ergebenden 354 Tage, sodass die zwölf Monate im Verhältnis zu den Jahreszeiten jedes Jahr um fast einen halben Monat »zurückfallen«. So wandern die Feste durch das Jahr, was man chaotisch oder ungeordnet oder unrhythmisch finden kann, wenn man es nicht näher verstehen will. Eine andere Sicht liegt in der Erklärung, die ich einmal von einem islamischen Gelehrten bekam: So heiligen die Feste im Laufe der Zeit das ganze Jahr …

Der Ramadan also fand 2006 im Herbst statt, in der Zeit, in die auch das jüdische Sukkot-Fest fällt. Das liegt immer im Herbst.

Der jüdische Kalender ist ein kombinierter Sonnen- und Mondkalender. Durch einige unregelmäßig eingeschobene Schaltmonate bleiben die Monate und die sich nach ihnen richtenden Feste immer in etwa in derselben Jahreszeit. Der Stand der Sonne hat für sie eine Bedeutung. Das Passahfest gehört zum Frühling, das Neujahrsfest zum Herbst. Die Monate beginnen auch hier immer mit dem Neumond, im Gegensatz zu unserem gregorianischen Kalender, in dem sie zu reinen Abstraktionen geworden sind, die mit dem Lauf des Mondes nichts mehr zu tun haben. Unsere (römischen) Monate ermöglichen dadurch, dass das Kalenderjahr trotz der Gliederung in zwölf »Monate« ein reines Sonnenjahr werden konnte. Doch das nur am Rande.

Sukkot und Michaeli liegen also immer im Herbst und haben dadurch miteinander zu tun. Die jüdischen Herbstfeste Rosch Haschana, Yom Kippur und Sukkot sind Feste, die in der Michaelizeit liegen, und wenn dann noch der Ramadan dazukommt, gibt es viel zu feiern dort, wo die Michaelizeit in irgendeiner Form noch oder wieder begangen wird. Das alte christliche Fest, der 29. September als Fest der Erinnerung an den Erzengel Michael, hat im Allgemeinen ja an Bedeutung verloren, aber im Umkreis anthroposophischer Initiativen und Einrichtungen gibt es eine Art neuer Michaelkultur, die anknüpft an das Individuelle, das neu ergriffene Bewusstsein, das Menschheitsbewusstsein im Gegensatz zum alten Gruppenhaften, wie es im Nationalen, Ethnischen, Stammesmäßigen oft noch lebt. Der frühere »Volksgeist« Michael, der in biblischer Zeit das jüdische Volk und später auch das deutsche inspirierte, ist heute zum Zeitgeist geworden4, ein Engel des weltweiten Menschheitsbewusstseins. Der Mensch kann heute – unabhängig von seiner Herkunft – eine neue, freie, selbst gewählte Geistigkeit, ein neues Verständnis der höheren Weltzusammenhänge suchen …

Anfang Oktober 2006 war es also Ramadan, Michaeli und Sukkot, und in unserer Kulturbegegnungsstätte Bab l’il Insan – Sha’ar la Adam5 in Galiläa wurde deshalb ein großes gemeinsames Fest gefeiert. Es gab ein traditionelles gemeinsames Fastenbrechen in verschiedenen Laubhütten im Wald, ein Podiumsgespräch an unserem vielgeliebten Feuerplatz, und später sollte noch ein Theaterstück mit arabischen und jüdischen Akteuren folgen.

In diesen Oktobertagen wurde es früh dunkel in Israel/Palästina, denn die Uhren waren schon auf Normalzeit zurückgestellt. Schon um kurz nach fünf ruft der Muezzin das Ende des Fastens aus. Es ist Zeit für das iftar, das tägliche Fastenbrechen. Im Ramadan wird jeden Tag gefastet, solange die Sonne am Himmel steht. Die Mahlzeit, die dann folgt, ist ein soziales Ereignis, das üblicherweise in den unterschiedlichsten Konstellationen begangen wird: in der Großfamilie, in Arbeitskollegien, unter den Kindergarteneltern. An jedem Tag isst man mit anderen Menschen zusammen. Und so hat dieser Monat etwas sehr Festliches: Das iftar isst niemand allein, entweder man lädt ein oder man ist eingeladen …

