Rhythm of Heartbreak

 


Roman




Digitale Originalausgabe

 




 

 

 

 

 

 

Impressum


Ein Imprint der Arena Verlag GmbH

Digitale Originalausgabe

Covergestaltung: Rebecca Wild

unter Verwendung von Bildern von iStock Photo
Alle Rechte vorbehalten

 


E-Book-Herstellung: Arena Verlag GmbH 2018

ISBN: 978-3-401-84052-9

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Kapitel 1

 

»Nein, du hörst mir jetzt mal zu!«

Roccos Faust krachte auf die Schreibtischplatte. Sein edler Füllfederhalter sprang aus der Ablage und beschrieb rollend einen Halbkreis auf der Titelseite der BILD.

Ich verfolgte den Stift mit den Augen, bis er auf einem grobkörnigen Foto liegen blieb. Es zeigte eine venezianische Pestmaske, die das Gesicht ihres Trägers bis auf die Kinnpartie mit dem Spitzbart verbarg. Ich kannte das Gesicht, denn ich sah es jeden Morgen im Spiegel.

»Du bist zu weit gegangen, Alexander. Viel zu weit.« Rocco drehte die Zeitung in meine Richtung und tippte auf die Schlagzeile. »SEXSKANDAL UM QUIDAMNED« prangte in roten Lettern über meinem Foto. Darunter fragte die BILD: »Hat Deutschlands bekanntester Rapper eine Minderjährige missbraucht?« Etwas weiter unten zwischen den Textblöcken fand ich ein Foto mit dem Gesicht eines jungen Mädchens. Schüchtern blickte es in die Kamera. Eins der typischen Fotos, wie man sie auf jedem Schülerausweis findet. Vorgestern hatte sie nicht so schüchtern gewirkt. Da hatte sie mit ihren drei Freundinnen nach der Show in der Hotelsuite auf uns gewartet und keine Spitzenbluse getragen wie auf dem Foto. Das einzige, was die vier Mädchen anhatten, waren Stringtangas, so dünn wie Zahnseide, und fingerdickes Makeup. Sie räkelten sich auf den weißen Ledersofas und ließen keinen Zweifel daran, was sie von uns erwarteten. Klar, wir haben uns auch nicht zweimal bitten lassen. Bei der Aufmachung der Mädels lief die obligatorische Durchsuchung nach Handys oder sonstigen versteckten Kameras ziemlich zügig ab, und wir konnten gleich zum Thema kommen. Olli servierte den Mädels ein paar Erdbeeren, Leo sorgte für Jägermeister, Pit holte Gläser aus dem Schrank und ich die Kondome. Was war schon dabei, das passierte mir andauernd. Fast nach jedem Gig in jeder Stadt warten irgendwelche Groupies in der Garderobe oder im Hotelzimmer. Manchmal suche ich sie sogar selbst vorher aus. Das geht ganz einfach: Vor der Show checke ich heimlich die erste Reihe, direkt vor der Bühne, und halte Ausschau nach den Girls, die diesen speziellen Blick haben. Mit der Zeit entwickelt man dafür ein Auge. Wenn sie dann auch noch gut aussehen, gebe ich bei meinem Assistenten die Bestellung auf, und nach der Show finde ich die ausgewählten Mädchen in meiner Garderobe. Fast wie beim Pizza-Service. Noch nie hat mir eine einen Korb gegeben, keine musste ich überreden. Warum auch? Schließlich behandele ich die Mädchen wie ein Gentleman und sorge dafür, dass sie sich wohl fühlen. Dass sie selbst dabei mein Gesicht hinter meiner Maske nicht zu sehen bekommen, scheint den meisten der Ladys den besonderen Kick zu geben. Jede von ihnen ist für ein paar Stunden meine Göttin. Hinterher bedanken sie sich bei mir und kriegen ein Autogramm. Eine Win-Win-Situation.

Manchmal bringen auch die Jungs von der Band ein paar Groupies mit. Woher die vorgestern kamen – keine Ahnung. Aber irgendwie haben sie sich an der Security vorbeigeschlichen. Wie auch immer, jedenfalls hatten wir jede Menge Spaß, und am nächsten Morgen bestellte ich ihnen Frühstück und ein Taxi und ließ sie nach Hause bringen. Das gehört bei mir zum Service, ich würde es mir nie verzeihen, wenn sie meinetwegen nach Hause trampen müssten und dabei irgendeinem Sexgangster in die Hände fielen.

So auch an dem Abend mit den Tanga-Mädels. Alles verlief serienmäßig, und ich hatte die Vier schon wieder vergessen gehabt. Bis Rocco heute Morgen angerufen und mich sofort in sein Büro zitiert hatte.

»Sie hat beim Leben ihrer Oma geschworen, dass sie schon achtzehn ist«, antwortete ich ihm gelangweilt auf seine hektische Frage und unterdrückte ein Gähnen. Letzte Nacht hatte ich noch am Schreibtisch gesessen und versucht, mir ein paar Rhymes aus den Fingern zu saugen, aber mir war beim besten Willen nichts Besonderes eingefallen.

»Langweile ich dich etwa?« Der Blick meines Managers bohrte sich in meinen.

Sofort setzte ich mich in eine geradere Position. »Entschuldige bitte. Ich habe noch bis vier Uhr für das neue Album getextet.«

Roccos Augenbrauen schnellten nach oben. »Was Brauchbares dabei?« Er drückte auf einen Knopf seiner Gegensprechanlage und orderte Kaffee bei seiner Sekretärin.

»Leider nein. Mehr als Ich knall deine Mutter und dann dich ab war leider nicht dabei«, gab ich kurz eine frustrierte Kostprobe meines gestrigen ergebnislosen Schaffens zum Besten.

»Zu plump«, stellte Rocco überflüssigerweise fest, stand auf und ging zum Fenster.

Während er scheinbar in der Aussicht auf das Brandenburger Tor versank, brachte Tilda den Kaffee, nickte mir freundlich zu, und ließ uns allein. Ich goss mir eine Tasse ein, trank einen Schluck und betrachtete die vielen Platin-CDs und goldenen Schallplatten, mit denen Roccos Büro dekoriert war. Meine Platinalben hingen im Schatten einer Vitrine mit antiken Stücken, gleich zwischen zwei Platinschallplatten einer weltbekannten Geigerin und drei goldenen für irgendeinen Volksmusiker. So unterschiedlich unsere Musikrichtungen auch waren, wir alle verdankten unseren Erfolg nicht nur unserem Talent, sondern auch dem Geschäftssinn von Richard Rocco Weidner. Was er auch anpackte im Musikbusiness – es wurde zu Gold.

