3Wendy Brown

Mauern

Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität

Aus dem Amerikanischen von Frank Lachmann

Suhrkamp

7Vorwort zur Neuauflage

Vote Leave! Take Control.

– Motto der Brexit-Kampagne, 2016

Make America Great Again! Build a Wall!

– Motto der Trump-Wahlkampagne, 2016

Mut zu Deutschland.

– Motto der Alternative für Deutschland, 2015-2016

Als ich die Arbeit an Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität im Herbst 2009 abgeschlossen hatte, war die im Nachgang des Kalten Kriegs einsetzende Einmauerung von Nationalstaaten noch eine nur schwach ausgeprägte und in gewisser Weise einfach lästige Eigenheit der globalen Landschaft, die den überall stattfindenden Investitionen in die Vernetzung und Verbindung der Welt entgegenstand. Die Europäer feierten den zwanzigsten Jahrestag des Falls der Berliner Mauer und standen den offenen Binnengrenzen in Europa im Allgemeinen wohlwollend gegenüber. Die »Festung Europa« war im Wesentlichen eine linke abschätzige Bezeichnung für eine restriktive EU-Einwanderungspolitik gegenüber Nichteuropäern. Die Vereinigten Staaten rechneten mit dem Scheitern der kostspieligen Befestigung ihrer Südgrenze und bewegten sich auch sonst in Richtung einer parteiübergreifenden Unterstützung des Vorschlags, Millionen undokumentierten Einwohnern einen legalen Aufenthalts8status zu gewähren.1 Natürlich rangen Nationen überall auf der Welt mit ihrer Einwanderungspolitik, und in der euroatlantischen Welt tobten scharfe innenpolitische Debatten über Multikulturalismus, Assimilation und besonders über den Ort für religiöse Muslime im Westen. Die massenhafte Migration mittelamerikanischer Jugendlicher nach Nordamerika und syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge nach Europa waren aber immer noch weit entfernt und virulenter rassistischer, fremdenfeindlicher und nationalistischer Hass zum allergrößten Teil noch an die Ränder der politischen Diskussion und Propaganda verbannt, obwohl sie der Politik der Nationalstaaten durchaus ihren Stempel aufgedrückt hatten.

Wie anders erscheint die Landschaft doch jetzt, sieben Jahre später. Ein US-Präsident ist gerade dadurch an die Macht gekommen, dass er versprach, »eine Mauer zu bauen« und diejenigen ohne Papiere abzuschieben … ungeachtet der unvorstellbaren Kosten und der Ineffizienz des Vorhabens, entlang der fast zweitausend Meilen langen Grenze zu Mexiko eine Mauer zu ziehen, und trotz der Abhängigkeit der amerikanischen Wirtschaft von den Millionen illegal im Land lebenden billigen Arbeitskräften. Die Formel von der »Festung Europa« ist zum Schlachtruf einer erstarkenden europäischen Rechten geworden, und Mauern und Zäune sind aus dem Boden geschossen, um Flüchtlinge, die vor Krieg und Konflikten im Nahen Osten und Nordafrika fliehen, umzuleiten. Europa selbst zerfällt zusehends in ummauerte Nationalstaaten, da die Brexit-Wähler die schmale Zugbrücke hochgekurbelt haben, die Großbritannien mit dem Kontinent verband; weitere nationale Absagen an die immer brüchigere Union sind in naher Zukunft zu erwarten und vom Schengener Abkommen von 1985, das dazu geführt hat, dass sechsundzwanzig europäische Nationen ihre Grenzen zu den ande9ren Mitgliedsstaaten beseitigt haben, sind nur noch Fetzen übrig. Wir scheinen eine Epoche verstärkter nationalistischer Wiedereingrenzungen betreten zu haben, die von sich faktisch und bildlich einmauernden Nationalstaaten flankiert wird.2