An diesem Abend essen etwa hundert Menschen gemeinsam. In der Begegnungsstätte Shaar laAdam – Bab l’il Insan im Wald nahe dem Kibbuz Harduf6 feiern wir das Zusammenfallen der drei Feste. Wir empfinden es wie ein großes menschheitliches Fest, das hier gefeiert wird, und im Wahrnehmen all dessen, was bei den Menschen der verschiedensten Volksgruppen, Religionen, Traditionen und Kulturen lebendig ist, werden für so manchen der Mitfeiernden Aspekte des Michaelfestes neu beleuchtet. Wie trägt der Ramadan mit seinem Element der Willensschulung dazu bei, den Menschen vorzubereiten auf die Aufgaben, die anstehen? Erfahren wir im Laubhüttenfest nicht täglich, dass unsere irdische Heimat nur eine vorübergehende ist?

Solchen Fragen wollten wir auf die Spur kommen, wenige Wochen nach dem Ende des Libanonkrieges, in einem Treffen zum Thema »Religion und Krieg«. Eigentlich hätte es heißen sollen: »Religion und Frieden«, aber das war einigen der Vorbereiter so unmittelbar nach dem Krieg zu watteweich. Hatten sie nicht gerade einmal wieder erlebt, dass Religion zu Krieg führen muss? Wer sind denn in dieser Gegend die Falken, wer die Tauben? Gerade die vermeintlich »Religiösen« schüren doch den Hass gegeneinander, egal, ob militante Siedler, die davon ausgehen, dass das Heilige Land von Gott nur ihnen versprochen wurde, oder Gotteskrieger der Hamas oder Hisbollah, die im Namen des Islam das Land von den Ungläubigen befreien wollen.

Das Erste, was die drei Religionsvertreter von Islam, Judentum und Christentum auf dem Podium feststellen mussten, war allerdings genau das Gegenteil dieses oft und gern von weltlich eingestellten Menschen geäußerten Vorurteils: Was die Fundamentalisten aller Art Religion nennen, ist eben meist nicht wirklich religiös. Oft widerspricht fundamentalistische Ideologie den religiösen Offenbarungen sogar explizit. Die Fanatiker berufen sich auf eine göttliche Instanz, die nur ihnen recht gibt, vielleicht, um so eigene Frustrationen und mangelndes Selbstwertgefühl zu überspielen und ihre Gewalttaten mithilfe einer höheren Macht zu rechtfertigen. Ihr Glaube besteht zum größten Teil aus dem Gefühl, zu den »Guten« zu gehören, die die »Bösen« vernichten müssen. Eine solche Haltung, die wir Fundamentalismus nennen, gleich, welcher religiösen Prägung, zieht ihre stärkste Legitimation aus der Überzeugung, dass Gott es so und nicht anders gewollt hat. Damit lässt sich im politischen Geschäft vieles rechtfertigen, wie man vom »Deus lo vult«7 der Kreuzzüge im Ohr hat. Ein individueller Bezug zu Gott ist bei vielen Fundamentalisten ganz untergeordnet gegenüber der Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe, gegenüber der Tradition, dem Gesetz der (Volks-)Gemeinschaft.

