Die untergehende Sonne tauchte die Frankfurter Skyline in orangefarbenes, glühendes Licht. Für einen Moment lenkte die Lichtshow Sebastian von dem Vertrag ab, der vor ihm lag. Das Büro seines Vaters lag im obersten Stockwerk des Messeturms und erstreckte sich über die gesamte Etage. Die schalldichten Fenster schafften eine Illusion der Stille, aber Sebastian wusste, dass sich eine Blechlawine Richtung Messe schob. In der Festhalle fand irgendein Konzert statt, hier oben war davon nichts zu merken. Nur das leise Surren der Klimaanlage unterbrach die Stille. Sein Vater saß auf der anderen Seite des Mahagonischreibtisches. Er blätterte in einer Akte, in seiner Hand einen Füller, dessen Hülle und Feder aus 18 karätigem Gold waren.
Der bequeme Ledersessel, in dem Sebastian saß, knarrte leise, als er sich wieder über den Tisch beugte und zu der Seite blätterte, auf der sein Gehalt vermerkt war.
Mickrig. So viel gab er normalerweise ohne mit der Wimper zu zucken für eine Nacht im Club aus. Und damit sollte er in München leben? Trotzdem blätterte er weiter, zur letzten Seite und kritzelte seine Unterschrift hin.
"Hier." Er reichte das Dokument seinem Vater. "Schon lange nicht mehr für so wenig Geld gearbeitet", fügte er hinzu.
"Du bekommst ohnehin dein normales Gehalt weitergezahlt. Sieh es als Bonus an", sagte Matthias Thaler und legte den Vertrag in eine Unterschriftenmappe.
"Ja, schon. Aber wie überleben die anderen Angestellten mit den paar Euro in einer Großstadt?"
"Das geht schon. Man muss sich nur ein wenig einschränken. Würde dir auch nichts schaden."
"Danke für den Tipp." Sebastian lehnte sich in seinem Stuhl zurück, streckte die Beine von sich und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Sei nicht gleich eingeschnappt", sagte sein Vater, ohne von seinen Unterlagen aufzusehen. "Ich möchte ohnehin nicht, dass du lange in München bleibst. Je eher du herausfindest, wo das Problem liegt, desto besser."
"Das kann sehr schnell gehen, es kann aber auch Wochen dauern. Ich muss den gesamten Code durchgehen."
"Du machst das schon. Ich habe vollstes Vertrauen in dich." Sein Vater schaute auf. "Ich bin froh, dass ich meinen Sohn schicken kann. In dieser Sache würde ich mich ungerne auf einen Außenseiter verlassen. Der Versuchung, eine solche Informationen für viel Geld an die Presse zu verkaufen, können viele nicht widerstehen."
"Das glaube ich." Sebastian stand auf. "Ich fahre dann mal los, sonst komme ich erst mitten in der Nacht in München an."
"Fahr vorsichtig." Sein Vater kam um seinen Schreibtisch herum und zog ihn in eine kurze Umarmung.
"Keine Sorge." Sebastian drehte sich um, verließ das Büro und strebte mit großen Schritten zum Aufzug, der ihn in die Tiefgarage bringen würde. Dorthin wo sein Lamborghini stand. Eine letzte Fahrt noch, in München stand sein Kleinwagen bereit. Er hatte schon jetzt schlechte Laune, wenn er daran dachte, was das bedeutete.
Seine Laune besserte sich nicht, als er, Stunden später, in München ankam und seine neue Wohnung betrat. Wobei Wohnung übertrieben war. Die drei Zimmer hätten auch in einem Schuhkarton Platz.
"Scheiße!" Sebastian drehte sich einmal um die eigene Achse. Das Wohnzimmer wurde dadurch auch nicht größer. Von dort waren es zwei Schritte in eine winzige Küche. Dann ein kurzer Gang, der ins Schlafzimmer führte, gegenüber davon das Arbeitszimmer und das Badezimmer. Jetzt verstand er, wo der Ausdruck "Nasszelle" herkam. Mehr als eine Zelle war es nicht. Die ganze Wohnung war nicht größer als das Ankleidezimmer seines Vaters.