»Das mit den Mädchen war großer Mist«, setzte er unser Gespräch fort und wandte sich zu mir um. Im Gegenlicht der Morgensonne konnte ich seine Gesichtszüge nicht erkennen. »Das könnte wirklich übel für dich werden. Ich glaub es nicht, eine Minderjährige! Sie hat dich angezeigt! Hast du eine Ahnung, wie sich die Presse auf so was stürzt?«

Verdammt. Das mit der Anzeige hatte er mir bisher verschwiegen.

»Tut mir leid«, erwiderte ich kleinlaut und stellte meine Tasse ab. »Was soll ich denn jetzt machen?«

Rocco setzte sich wieder an den Schreibtisch, nahm den Füller zur Hand und machte eine Notiz. Dann drückte er erneut auf eine Taste der Telefonanlage und wies Tilda an, ihn mit Dr. Renner zu verbinden.

Ich schluckte. Wenn Renner ins Spiel kam, musste die Angelegenheit wirklich übel sein.

»Renner wird sich darum kümmern. Zuerst einmal soll er diese Schmierfinken stoppen. Einstweilige Verfügung wegen übler Nachrede. So was in der Art.« Rocco tippte mit dem Zeigefinger auf die Bildzeitung. »Er muss verhindern, dass es zu einer Anklageerhebung kommt. Das wäre Gift für dich.«

Aus der Gegensprechanlage verkündete Tilda, dass die Anwaltskanzlei Dr. Renner am Apparat sei.

»Bis dahin musst du untertauchen.« Roccos Finger schnellte nun in meine Richtung.

Ich hob beschwichtigend die Hände. »Keine Sorge, ich bleibe erst mal in meiner Wohnung und …«

»Nichts da!«, fuhr Rocco mich an. »Alle deine Termine sind bis auf Weiteres gecancelt. Du verkriechst dich vorerst hier.« Er schob mir die Notiz zu, die er eben geschrieben hatte. »Du wirst dort bleiben und die Füße still halten. Und nimm zur Sicherheit den Bart ab. Ich rufe dich an, sobald wir die Sache geregelt haben. Und keine Eskapaden, ist das klar? Quidamned ist von jetzt an auf unbestimmte Zeit unsichtbar. Fahr nach Hause, pack ein paar Sachen, in einer Stunde holt dich ein Wagen ab.«

Fassungslos starrte ich auf den Zettel in meiner Hand. Pension Zur Goldenen Aussicht stand darauf. Der Ort sagte mir gar nichts, aber die Postleitzahl begann mit einer fünf.

»Wo zum Geier ist das?«, wagte ich zu fragen.

»In der Nähe von Bad Münstereifel. Ist nett da. Viel Landschaft. Meine Mutter war da mal vor Jahren zur Kur.«
Also mit anderen Worten: mitten im Nirgendwo. Rocco wollte mich nicht nur aus der Schusslinie bringen, er wollte mich komplett aus dem Verkehr ziehen.
Mit einer knappen Handbewegung forderte er mich auf, zu gehen.

Angesichts seiner starren Miene wagte ich ausnahmsweise keinen Widerspruch, sondern erhob mich mit weichen Knien und verließ das Büro. Schöne Scheiße. Ehe ich die Tür hinter mir schloss, hörte ich noch, wie er »Doktor Renner, wir haben ein Problem« ins Telefon bellte.

 

***

 

Maxime hob das Glas gegen das Sonnenlicht und prüfte seinen Glanz. Mist, selbst nach mehrmaligem Spülen war es noch immer stumpf. So konnte sie es den Gästen nicht vorsetzen. Auch bei den anderen Gläsern sah es nicht besser aus. Die ganze Charge war inzwischen vom häufigen Gebrauch matt und für die Gastronomie unbrauchbar geworden.

»Die können alle in den Container«, wies sie Gerda an und deutete auf die Pappkartons.

»Was, alle?« Gerda knetete das Geschirrhandtuch, mit dem sie vergeblich versucht hatte, die trüben Flecken von den Gläsern zu reiben.

»Jetzt mal ehrlich. Würdest du unseren guten Ahrwein etwa aus so einem Glas trinken, und auch noch drei fünfzig dafür bezahlen?« Maxime deutete mit einem Kopfnicken auf die Kartons, worauf Gerda missmutig die Lippen schürzte.

»Aber es ist trotzdem Verschwendung«, beharrte sie.

»Also je hundert neue Gläser für Weißen und Roten«, notierte Maxime auf dem Klemmbrett.

»Was das wieder kostet«, murmelte Gerda und klappte den Geschirrspüler zu.

Maxime konnte es ihr nicht verdenken. Gerda war schon seit vierzig Jahren die gute Seele der Goldenen Aussicht. Zuerst als Zimmermädchen unter der Leitung von Maximes Großeltern, dann im Dienst ihrer Eltern und hoffentlich würde sie auch noch da sein, wenn Maxime eines Tages die Pension übernahm. Sofern der Betrieb dann nicht bereits der Bank gehörte. Die Goldene Aussicht war ebenso Gerdas Zuhause wie Maximes. Sie den Bach runtergehen zu sehen, wäre für Sie beide hart.