Wirkliche Religion im Sinne der Gesprächspartner an diesem Abend ist dagegen das individuelle Aufsuchen einer Verbindung zur göttlichen Welt. Was die drei Richtungen angeht, die hier miteinander Verständigung suchten, so ist eine ihnen gemeinsame Überzeugung die Schöpfung des Menschen als Gottes Bild, als eines Geschöpfes, das seinem Schöpfer nacheifern, ihm dienen, von ihm lernen, sich durch seine Hilfe entwickeln möchte. Shaar laAdam – Bab l’il Insan, das heißt auf Hebräisch beziehungsweise Arabisch: »Das Tor zum Menschen«, zum Menschsein, vielleicht noch besser: zum Menschwerden. Dieses Ziel eint die so verschiedenen Menschen, die sich hier treffen: den jüdischen Militär-Rabbi, den muslimischen Richter, den jungen israelischen Soldaten, der gerade noch Waldorfschüler war, die anthroposophischen Künstler, den arabisch-israelischen Rechtsanwalt, die Franziskaner-Nonnen, den christlich-arabischen Initiator des »Hauses der Hoffnung« in der arabischen Kleinstadt nebenan, den Regisseur, der um das neue, weltoffene Judentum kämpft, wie die Waldorflehrer, den Beduinen-Sheikh oder eben auch mich, die Pfarrerin der Christengemeinschaft aus Europa, die auf dem Podium sitzt, zusammen mit den geistigen Brüdern aus Judentum und Islam.

Dabei entsteht aus der Frage eines jungen Menschen aus dem Publikum (war es ein Jude, Christ oder Muslim?) eine Geschichte, die schon oft erzählt wurde und die auch hier den Ausgangspunkt bilden soll für unsere Betrachtungen zu Islam, Christentum und religiöser Erneuerung: »Und jetzt, wo ihr euch so schön habt einigen können über all das Allgemeine, wüsste ich doch gern, wie ihr erklären könnt, dass es trotz allem eben verschiedene Religionen gibt. Eine von ihnen muss doch die Richtige sein?«

Der muslimische Kadi, dessen Antwort wir eigentlich alle gekannt hätten (»Hätte Gott es gewollt, Er hätte euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht … Wetteifert darum in den guten Taten«8), lässt mir den Vortritt. Ich antworte plötzlich und unerwartet weder mit dieser Sure noch mit der Ringparabel aus Lessings Nathan der Weise, die sich ja auch anbieten würde.

Ich beschreibe viel mehr den Augenblick:

Wie wir da um das Feuer sitzen, stehen, liegen, und jeder es aus einer anderen Richtung sieht.

Wie das Feuer von der einen Seite schon ziemlich heruntergebrannt aussieht, auf der anderen Seite noch hell lodert.

Wie für den einen die Kaffeetassen im Vordergrund stehen, und wie für den anderen die Teekanne hinter dem Steinmäuerchen, das das Feuer eingrenzt, gar nicht sichtbar ist, obwohl wieder andere sie vielleicht aus ihrer Perspektive als die Hauptsache sehen müssen.

Wie es unterschiedlich aussieht, je nachdem, ob jemand steht, sitzt oder unterhalb der Sichtgrenze der Steinumfassung des Feuers liegt. Denn er müsste aufstehen, um etwas zu sehen. Aber voller Vertrauen in die wärmende Kraft des Feuers bleibt er vielleicht liegen und spürt doch, dass das Feuer da ist.

Wie vielleicht sogar ein anderer mit dem Rücken zum Feuer sitzt, in den Wald schaut und voller Überzeugung sagt: Hier gibt es kein Feuer, ich jedenfalls sehe nichts! Man fordert ihn auf, sich doch einfach einmal umzudrehen, um das Feuer sehen zu können, aber er will nicht, findet es übergriffig, ihn zum Perspektivwechsel zu ermuntern. Für ihn gibt es kein Feuer. Und dabei bemerkt er gar nicht, wie er vom Feuer gewärmt wird, und wie er den Wald nur sieht, weil das Feuer die Bäume erleuchtet.