Die diesem Buch ursprünglich zugrundeliegende Ausgangsfrage besteht allerdings nach wie vor: Warum physische Mauern im einundzwanzigsten Jahrhundert? Solche Bauwerke vermögen es kaum jemals, ihrer Abriegelungsfunktion zu genügen, und sie sind auch keine wirtschaftlich vernünftige und technisch effektive Antwort auf die schlimmsten Gefahren, die gegenwärtig über die Grenzen hinwegfließen oder politische Gemeinschaften bedrohen. Ob es um die Verhinderung von Terrorismus und Kriminalität oder die Durchsetzung einer rassifizierten Biopolitik geht: Andere Polizierungs-, Überwachungs- und Governancemaßnahmen sind billiger und effektiver. Sowohl Einzelpersonen als auch kleine Gruppen können unterwegs mit Überwachungstechnik und Patrouillen besser aufgespürt und umgeleitet werden als mit Mauern. Und große Wellen migrierender Menschen werden, ebenso wie alle anderen Flutwellen auch, Mauern und Dämme letztlich unweigerlich durchbrechen oder sie umfließen.3 Dazu kommt noch, dass die heutigen Mauern die kriminellen Schmuggler- und Schlepperindustrien, die Bandenherrschaft über Grenzgebiete und grenznah gelegene Ortschaften sowie Konflikte und Spannungen zwischen benachbarten Ländern oft dramatisch anheizen, wodurch sich neue Gefährdungen für die Souveränität der Nationalstaaten ergeben, die dadurch noch weiter ausgehöhlt wird. Trotzdem wird nach Mauern verlangt und trotzdem werden sie gebaut. Warum?

Machiavelli erinnert uns daran, dass Politik, auch und gerade die Realpolitik, immer sehr theatralisch ist, ein Schau10spiel von Gefahr und Erlösung, Macht und Möglichkeit, zu dem absichtliche Manipulationen von Raum und Zeit, Ursache und Wirkung gehören. Dieses Theater ist verschleiernd, ja, aber eben auch schöpferisch — das politische Theater ist nie bloßes Theater und auch nicht einfach nur Betrug. Vielmehr bildet die Theatralität den Rahmen für das politische Handeln und seine Interpretation, ebenso wie für politische Affekte, Zugehörigkeit und Identität. Theatralität ist daher eine intrinsische und keine extrinsische Eigenschaft der Politik, die folglich unmöglich eliminiert oder gar beim Versuch, die Wahrheit oder das Wesen einer politischen Entwicklung oder Handlung aufzuspüren, theoretisch herausgerechnet werden könnte. Die Mauern zu verstehen, die Nationalstaaten heute umgeben, setzt eine umfassende Anerkennung dieses charakteristischen Merkmals des politischen Lebens voraus.

Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität betrachtet den gegenwärtigen Bau von Mauern als dramatische Inszenierungen für die Bevölkerungen von Nationalstaaten, die von den globalen, Souveränität und Identität sowohl auf staatlicher als auch auf individueller Ebene bedrohenden Kräften besonders beunruhigt sind. Während Mauern rund um Nationalstaaten also historisch gesehen keineswegs neue Phänomene sind, besitzen sie in der Gegenwart doch eine einzigartige Funktion und Bedeutung, indem sie eine politische Souveränität inszenieren, die den staatlichen Institutionen von der Globalisierung entzogen wird und die eine sichtbare Demonstration jener Macht und jenes Schutzes darstellt, die die Staaten zunehmend weniger bereitstellen können. Diese Inszenierung schafft somit das Imaginarium einer stabilen und homogenen (und manchmal mit einem weißen Suprematismus gesäumten) nationalen Einheit, die durch den globalen Fluss von Kapital, Menschen, Finanzen, Ideen, 11Kulturen, Religionen, Gütern und Terrorismus ganz real zerfressen wird. Als politische Reaktionen auf das, was in einer globalisierten Welt psychologisch, wirtschaftlich und politisch nicht zu bewältigen ist, stellen Mauern eine spektakuläre Projektionsfläche für Phantasien von einer wiederhergestellten souveränen Macht und von nationaler Reinheit dar. Als Symbole einer solchen (Schutz-)Macht funktionieren sie bestens, selbst dann, wenn sie real versagen. Und selbst wenn sie Konflikte verschärfen und Probleme vergrößern, die vom organisierten Verbrechen über gesprengte Staatshaushalte bis hin zur Belastung von Ökosystemen reichen, führt dies nicht zu einem Verlust ihrer politischen Wirksamkeit.