»Das war es dann. Ich bringe die Liste zu Papa, damit er die Bestellung rausschicken kann. Weißt du, wo er ist?«

»Er macht Zimmer vierzehn fertig.« Gerda beugte sich verschwörerisch zu Maxime. »Heute Morgen kam nämlich ein Anruf«, raunte sie ihr zu. »Anscheinend hat jemand die ganze erste Etage reserviert. Alle acht Zimmer. Für mindestens einen Monat. Und das nur für einen einzigen Gast. Der Sohn von irgend so einem reichen Geschäftsmann soll sich hier erholen. Von einer Lungengeschichte.«

Maxime runzelte die Stirn. »Und warum ausgerechnet hier bei uns? Bad Münstereifel ist doch viel schicker.«

Gerda zuckte die Achseln. »Vielleicht wegen der Ruhe? Hier ist ja nichts los.«

Das traf den Nagel auf den Kopf. Wenn es einen Ort gab, an dem sich Fuchs und Hase nicht nur gute Nacht sagten, sondern sich gegenseitig auch noch Schlaflieder vorsangen, dann war es hier. Zwar lag Sinzbach eingebettet in einer malerischen Eifellandschaft zwischen urwüchsigen Wäldern und Felsengebirgen, doch vom Tourismus bekam man hier so gut wie nichts mit. Der beschränkte sich auf die Weinanbaugebiete und Kurorte in der Umgebung. Gäbe es nicht den rollenden Supermarkt, der sich einmal die Woche die Serpentinen hinauf quälte, und den Bus, der zweimal am Tag in den nächsten größeren Ort pendelte, wäre man hier ohne Auto komplett von der Außenwelt abgeschnitten.

»Hauptsache, er bezahlt auch.« Maxime löste den Zettel vom Klemmbrett und faltete ihn sorgfältig in der Mitte. »Wann reist er an?«

»Irgendwann im Laufe des Nachmittags.« Gerda holte eine Sackkarre aus dem Lagerraum nebenan, als das Glockenspiel vom Eingang erklang.

»Morgen allerseits!«, rief eine fröhliche Stimme aus dem Gastraum. Kurz darauf erschien Jacky in der Küchentür und schnupperte. »Kaffee schon fertig?«

Sie zog ihren Mopedhelm vom Kopf und ließ sich auf die Küchenbank fallen.

»Frisch gebrüht.« Maxime füllte drei Kaffeebecher, stellte sie auf den Tisch und setzte sich ihr gegenüber. »Was machst du denn hier? Musst du nicht arbeiten?«

Jacky nahm einen Schluck und schloss genüsslich die Augen. »Mach ich doch«, antwortete sie mit unschuldigem Augenaufschlag und einem Grinsen. »Ich hab dem alten Toni seine Herztabletten gebracht und Frau Wäscher ihre Magentropfen und die Apothekenzeitung.«

»Bist ein gutes Kind«, murmelte Gerda, ließ sich ächzend neben Jacky nieder und tätschelte ihre Hand.

»Darfst du überhaupt mit uns über die Medikamente anderer Leute reden? Unterliegst du nicht einer Schweigepflicht oder so?« Maxime musterte belustigt ihre Freundin. Ein paar Strähnen ihres haselnussbraunen Haars hatten sich aus dem Zopf gelöst und verliehen ihr etwas Ungezähmtes.

Gleichgültig hob Jacky die Schultern. »Warum nicht? Hier weiß doch sowieso jeder über jeden Bescheid. Es ist ja nicht so, als würde ich erzählen, wer bei uns Viagra kauft, und wer heimlich die Pille nimmt.« Sie zwinkerte und trank noch einen Schluck Kaffee. Dann fiel ihr etwas ein. »Ach, übrigens! Ich hab dir deine Tageszeitung mitgebracht, Gerda.« Sie öffnete den Reißverschluss ihrer Windjacke und zog eine etwas zerknitterte Ausgabe des Eifeler Rundblicks hervor.

»Wirklich, ein gutes Kind«, wiederholte Gerda, strich die Titelseite glatt und begann zu lesen. »Die Merkel guckt auch immer griesgrämiger«, bemerkte sie zungenschnalzend und blätterte die Zeitung auf.

»Und was ist mit dir?« Jacky richtete ihre Aufmerksamkeit auf Maxime. »Keine Schule heute?«

»Die Sommerferien haben doch gerade angefangen.«

Jacky seufzte wehmütig. »Ach ja, stimmt. Du hast es vielleicht gut.«

»Wenn man mal davon absieht, dass jetzt langsam der Abistress beginnt«, erwiderte Maxime und strich ein paar unsichtbare Krümel von der Wachstischdecke.

»Hast es ja selbst so gewollt«, erinnerte Jacky sie. »Aber du packst das schon, mit deinem Brain. Du bist viel cleverer als ich. Warst du schon immer.« Sie führte erneut die Tasse zum Mund, als ihr Blick auf die Zeitung fiel. Inzwischen war Gerda im Mittelteil beim Promiklatsch angekommen.

»Das gibt es doch nicht!« Jacky stellte die Tasse so hastig ab, dass der Kaffee überschwappte und auf die Zeitung spritzte.

»Kind, pass doch auf!«, protestierte Gerda, doch Jacky achtete nicht auf sie. Sie zog die Zeitung zu sich heran und überflog die Zeilen unterhalb eines Fotos, das offenbar ihre volle Aufmerksamkeit erregt hatte.

»Diese Schweine!«, zischte Jacky. »Das ist doch alles gelogen! So was würde er nie machen!«

Maxime drehte die Zeitung zu sich und überflog den Artikel. »Ach, schon wieder dieser Rapper? Warum suchst du dir nur immer solche krummen Typen zum Anhimmeln aus?«

»Was ist das überhaupt für ein Name?« Gerda drehte den Kopf, um die Schlagzeile lesen zu können. »Qui … was?«

»Quidamned«, half ihr Jacky bei der Aussprache. »Das ist sein Künstlername. Ist ein Mix aus Latein und Englisch. Verdammter irgendwer, hab ich in nem Interview mit ihm gelesen. Cool, oder?«

»Irgendein Verdammter«, schlussfolgerte Gerda mit deutlicher Missbilligung. »Da soll mal einer draufkommen. Und der nennt sich auch noch freiwillig so?«

Jacky verdrehte die Augen. »Darum geht’s ja, Gerda. Man soll gar nicht gleich draufkommen. Das unterstreicht das Mysterium um seine Identität.«

Gerda schnalzte mit der Zunge. »Pah, Mysterium. Der heißt vermutlich Heinz Kunze und kommt aus Wanne-Eickel. Ganz simpel. Er sollte doch mit seiner Musik überzeugen, oder? Wenn er so etwas nötig hat, kann es damit ja nicht sehr weit her sein.«