"Super!" Sebastian ließ sich in den Sessel fallen, der im Wohnzimmer zusammen mit einer Couch so etwas wie eine Sitzgruppe bildete. Als sein Vater ihn bat, nach München zu gehen und herauszufinden, wie geheime Informationen an die Konkurrenz gelangen konnten, hatte er ihn gewarnt, dass er als einfacher Angestellter in dem kleinen Sachbuchverlag arbeiten würde, der zu ThalMat Media gehörte. Natürlich würde er hier nicht als Milliardärssohn auftreten. An die Konsequenzen aber hatte er nicht so recht gedacht. Ihm war es schon wie die Höchststrafe vorgekommen, seinen Lamborghini gegen einen Kleinwagen einzutauschen.
Er lehnte sich nach hinten, legte seine Beine auf dem Couchtisch ab und starrte aus dem Fenster der Balkontür. Der Balkon selbst war etwa so groß wie ein Badehandtuch.
Wenigstens lag die Wohnung, oder "das Verlies", wie er sie in Gedanken getauft hatte, nahe an der Isar. Dort konnte er joggen gehen, wenn er dazu kam. Jede Wette, ihm würden einige Nachtschichten bevorstehen. Immerhin musste er seine normale Arbeit in der IT-Abteilung des Sachbuchverlags erledigen. Daneben noch den Auftrag, der ihn eigentlich nach München brachte.
Sebastian zog sein Smartphone aus der Hosentasche und tippte darauf herum, bis er bei einem Lieferservice war. Dort suchte er eine Weile, dann entschied er sich für mexikanisch. Normalerweise hätte er bei Käfer oder einem anderen Gourmetservice bestellt, aber sein Dickkopf hielt ihn davon ab. Die Bemerkung seines Vaters, es könne ihm nichts schaden, sich auch einmal einzuschränken, hatte gesessen. Er würde seinem alten Herrn beweisen, dass er mit dem Münchner Gehalt über die Runden kam. Auch wenn das bedeutete, von jetzt an auf teuren Wein und Feinschmeckermenüs zu verzichten.
Während er auf sein Essen wartete, zappte er durch die Kanäle und blieb bei einem Sportkanal hängen. Die schnittigen Segelyachten, die am Louis Vuitton America’s Cup World Series teilnahmen, glitten vor der New Yorker Skyline durch das Wasser. Verdammt! Dort wäre er jetzt auch gerne.
Mehr als eine dreiviertel Stunde später klingelte der Lieferservice an der Tür. Sebastian nahm sein Essen und die Flasche Wein, die er bestellt hatte, entgegen und trug alles ins Wohnzimmer. Mit einem Auge zum Fernseher schielend befreite er seine Fajitas von der Aluminiumfolie, öffnete den Rotwein und schenkte sich ein. Dann nahm er einen Bissen. Die Fajitas waren total durchgeweicht und schmeckten nach Pappe, ohne Wein würde er die nicht runterbekommen. Sebastian nahm einen tiefen Schluck, nur um das Gesöff prompt auszuspucken.
"Scheiße. Was ist das denn?" Er drehte die Flasche zu sich, bis er das Etikett sah. Irgendeine mexikanische Plörre, in der angeblich Shiraz-Trauben verarbeitet worden waren. Das Zeug war ungenießbar. Ebenso wie der Fraß, den er sich bestellt hatte. Für einen kurzen Augenblick überlegte er, alles in den Müll zu werfen und bei Käfer etwas zu bestellen, was man essen konnte.
Nein, er würde seinem Vater beweisen, dass er wie ein durchschnittlicher Angestellter leben konnte. Andere Menschen aßen so etwas auch. Zumindest ging er davon aus. Er war sich ziemlich sicher, dass ein ITler, der in einem Verlag arbeitete, nicht mal eben sechshundert Euro für einen anständigen Wein und ein Abendessen ausgab.