Die Flut der nationalstaatlichen Mauerbauten nach dem Ende des Kalten Kriegs (als dieses Buch seine Erstauflage erlebte, waren es etwas über dreißig Mauern, die nach 1989 gebaut worden sind; mittlerweile ist ihre Zahl auf über fünfzig angestiegen) ist mithin ein entscheidender Faktor sowohl bei der Konstruktion als auch in der Reflexion unserer Gegenwart. Sind Mauern ihrer Funktion und Wirkung nach eher theatralischer denn mechanischer Art, dann wird das Theater relevant in einer Zeit, in der die Staaten überdauern, obgleich ihre souveräne Macht schwindet, und sich im Nachgang der Souveränität machtvolle neue Nationalismen und reaktionäre bürgerliche Subjektivitäten konstituieren.

Die These dieses Buches geht noch einen Schritt weiter und besagt, dass Mauern schwindende Souveränität nicht nur anzeigen, sondern den Prozess ihres Schwindens beschleunigen; sie verschleiern die polizierenden und militärischen Funktionen des Staates, erzeugen neue Formen der Selbstjustiz an den Grenzen, stärken die transnationalen Verbindungen sowie die Macht des organisierten Verbrechens und intensivieren nationalistische Identifikations12muster, die wiederum ihrerseits das Verlangen nach einer entschiedeneren Ausübung staatlicher Souveränität, effizienterem Mauerbau und einer geringeren Anpassung an die Wechselfälle und Fährnisse der Globalisierung befeuern. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Verstrickung des IS und anderer dschihadistischer Gruppen in den Menschenhandel und angesichts von über 300 Millionen Dollar, die der Islamische Staat mit diesem Geschäft verdient hat, könnte man sogar sagen, dass Mauern den Terrorismus finanzieren.4 In all diesen Hinsichten tendieren die neuen Grenzbefestigungen dazu, die Souveränitätskrisen zu verschärfen, auf die sie zugleich Antworten darstellen sollen. Allerdings sind sie alles andere als ein Mittel zur Abhilfe oder zur Stabilisierung der Lage; vielmehr sind Mauern eine Art Pharmakon für schwindende Souveränität und verschlimmern die Probleme noch, für die sie Lösungen darstellen sollen, und das selbst dann noch, wenn sie als Beruhigungspillen für die Ängste oder die Wut der Wähler angesichts der zunehmenden Unfähigkeit der Nationalstaaten zur Aufrechterhaltung impliziter Gesellschaftsverträge für die Gewährleistung von Ordnung, Wohlstand, Sicherheit oder rassischer Überlegenheit fungieren.

Die These des Buchs von 2010 ist gewiss durch Donald Trumps Fähigkeit bestätigt worden, Begeisterungsstürme für die Idee zu entfachen, die Grenze zwischen den USA und Mexiko mit einer Mauer zu versehen, die die bereits installierten und mehrere Milliarden Dollar teuren Sperranlagen und Sicherheitssysteme noch übertreffen soll. Besonders vielsagend ist diese Begeisterung auch deshalb, weil sie hervorgerufen werden konnte, obwohl Belege dafür vorliegen, dass die Schwankungen in den Migrationsströmen aus dem globalen Süden weniger von Polizierungsmaßnahmen oder Sperranlagen als von der Nachfrage nach billigen Arbeitskräften bestimmt werden, und obwohl es 13Beweise dafür gibt, dass die Gruppe der Neuankömmlinge eine im Vergleich niedrigere Kriminalitätsrate und einen höheren Bildungsstand und Beschäftigungsgrad aufweist als andere arme innerstädtische Bevölkerungsgruppen im Land. Die Argumentation des Buches wird zudem noch vom prosperierenden Schlepperwesen sowie dem in den letzten Jahren auf dem Vormarsch befindlichen einwanderungsfeindlichen Vigilantismus und Nationalismus überall in Europa und Nordamerika gestützt.5 Außerdem wird sie durch den Erfolg sezessionistischer Bewegungen in Europa untermauert, die vom (allerdings ohnmächtigen) Wunsch nach Wiederherstellung der Macht des Nationalstaats und seiner Zuständigkeit für Politik, Demographie, Wirtschaft und Grenzen motiviert sind. Die Rückkehr zu so einer nationalstaatlichen Kontrolle mag zwar ein Phantasma sein, dessen Realisierung für das Leben und die Existenzgrundlagen der Einzelnen unglaublich kostspielig wäre, doch so sieht das politische Leben einer schwindenden nationalen Souveränität nun einmal aus.