Ungerührt fuhr Jacky fort. »Und überhaupt: Quidamned ist nicht dieser Rapper. Er ist der Rapper! Und ein krummer Typ ist er schon mal gar nicht. Er ist unheimlich begabt und spricht all das an, was bei uns in der Gesellschaft nicht stimmt. Obwohl er jetzt so erfolgreich ist, hat er nie seine Wurzeln vergessen, und wie es war, im Plattenbau zu leben. Ohne Vater, die Mutter an der Flasche. Er ist zwischen Gangstern und Nutten aufgewachsen und hat es ohne Schulabschluss bis ganz nach oben geschafft. Davon schreiben sie hier natürlich mal wieder kein Wort!« Jacky hatte sich richtig in Rage geredet und sprang jetzt auf. »Die, die ihm das jetzt anhängen wollen, vor dieser Sorte sollte man die Mädchen warnen, nicht vor ihm! Die sind doch alle nur neidisch, dass er so berühmt und erfolgreich ist.« Sie klemmte sich ihren Helm unter den Arm und ging zur Tür. »Ich muss jetzt wieder zur Arbeit, aber ich sag’s euch: Die werden ihn nicht kleinkriegen. Dafür werden wir Fans schon sorgen!«

Nachdem sie davon gerauscht war, starrten sich Maxime und Gerda verblüfft an. Gleichzeitig prusteten sie los.

»Au weia, die ist ja in Fahrt!«, lachte Gerda und wischte sich mit der Schürze eine Träne aus dem Augenwinkel. »Wer ist dieser Bursche überhaupt, dass sie sich so für ihn stark macht?«

»Keine Ahnung«, gluckste Maxime. »Niemand kennt seinen echten Namen oder sein Gesicht. Mir ist der auch einfach zu blöd. Dauernd liest man, dass er ein Hotelzimmer zerlegt hat, mit Drogen erwischt wurde oder Stress mit irgendwelchen zwielichtigen Gestalten hat. Die Geschichte hier passt zu ihm. Aber Jacky steht auf ihn – und nicht nur sie. Frag mich nicht, wieso.«

»Wir hatten damals auch so einen, auf den alle Mädchen geflogen sind. Ich bin sogar einmal heimlich nach München getrampt und habe tagelang vor seinem Hotel ausgeharrt, nur um ihn mal mit eigenen Augen zu sehen. Hab ich natürlich nicht, und als ich ein paar Tage später enttäuscht und mit einem dicken Schnupfen zurück war, gab es einen Monat Stubenarrest. Wenn ich ihn heute in der Zeitung sehe, kann ich gar nicht glauben, so einen verschrumpelten Kerl mal gemocht zu haben.« Seufzend stand Gerda auf und lud die Gläserkartons auf die Sackkarre.

Maxime betrachtete Gerda, die für sie immer schon eine Art Großmutter gewesen war, mit völlig neuen Augen. Ihre gemütliche, zerknautschte, gütige Gerda sollte einst ein Teenager gewesen sein, der für einen Star geschwärmt und vor dessen Hotel gecampt hatte? So was war ihr bisher noch nie in den Sinn gekommen.

»Für wen hat dein Herz denn geschlagen? Heino?« Maxime grinste vor sich hin und blickte Gerda gespannt an. Die drehte sich zu ihr um und lächelte versonnen. »Nicht ganz. Es war Mick Jagger.«

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2

 

Seit Stunden saß ich nun schon im Fond der Limousine und fuhr meinem Exil entgegen. Anfangs hatte ich noch eine Netzverbindung und konnte mit den Jungs telefonieren und meine Mails checken. Mit der Band war soweit alles in Ordnung. Ihnen drohte kein Ärger, denn die anderen Mädchen waren offenbar entweder schon volljährig, oder sie verzichteten auf eine Anzeige. Nur die, mit der ich Sex gehabt hatte, machte Probleme. Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr kam es mir wie ein ausgeklügelter Plan vor. Jemand wollte mich hereinlegen, entweder die Kleine selbst, oder jemand hatte sie auf mich angesetzt. Ich erzählte Rocco am Telefon von meiner Vermutung, und er ließ sich haarklein von mir jedes Detail schildern, an das ich mich aus jener Nacht noch erinnern konnte. Viel war es nicht, dafür war ich einfach zu besoffen gewesen, aber ich wusste noch ganz genau, dass nicht ich es gewesen war, der das Mädchen verführt hatte, sondern umgekehrt. Ich hätte lügen müssen, hätte ich behaupten wollen, dass es mir nicht gefallen hätte. Es war spannend gewesen, passiv zu bleiben und sie einfach mal machen zu lassen. Warum auch nicht, sie schien ja ganz genau zu wissen, was sie wollte. Ich war neugierig gewesen, wie weit sie gehen würde. Über ihr Alter hatte ich mir in dem Moment überhaupt keine Gedanken gemacht, nie im Leben wäre mir eingefallen, dass sie minderjährig sein könnte. Sie hatte sehr erwachsen gewirkt. Bei dem Tempo, das sie vorgelegt hatte. Zu viel Tempo für eine Minderjährige, das wusste ich jetzt, aber hinterher ist man immer schlauer.

Kaum hatte ich das Telefonat mit Rocco beendet, klingelte mein Handy erneut.

Es war meine Mutter, die mir mitteilte, wie wenig erfreut sie über die Schlagzeilen war, die sie über mich lesen musste. Offenbar hatte nicht nur die BILD den Skandal zum Aufhänger des Tages gemacht, sondern jedes einzelne Schmierblatt zwischen Flensburg und München. Sogar bei RTL berichtete man über die Angelegenheit und sie fragte mich, wie das hatte passieren können. Ich war ihr dankbar, dass sie nicht fragte, ob die Vorwürfe stimmten. Soweit vertraute sie mir immerhin, aber als ich ihr die Umstände erzählen wollte, würgte sie mich ab. Mit Details wünschte sie nicht behelligt zu werden. Sie wollte lediglich wissen, ob Rocco sich um die Angelegenheit kümmere und ob sie ihm unseren Hausanwalt empfehlen solle. Ich sagte, dass das nicht nötig sei, Rocco hätte alles im Griff. Wie es mir dabei ging, schien sie nicht zu interessieren und als ich fragte, was mein Vater von der Sache hielt, teilte sie mir mit, dass er unterwegs zu einem dringenden Geschäftstermin in Tokio sei und Störungen dieser Art nicht gebrauchen könne.