So ist das mit dem Blick in den Himmel der göttlichen Welt … Jeder schaut aus seiner Richtung. Man kann um das Feuer herumgehen, klar. Aber keiner kann gleichzeitig aus allen Richtungen schauen … Und jede Perspektive ist »richtig« …

Die Frage ist zuletzt auch gar nicht: Wie sehe ich das Feuer? Das ist vielleicht Theologie, Weltanschauung. Die eigentlich religiöse Frage dagegen ist: Wie pflege ich das Feuer? Wie kann es weiterbrennen? Lege ich ab und an etwas Holz auf? Denn ohne den das Feuer hütenden Menschen wird es mit der Zeit immer schwächer brennen. Und die Welt braucht Licht und Wärme …

Diese Feuer-Parabel wurde für die Menschen im Umfeld der Begegnungsstätte zu einer Schlüsselgeschichte, an der vieles deutlich werden kann, nicht nur zu den unterschiedlichen Sichtweisen der Religionen, sondern auch zur Frage, was wir eigentlich unter Religion verstehen. Wenn wir im Folgenden über Interreligiöses und insbesondere über die Begegnung zwischen Islam und Christentum sprechen, wird sie uns nützlich werden.

Was meinen wir, wenn wir von dem Islam oder dem Christentum sprechen? Sind das wirklich Kollektive, Zugehörigkeiten, über die sich allgemeine Aussagen machen lassen? Enthalten sie nicht auch in sich noch sehr verschiedene Ebenen und Sichtweisen, je nachdem, wo ich »sitze«? Geht es da wirklich um die Frage, wie wir das Feuer schüren? Oder sprechen wir nicht meist davon, auf welcher Seite des Feuers wir geboren, aufgewachsen, sozialisiert wurden, sodass wir zu wissen meinen, wie es beschaffen ist? Davon, dass wir uns danach richten, wer die Menschen sind, auf deren Seite wir gern sitzen wollen? Wollen wir überhaupt herausfinden, was das für ein Feuer ist, oder ist es für uns einfach eine Naturtatsache, die uns nicht zu kümmern braucht, und die auch ohne uns auskommt? Glauben wir, dass es von selbst immer weiterbrennen wird? Oder dass es egal ist, wenn es ausgeht?

Und finden wir es überhaupt interessant, um das Feuer herumzugehen, um die Standpunkte anderer und die anderen selbst kennenzulernen? Rechnen wir uns aus, wie die Welt wohl aus ihrer Perspektive aussieht – auch ohne hinzugehen und nachzuschauen? Sind wir bereit, mit ihren Augen hinzuschauen, oder, wie die Indianer sagen, eine Meile in ihren Mokassins zu wandern? Nehmen wir das Christus-Wort ernst:

»Was du getan hast dem geringsten meiner Brüder, das hast du mir getan.«9 Oder in der Erweiterung des spirituellen Lehrers Rudolf Steiner: »Was du verstanden hast vom geringsten deiner Brüder, das hast du von mir verstanden …«10

Oder eben das Wort des Koran: »Hätte Gott es gewollt, Er hätte euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht. Doch wollte Er euch prüfen in dem, was Er jedem von euch gab. Wetteifert darum in den guten Taten.«11

Was ist Religion?

Der Islam ist – wie das Christentum und jede andere »Religion« – nicht nur Glaubensgemeinschaft, Weltanschauung, religiöse Praxis, Gesetzeskodex, Spiritualität, sondern vor allem auch Kulturtatsache (in vielen Variationen), und vieles, was von außen wie Islam aussieht, ist in Wahrheit viel eher Tradition oder ethnisches Erbe.

Wir vergleichen insofern oft Äpfel und Birnen. Der muslimische Hardliner sieht die Dekadenz des christlichen Abendlandes und freut sich über seine reine Lehre und die Tugendhaftigkeit der gut angepassten und streng erzogenen muslimischen Jugend, wo er sie noch findet. Andererseits sind es gerade Menschen mit muslimischen Wurzeln, die nach eher schwierigen Erfahrungen in ihrer Herkunftskultur den Islam als rückständig, unbelehrbar, gewalttätig und gefährlich darstellen – was dann wieder so manchen abendländischen Islamkritiker erfreut. Haben wir nicht so etwas auch schon von Ex-Katholiken oder Ex-Zeugen Jehovas gehört, die ganz Ähnliches über ihre Familiengebräuche zu sagen wichtig finden? Wie gut können wir das verstehen als eine notwendige Abgrenzung von Verletzungen und Übergriffen, und doch gibt es in diesen Gemeinschaften daneben auch ganz andere Erlebnisschichten anderer Menschen, die zu völlig anderen Erfahrungen führen. Was wir zu hören bekommen, hängt davon ab, wen wir fragen, und durch die Auswahl unserer Gesprächspartner bestimmen wir oft auch selbst, was wir gern hören wollen, um unsere Vorurteile zu bestätigen …

Und so wird man mitunter beschuldigt, egal, wie man über den Islam spricht, man kenne eben gerade die falschen Muslime – entweder nur die rückständigen oder nur die progressiven. Diese (egal welche …) seien eben gar keine richtigen Muslime … Das wahre Gesicht zeige der Islam doch nur bei denen, deren Auftreten (egal, ob positiv oder negativ …) die Meinung der jeweiligen Gesprächspartner bestätigt.

Dasselbe gilt auch umgekehrt. Wer im muslimischen Kulturkreis eine feste Meinung zu den »Ungläubigen« hat, sieht nur die negativen Seiten der westlichen Gesellschaft, wer den Westen dagegen idealisiert, findet Raubtierkapitalismus, Kriminalität und Drogensucht ganz und gar untypisch für eine wirklich christliche Gesellschaft  … Das seien nur Auswüchse, die schnellstens behoben werden könnten und mit dem Christentum nichts zu tun hätten! Wie wahr, aber wie wahr ist es eben auch, dass die Auswüchse des Islamismus nichts mit dem wohlverstandenen Islam zu tun haben, der vielleicht, wie Christian Morgenstern es für das Christentum sagt, auch erst am Anfang steht und nicht am Ende …

Es gibt in allen Menschheitsströmungen Fundamentalisten, Traditionalisten, Gleichgültige, Säkulare, rein kulturell geprägte Agnostiker mit trotzdem starkem Zugehörigkeitsgefühl oder auch tief spirituelle Menschen, treu gläubig Praktizierende oder mit innerer Unabhängigkeit nach Wahrheit Suchende. In Myanmar töten dieser Tage sogar die angeblich durch und durch friedfertigen Buddhisten wehrlose Muslime. Aber das sind natürlich keine wirklichen Buddhisten …

Es gibt überall Widersprüchliches – Menschen, die keinen äußeren Formen folgen und doch sehr religiös sind, und solche, die ganz den überlieferten Traditionen huldigen, ohne zu wissen, was das überhaupt bewirken oder bedeuten soll. Das Leben ist sehr bunt geworden auf unserer ganzen Erde, auch das religiöse …

Wenn es eines gibt, was die Menschen in dieser Beziehung heute eint, dann ist das der Trend zum immer Individuelleren, der dem Einzelnen das untrügliche Gefühl vermittelt, für seinen Seeleninhalt sowie für die Führung seines Lebens zumindest teilweise selbst verantwortlich zu sein. Dieses Lebensgefühl ist wiederum so herausfordernd gegenüber den fest gefügten traditionellen Gruppen, so anstrengend, so verwirrend, es macht so einsam, dass demgegenüber eine neue Tendenz zur Flucht in ein neues – oft sehr »altes« – Kollektiv entsteht, eine Sehnsucht nach einer absoluten Wahrheit, wie sie oft von fragwürdigsten Autoritäten verkündigt wird, die den Suchenden durch ihren Absolutheitsanspruch von der leidigen Frage nach eigenen Entscheidungen zu befreien verspricht und sie mit einer meist kritiklos als glanzvoll angesehenen Vergangenheit verbindet.

Bleibt also nur die Wahl zwischen Überforderung durch Widersprüche einerseits (wenn ich mir selbst treu bleiben will) und Verflachung, Verdrängung oder Fundamentalismus andererseits?