Ich kannte es ja nicht anders, ich bin in Internaten aufgewachsen und hatte meine Nannys öfter als meine eigenen Eltern gesehen. Sie waren es, die meine Geburtstagsfeiern ausgerichtet oder an meinem Bett gesessen hatten, wenn ich krank war. Wie oft ich meinen Vater in jener Zeit zu Gesicht bekommen hatte, konnte ich an einer Hand abzählen, und meine Mutter kannte ich nur als beherrschte, distanzierte Frau. Eigentlich hatte ich mich damit abgefunden, mein eigenes Ding zu machen. Aber heute versetzte mir ihre kühle Art einen Stich. Nachdem sie in Erfahrung gebracht hatte, dass Rocco bereits alle erforderlichen rechtlichen Schritte in die Wege leitete, beendete meine Mutter das Telefonat zügig. Da niemand meine wahre Identität kannte, stand der gute Ruf meiner Familie ja zum Glück nicht auf dem Spiel, darüber hinaus gab es nichts zu sagen. Ich blieb mit meinem Gedankenkarussell alleine.

Bald wechselte die Landschaft in hügelige Waldflächen. Wir verließen die Autobahn und krochen durch die grüne Einöde. In meinem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus, das jedoch wohl nur in Teilen an dem stetigen Auf und Ab der engen Kurven lag. Als wir irgendwann eine verschlungene Bergstraße hinauffuhren und unvermittelt zwischen ein paar wie achtlos dahingewürfelten Häuschen auf einen Torbogen mit dem Schriftzug Zur Goldenen Aussicht zusteuerten, war ich restlos bedient. Wenn es einen Arsch der Welt gab, dann saß er hier. Der Wagen hielt vor einem zur Pension umgebauten Bauernhof. Ich stieg aus dem Wagen und sah mich genauer um. Im linken Flügel hatte man die Rezeption und ein kleines Ausflugslokal untergebracht, dessen Knüppelholztische im Innenhof allesamt unbesetzt waren. Die Fassade bestand aus weiß getünchtem Fachwerk, doch selbst die Blumenkästen vor den Fenstern konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass an manchen Ecken die Farbe abblätterte und überall Unkraut zwischen dem Kopfsteinpflaster hervorwucherte. Ein Fensterladen im Obergeschoss hing schief in den Angeln und eine der Butzenscheiben war zersprungen. Und in dieser Bruchbude hatte Rocco mich einquartiert? Goldene Aussicht stimmte allerdings. Der Hof thronte auf einer Bergkuppe und bot nach Westen hin tatsächlich einen recht netten Blick auf das Tal – sofern man für Bäume, Felsen und nochmal Bäume, die im saftigen Grün standen, etwas übrig hatte. Ansonsten wirkten die Gebäudeteile ziemlich marode und beim Blick auf die windschiefe Satellitenschüssel auf dem Dach schwante mir Böses. Waren die Leute hier überhaupt schon an die neuen Errungenschaften der Zivilisation wie Internet oder Pay-TV angeschlossen?

Während mein Fahrer das Gepäck aus dem Kofferraum hob, öffnete sich die Tür zur Rezeption und ein Mann Ende vierzig kam mir entgegen. Er hatte rotes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar und ein sonnengebräuntes Gesicht. Feine Fältchen umsäumten seine wachen Augen, als er mich anlächelte und mir seine sehnige Hand entgegenhielt.

»Sie müssen Alexander Weidner sein. Ihr Vater hat uns Ihr Kommen angekündigt. Ich bin Thomas Stassen, der Besitzer. Willkommen in der Goldenen Aussicht

Meine Gedanken überschlugen sich. Alexander Weidner, das war also mein Alias für die nächsten Wochen. Wie originell, Rocco hatte meinen Vornamen mit seinem eigenen Familiennamen kombiniert. Hoffentlich verplapperte ich mich nicht.

»Und geht es Ihnen jetzt wieder besser?« Der Mann sah mich mitfühlend an.

»Wie bitte?«

»Ihre Gesundheit. Ihr Vater meinte, Sie hätten gerade erst eine schwere Lungenkrankheit überstanden?«

Ich hüstelte ein wenig und nickte. »Ja, danke. Alles bestens. Ich muss mich nur ein bisschen erholen von der Lungenentzündung.«

Thomas Stassen zog die Augenbrauen zusammen. »Ach, ich dachte, es sei eine Lungenembolie gewesen?«

Verdammt, ich sollte mir unbedingt nochmal die Mail mit der Geschichte ansehen, die sich Rocco für mich ausgedacht hatte. »Ja, klar, natürlich. Ich meinte auch Lungenembolie. Die beiden Begriffe verwechsele ich andauernd.«

Der Mann nickte. »Jedenfalls ist hier genau der richtige Ort, um sich zu erholen. Die Luft ist einfach herrlich.« Wie zum Beweis atmete er tief ein. »Hören Sie das?«

Ich lauschte angestrengt, doch außer dem Wind in den Bäumen und Vogelgezwitscher vernahm ich gar nichts. »Nein«, antwortete ich unsicher.

»Eben!« Der Mann lachte. »Absolute Ruhe. Der perfekte Ort zum Erholen.«

Ich grinste blöde.

»Wenn Sie mir bitte folgen möchten?« Er machte eine einladende Geste und geleitete mich zur Rezeption, wo ich einen Anmeldezettel ausfüllte und meinen Schlüssel entgegennahm.

»Zimmer vierzehn. Es hat eine wundervolle Aussicht ins Tal«, erklärte Herr Stassen. »Maxime, bringst du Herrn Weidner bitte das Gepäck hinauf?«

Ein Mädchen, vielleicht siebzehn oder achtzehn, erschien in der Tür und lächelte mich unverbindlich an. Ihre roten Haare wippten fröhlich um ihren Kopf und es bedurfte keiner weiteren Vorstellung. Die Familienähnlichkeit zu ihrem Vater war unverkennbar.

»Nein, nein!«, warf ich ein. »Das erledigt mein Fahrer. Vielen Dank.«

Maxime verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. Ihre grauen Augen blitzten. »Hörst du, Papa? Herr Weidner hat für solche Aufgaben sein eigenes Personal.«

Herr Stassen seufzte. »Bitte entschuldigen Sie das Benehmen meiner Tochter, ich …«

»Kein Ding«, antwortete ich und biss mir auf die Unterlippe. Sie musste mich ja wirklich für einen Snob halten.