Genau an dieser Stelle sehe ich die Aufgabe einer wirklichen religiösen Erneuerung, eines zeitgemäßen religiösen Lebens, das den Freiheitsbereich des Einzelnen achtet. Und das ist eine Herausforderung, die sich nicht auf Menschen beschränkt, die herkunftsmäßig aus einem christlichen Umfeld kommen. Gerade im Heiligen Land wird deutlich, dass in der Begegnung mit dem jeweils anderen diese Fragen heute für jeden aktuell sind, der sich nicht mehr mit dem Abstammungsprinzip abspeisen lässt, sondern den Anspruch hat, seine Religion, eine der wichtigsten Fragen der Identität, selbst zu bestimmen.

Für viele Menschen steht dabei die Frage nach der religiösen Ausrichtung selbst gar nicht zur Disposition. Im Heiligen Land braucht man Jugendliche – egal, aus welcher Bevölkerungsgruppe – nicht zu fragen, wer denn einmal ihre Religion bestimmen wird. Sie gehen davon aus, dass es eine unumstößliche Tatsache ist, dass sie Juden, Muslime oder auch Christen (meist arabische) sind. Aber was der oder die Einzelne daraus machen kann, das ist heute jedem denkenden Menschen wichtig. Und da die Alternative, selbst initiativ zu werden im Sinne einer selbstbestimmten »religiösen Erneuerung« (ich meine damit keine äußere Reformation, wie noch zu zeigen sein wird), so anstrengend, so umkämpft, so wenig erfolgversprechend erscheint, bleibt es meist bei der Wahl zwischen einem gleichgültigen Agnostizismus, einer Flucht ins äußere Leben, oder einer autoritätshörigeren Variante der Religion, die mir die Wahl abnimmt und mich zu einem ihrer jeweiligen »Guten« macht …

Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang vielleicht noch die Tatsache, dass der Bedeutungsspielraum des Wortes, das wir mit »Religion« übersetzen, in verschiedenen Sprachen ganz unterschiedlich ist. Auf Hebräisch ist »dat«, auf Arabisch »din« eher mit Gesetz gleichzusetzen als mit dem, was wir seit dem frühen Mittelalter linguistisch nicht ganz korrekt als »Wiederverbindung« mit dem Göttlichen, als re-ligio, empfinden. Das Individuelle im deutschen, lateinischen, europäischen Wort »Religion« spielt in der die Zugehörigkeit zu einer Volks- oder Abstammungsgruppe definierenden Bedeutung der semitischen Bezeichnungen keine Rolle. Jude oder Muslim zu sein, heißt sprachlich also eher, »unter demselben Gesetz« zu stehen. Für das eigentlich in unserem Sinne Religiöse würde man vielmehr von »Spiritualität« sprechen, was wiederum bei uns einen anderen Klang hat. Nach der Religion zu fragen, bedeutet also in verschiedenen Sprachen ganz unterschiedliche Dinge.

Als eine jugendliche Israelin die Teilnehmer einer unserer Christengemeinschafts-Jugendgruppen einmal ungläubig (sic!) fragte, ob wir denn wirklich religiös seien, entstand ein Zwischenraum, in dem Vieles Platz gehabt hätte. Man sah förmlich, was sie dabei dachte. Nein, wir waren ja nicht »Gesetze beachtend« (welche auch?) oder »praktizierend« im engeren Sinne. Aber die deutsche Jugendliche, die die Frage nach einer längeren Stille beantwortete (diejenige unter uns, die von sich sonst gern ironisch bemerkte, sie gehe regelmäßig zur Kirche: Weihnachten und Ostern), verstand die Frage auf einer tieferen Ebene und sagte schlicht »Ja«, was merkwürdigerweise auch ebenso verstanden wurde, wie es gemeint war und allen Anwesenden einleuchtete, ohne dass ein weiteres Wort nötig gewesen wäre. Und was da verstanden und gemeint wurde, das war für mich ein wichtiger Schritt zu einem neuen Verständnis von Religion.

Religiöse Erneuerung?

In der Begegnung und Beschäftigung mit dem Islam verdeutlicht sich der Name, den die Christengemeinschaft, meine Kirche, wenn man sie denn so nennen will, gewissermaßen im Untertitel ihres Namens trägt, für mich in eindrucksvoller Weise: »Bewegung für religiöse Erneuerung«.12

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