»Hier entlang.« Maxime ging mir voraus und führte mich eine Treppe hinauf, die bei jedem Schritt knarzte. Im ersten Stock bog sie nach rechts ab und öffnete die Tür mit der Nummer vierzehn.

»Das ist unser bestes Zimmer«, erklärte sie und ging hinein. Mein Blick fiel auf ein Doppelbett mit zwei Haribo-Tütchen auf den Kopfkissen und einen dreißig Zoll Fernseher auf einer Kommode gegenüber. Die Wand links daneben füllte ein verspiegelter Kleiderschrank aus. Ich trat ein und schaute mich genauer um. Unter dem Fenster stand ein Schreibtisch mit hauseigenem Briefpapier und einem Kugelschreiber mit Werbeaufdruck. Rechts daneben befand sich eine Sitzecke aus zwei kleinen schwarzen Ledersesseln und einem Beistelltischchen, auf dem ein Blumentopf und ein Rauchen verboten Schildchen standen. Alles in allem war der Raum kaum größer als mein begehbarer Kleiderschrank früher im Hause meiner Eltern. Na toll.

Maxime schob die Balkontür auf. »Nirgendwo sonst hat man diese Aussicht. Wir haben hier Satellitenfernsehen und unten an der Rezeption auch einen Internetzugang. Mit dem Handyempfang dürfte es schwierig werden, aber da Sie ja sowieso zur Erholung hier sind …«

Sie zuckte mit den Schultern und öffnete die Tür zum Bad. Nasszelle wäre allerdings der bessere Ausdruck gewesen. Die Badewanne diente zugleich als Dusche und das Waschbecken stand so dicht an der Toilette, dass man sich ohne Probleme die Zähne putzen konnte, wenn man darauf saß. Das Kabel des Föns verschwand direkt ohne Stecker in der Wand, und ich fragte mich, ob die Gäste, die hier normalerweise abstiegen, es wohl nötig hatten, so ein Ding zu klauen.

»Gefällt es Ihnen?«

Ich spürte, wie sich mein Kopf mechanisch zu einem Nicken auf und ab bewegte. Immerhin war das Zimmer sauber wie geleckt. »Sehr gut.« Maxime lächelte zufrieden, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Möchten Sie auch die anderen Zimmer sehen?«

»Danke, das genügt mir. Alles prima.«

»Okay. Die Essenszeiten finden Sie auf einem Infoblatt im Schreibtisch, und wenn Sie noch weitere Wünsche haben, wenden Sie sich gerne an mich. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt, Herr Weidner.«

»Alexander!«

Sie hatte schon die Klinke in der Hand und drehte sich jetzt verwirrt zu mir um. »Wie bitte?«

»Mein Name ist Alexander. Könntest du mich bitte so nennen? Sonst fühle ich mich wie mein eigener Opa.«

Wieder stahl sich ein verschmitztes Lächeln auf ihre Lippen und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, wie sie wohl schmeckten. »Wenn Sie darauf bestehen, Alexander.«

Trotz der Umstände musste ich lachen. »Du siezt mich ja schon wieder! Bist du immer so widerspenstig?«

Sie tat, als müsste sie überlegen. »Nein, nur bei ganz besonderen Gästen«, antwortete sie schließlich mit einem Augenzwinkern und schlüpfte durch die Tür.

 

***

 

Das war er also, der geheimnisvolle Alexander Weidner. Offensichtlich ein ziemlich verwöhnter Typ, hauptberuflich Sohn. Maxime hüpfte die Stufen hinunter und wäre fast mit seinem Chauffeur zusammengeprallt, der sich abmühte, mehrere Koffer und Reisetaschen zugleich die Treppe hinauf zu schleppen. Ihr Angebot, ihm zu helfen, lehnte er ab, also ging sie zur Rezeption, wo ihre Mutter am Computer saß und die Reservierungen für die kommende Woche überprüfte.

»Irgendwelche anderen Neuzugänge?«, fragte Maxime und schaute ihrer Mutter über die Schulter.

»Montag kommt ein Pärchen aus Köln. Sie bleiben für eine Woche. Am Telefon sagten sie, dass sie hier in der Gegend wandern wollen. Dann noch eine Familie mit zwei Kindern für fünf Tage.« Maximes Mutter nahm die Lesebrille ab und rieb sich den Nasenrücken.

»Das ist alles?«

»Bis jetzt ja. Und das in der Ferienzeit. Wenn es weiter so geht …« Sie ließ den Satz unvollendet, doch Maxime wusste, was sie meinte.

»Zum Glück hat Alexanders Vater für einen Monat im Voraus bezahlt.«

Ihre Mutter hob neugierig die Brauen. »Ach, Alexander nennst du ihn schon?«

»Mama!« Maxime verdrehte die Augen. »Er ist kaum älter als ich, warum sollte ich ihn also nicht beim Vornamen nennen? Außerdem hat er mich selbst darum gebeten, und wer bin ich, dass ich einem Gast einen Wunsch abschlage?«

»Da bist du Vollprofi in Sachen Service, nicht wahr?« Neckend zwickte sie ihr in die Wange. »Und wie ist er so?«

Maxime überlegte. Wie war er so? Rein optisch gefiel er ihr. Groß, schlank, dunkle Haare, die offensichtlich gefärbt waren, grüne Augen und blasse, beinahe porzellanartige Haut. Er trug zwar ausgebeulte Jeans und ein schlabbriges Sweatshirt, doch beides waren teure Markenklamotten, ebenso wie seine Air Max. Über sein Wesen war Maxime sich nicht ganz sicher. Er bemühte sich zwar, höflich zu sein, aber es war ihr nicht entgangen, dass er von seiner Unterkunft wenig begeistert war. Maxime schnaufte. Wie er beim Anblick des Bads geguckt hatte! Regelrecht schockiert! Vermutlich war der feine Herr ganz andere Unterkünfte gewohnt. Nun gut, sein Vater hatte ihn sicher nicht ohne Grund hier einquartiert. Vielleicht wollte er seinem Sohn ja ein bisschen Bescheidenheit beibringen.

»Scheint ein ziemlicher Idiot zu sein«, antwortete Maxime. »Brauchst du mich noch?«

Ihre Mutter winkte ab. »Nein, lass mal. Immerhin hast du Sommerferien. Außerdem ist Freitagabend. Da sollte ein Mädchen deines Alters unterwegs sein.«

»Gut, dann fahre ich mal runter zum Quentin’s. Da ist heute Abend Mottoparty. Under the Horizon. Was immer sie damit meinen.«

»Viel Spaß!« Ihre Mutter war bereits wieder in ihre Arbeit vertieft, als Maxime die Treppe zu ihrem Zimmer hinauflief.

Wieder einmal so ein nichtssagendes Motto im Quentin’s. Am Ende kamen doch wieder alle in ihren normalen Partyoutfits und es lief auch immer dieselbe Mucke: Eine Mischung aus dem Kram, der in den Charts gerade oben stand, und dann später in der Nacht hämmerte meist irgendein Technozeug durch die alte Tenne. Aber hatte sie eine Wahl? Das Quentin’s war der einzige Club weit und breit, den man ohne Sammeltaxi erreichen konnte. Außerdem würde Jacky auch da sein, und mit ihr wurde es immer lustig.

Nachdem sie geduscht hatte, stand Maxime in ein Handtuch gewickelt vor ihrem Kleiderschrank und suchte die Klamotten für den heutigen Abend aus. Under the Horizon. Das konnte alles und nichts bedeuten. Ihr erster Gedanke galt dem Meer, aber was passte dazu? Ihr Blick fiel auf eine jadegrüne Bluse. Zu der hatte Jacky sie erst kürzlich überredet, von selbst hätte sie dieses Teil niemals gekauft. Die Farbe brachte ihr Haar zwar perfekt zur Geltung, aber – es war total transparent!

»Zieh doch einfach einen süßen BH drunter, das sieht mega heiß aus«, hatte Jacky ihr geraten, doch das hätte sie sich nie im Leben getraut. Aber vielleicht mit einem schwarzen Top? Sie probierte die Kombination aus und drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Zusammen mit der schwarzen Röhrenjeans sah das Outfit ziemlich toll aus. Sexy, aber nicht zu aufdringlich. Unergründlich, ja, das war der passende Begriff, und ihr rotes Haar leuchtete wie das von Arielle, der Meerjungfrau aus dem Disneyfilm. Sie würde es in offenen Wellen auf die Schultern fallen lassen. Aber ihr eigenes Gesicht dazu? Es fühlte sich nicht richtig an, fast so, als hätte sie sich verkleidet. Normalerweise machte sie sich überhaupt keine Gedanken über ihre Klamotten. Wichtig war, dass die Sachen zweckmäßig waren. Shirts, Jeans und flache Schuhe waren ihr Standardoutfit, selbst wenn sie ins Quentin’s ging. Warum sie ausgerechnet heute das Bedürfnis hatte, sich ein bisschen aufzuhübschen, verstand sie selbst nicht. Sie starrte ihrem Spiegelbild in die grauen Augen, bis alles um sie herum zu weichen Farbklecksen verschmolz. Komm da raus, beschwor sie sich stumm. Schlüpf aus deinem Kokon, trau dich! Sie blinzelte, bis sie wieder scharf sehen konnte, und betrachtete sich eingehend von Kopf bis Fuß. Die schwarzen Schuhe mit den Silberschnallen und den hohen Absätzen würden perfekt dazu passen.

»Showtime«, flüsterte sie dem Spiegel entgegen, ging ins Bad und kramte das Schminktäschchen hervor.

 

»Ich nehme den Wagen«, rief Maxime, als sie wenig später an der offenen Wohnzimmertür vorbeikam. Ihre Eltern hatten endlich Feierabend gemacht und ließen den Abend vor dem Fernseher ausklingen.

»Fahr vorsichtig und amüsier dich!«, rief ihr Vater und hob winkend die Hand.

»Mach ich! Bis später!« Erleichtert, dass ihre Eltern keinen genaueren Blick auf sie geworfen hatten, lief sie die Treppe zur Rezeption hinunter. Sie war zwar bereits volljährig und konnte tun und lassen, was sie wollte, aber so zurecht gemacht hatten sie sie noch nie gesehen. Es fehlte noch, dass sie mit peinlichen Fragen ihren Anflug von Wagemut ins Wanken brachten.

Im schwachen Schein der Nachtbeleuchtung pflückte Maxime den Schlüssel des alten Sprinters vom Schlüsselbrett und schreckte zusammen, als jemand ihren Namen rief.

»Hier bist du also! Ich habe schon überall nach dir gesucht!«

Alexander trat aus dem Schatten der Empfangstheke hervor und stellte sich ihr in den Weg.

Ausgerechnet. Maxime sackte innerlich zusammen und zwang sich zu einem freundlichen Ton. »Alexander. Was kann ich zu so später Stunde noch für dich tun?«

Sie hoffte, dass er die Anspielung verstand, doch er lachte nur. »Späte Stunde nennst du das? Der Abend fängt doch gerade erst an.«

»Brauchst du noch etwas? Einen Schlummertrunk vielleicht?« Sie ging um die Theke herum und schaltete das Licht an.

Für einen Augenblick schien Alexander aus dem Konzept gebracht. Mit offenem Mund starrte er sie an.

»Du … entschuldige, du wolltest gerade ausgehen«, kapierte er endlich und trat beiseite.

»Gut beobachtet.«

»Darum geht es ja«, fuhr er seufzend fort. »Hier ist überhaupt nichts los. Der Abend ist noch jung, und da dachte ich …« Verlegen biss er sich auf die Unterlippe. »Ich dachte, du wüsstest vielleicht, wo man hier an einem Freitagabend hingehen kann. Zum Tanzen oder so.«

Das wurde ja immer besser. Jetzt sollte sie auch noch den Babysitter für den feinen Pinsel spielen? Einen Rückzieher konnte sie nun allerdings auch nicht mehr machen, sie hatte ja schon zugegeben, dass sie ausgehen wollte.

»Ich bin auf dem Weg ins Quentin’s. Das ist ein Club im Nachbarort. Dort ist heute Mottoparty. Wenn du magst, nehme ich dich mit.« Sie konnte kaum glauben, was sie da sagte.

»Quentin’s? Klingt cool!«

»Versprich dir nicht zu viel davon. Das ist nur eine alte, umgebaute Tenne. Nichts Besonderes.« Sie knipste das Licht aus und ging zur Tür.

Er folgte ihr wie ein Schoßhündchen. »Und wie kommen wir da hin?«

Sie trat hinaus in den Innenhof und deutete auf einen rostigen weißen Lieferwagen, auf dessen Seiten das Logo der Pension prangte. »Mit dem hauseigenen Limousinenservice«, antwortete sie und stieg ein.

 

 

Kapitel 3

 

Geschickt lenkte sie den Lieferwagen aus dem Ort hinaus. Kuhweiden säumten die Straße und beinahe rechnete ich damit, dass hinter der nächsten Kurve eins der Viecher im Kegel der Scheinwerfer auf der Fahrbahn auftauchen würde. Obwohl es bereits ziemlich dunkel war, ertappte ich mich immer wieder dabei, wie ich Maxime von der Seite musterte. Dummerweise ertappte sie mich ebenfalls.

»Ist was?«, fragte sie und bog an einer Weggabelung nach rechts ab.

»Du siehst so anders aus«, antwortete ich, was leicht untertrieben war. Als sie vorhin an der Rezeption das Licht eingeschaltet hatte und ich sie genauer betrachten konnte, war ich für einen Moment wie geflasht gewesen. Ich wusste nicht, ob es die Haare waren, oder das Outfit, oder die Art, wie sie mich ansah. Sie war genervt, das konnte ich am Funkeln ihrer Augen sehen. Etwas Spöttisches lag darin, das mich reizte, es anzustacheln, nur um es weiter in Gang zu halten.

»Dachtest du, ich würde freitagabends in Sack und Asche herumlaufen und den Kühen beim Grasen zusehen?«

»So habe ich das nicht gemeint.« Ich richtete meinen Blick wieder nach vorne. »Du siehst hübsch aus.«

Sie lachte kurz auf. »Flirtest du etwa mit mir?«

»Und wenn es so wäre?« Erneut schaute ich sie an und bemerkte, wie sie errötete. Ich hatte schon ewig kein Mädchen mehr gesehen, das rot wurde, wenn ich es anflirtete. Eigentlich hatte ich mir meine Strategie für den Abend schon zurechtgelegt. Ein bisschen necken, ein paar Komplimente, ein oder zwei Drinks, und schon würden die Dinge ihren Lauf nehmen. Warum Skrupel haben? Immerhin musste sie volljährig sein, sonst dürfte sie ja nicht alleine Auto fahren. Aus dieser Ecke drohte mir also keine Gefahr. Aber ein Mädchen flachzulegen, das beim harmlosesten Kompliment rot anlief wie ein Radieschen? Da war wohl etwas mehr Fingerspitzengefühl gefragt. Ich grinste in mich hinein. Es war ewig her, dass ich dieses Spiel gespielt hatte und beinahe hatte ich vergessen, wie reizvoll es war, wenn ich den Ausgang nicht bereits vorher kannte.

»Da vorne ist es«, riss sie mich aus meinen Gedanken und wies mit einem Kopfnicken auf eine von Scheinwerfern angestrahlte Scheune. Der neongrüne Quentin’s-Schriftzug über dem Eingangstor verkündete, dass wir am Ziel angekommen waren. Maxime stellte den Wagen auf einer zum Parkplatz umfunktionierten Wiese zwischen einem Twingo und einem uralten R4 ab und stieg aus. Oh Mann, was für Schrottkisten. Ein paar Leute standen rauchend zwischen den Autos und begrüßten Maxime, als wir vorbeigingen. Die Jungs musterten mich abschätzend, während die Mädchen mich mit unverhohlener Neugier ins Visier nahmen. Vermutlich kam es nicht allzu oft vor, dass sich jemand von außerhalb in diese Gegend verirrte. Wir gingen zum Eingang, wo uns ein breit gebauter Kerl nach einem prüfenden Blick passieren ließ. An der Kasse wollte Maxime bereits ihr Portmonaie zücken, doch ich war schneller und bezahlte die acht Euro für uns beide. Dafür drückte man mir zwei Bons in die Hand, die uns je einen gratis Wodka-Red Bull versprachen. Ich schmunzelte. Da, wo ich herkam, bekam man für das Geld nicht einmal den Strohhalm.

Das Quentin’s war besser als erwartet. Zwar wirkten die Glitzerkugel unter der Decke und die bunten Lichteffekte über der Tanzfläche ein bisschen oldschool, und auch die Sitznischen am Rand konnten das Scheunenflair nicht ganz vertreiben. Andererseits war das schon fast wieder cool. In Berlin würden Clubbesitzer ein Vermögen dafür ausgeben, diesen Vintage-Look zu kopieren. Die Soundanlage war dagegen zum Glück auf dem neuesten Stand. Rund hundert Leute drängten sich auf der Tanzfläche zu Rihannas Diamonds, das kristallklar durch den Saal hallte.

»Also dann bis später.« Maxime wollte sich gerade umdrehen, als sich ein Mädchen aus der Menge löste und auf sie zustürmte.

»Hey, da bist du ja!« Sie begrüßte Maxime mit zwei Wangenküsschen und betrachtete sie mit einem anerkennenden Lächeln. »Toll siehst du aus! Ich wusste doch, das ist genau deine Farbe.« Dann bemerkte sie mich. »Und wen hast du uns da mitgebracht?«, fragte sie Maxime, ohne mich aus den Augen zu lassen. Den Blick, mit dem sie mich bedachte, kannte ich nur allzu gut. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, darauf einzugehen, aber ich hatte mich bereits für ein reizvolleres, schwerer erreichbares Ziel entschieden.

»Das ist Alexander. Ein Gast«, setzte Maxime beinahe förmlich hinzu. »Alexander, das ist Jacqueline, eine alte Schulfreundin von mir.«

»Nenn mich einfach Jacky.« Das Mädchen lachte und schob sich eine widerspenstige braune Haarsträhne hinters Ohr. »Hast du Lust zu tanzen?«

Ehe ich etwas erwidern konnte, nahm sie mich bei der Hand und zog mich auf die Tanzfläche. Inzwischen lief Thrift Shop