Doch auch dann, wenn die zentrale These von Mauern aufrechterhalten werden kann, so wäre sie doch zugleich zur Erfassung einiger der jüngsten Entwicklungen in Sachen Grenzbefestigung, besonders in Europa, inadäquat. Denn erstens reagieren die neoliberalisierten europäischen Staaten, die es mit neuen Einwanderungswellen zu tun haben, damit nicht nur auf die konträren Ansprüche des deregulierten Kapitals einerseits und ihrer über schlechter werdende Bedingungen für Wohlstand und Sicherheit wütenden Bevölkerungen andererseits. Zweitens reagieren sie damit auch auf mehr als auf die sich in einer globalisierten Welt widersprechenden Erfordernisse von Wirtschaft und Sicherheit, wobei Erstere typischerweise so verstanden wird, dass sie ein laxeres Grenzregime voranzutreiben versucht, 14und die Letztere so, dass sie auf die Befestigung der Grenzen hinarbeitet.

Im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts hat der Finanzkapitalismus das komplexe fünfunddreißig Jahre währende Projekt der Neoliberalisierung erheblich verändert und neue Orientierungs- und Verhaltensweisen sowohl für das Kapital als auch für die Staaten erzeugt.6 Statt primär von Profit- oder Wachstumsraten angetrieben zu werden, sind finanzialisierte Entitäten (darunter auch die größten von ihnen, nämlich die Staaten) zunehmend an die Erfordernisse des Marktvertrauens gebunden, das sich in Kredit- und Anleihebewertungen ebenso widerspiegelt, wie es durch sie geschaffen wird. Wie Michel Feher es ausdrückt, steht heute jeder finanzialisierte Akteur vor der Aufgabe, eine Aufwertung seiner Kreditwürdigkeit — also seiner Attraktivität für Investoren — anzustreben und eine Abwertung seines gegenwärtigen und zukünftigen Wertes zu vermeiden.7 Anders ausgedrückt: Der Finanzkapitalismus verändert das ökonomische Verhalten, indem er die Bedingungen für wirtschaftlichen Erfolg und Misserfolg verändert. Er ersetzt altmodische utilitaristische Interessen an geringen Kosten und hohen Preisen — oder, im Falle der Nationalstaaten, an der Aufrechterhaltung einer vorteilhaften Handelsbilanz — mit Überwachungs- und Lenkungsstrategien, die darauf abzielen, Investoren und Kreditgeber mit guten Anleihe-, Bonitäts-, Währungs- und Humankapitalbewertungen zu locken. Neben einer permanenten strukturellen Anpassung (also einer regressiven Besteuerung und der Eliminierung all dessen, was vom öffentlichen Rentensystem und den öffentlichen Gütern und Industrien sowie den gewerkschaftlich ausgehandelten Löhnen und Arbeitsbedingungen etc. noch übrig ist) erzeugen die Imperative der Finanzialisierung eine neue Orientierung der Staaten mit Blick auf alle nur erdenkliche 15Dinge, vom Zoll bis hin zur Migration. Die Staaten sind heute nicht nur mit den konkreten politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten und Nutzen der Einwanderung befasst, sondern auch mit dem Beitrag oder der Belastung, die sie potentiell für die Attraktivität des Landes in den Augen von Kreditgebern und Investoren darstellt. Oder wie Feher die Sache bündig auf den Punkt bringt: »[I]nternationale Geldgeber anziehen und zugleich unerwünschte Migranten abschrecken: Seit der großen Rezession von 2009 haben diese beiden Leitsätze die europäische Agenda dominiert.«8

Der von Feher beschriebene Imperativ wird an den beiden sich überschneidenden Krisen deutlich, die Europa derzeit durchlebt. Die eine ist die Finanzkrise, die zu einer wirtschaftlichen und politischen Krise geworden ist und aus den höchst ungleichen Schulden, Wachstumsraten, Handelsbeziehungen und nationalen Selbstbestimmungsmöglichkeiten hervorgegangen ist, die wiederum das Ergebnis eines gemeinsamen Marktes und einer Gemeinschaftswährung ohne einen gemeinsamen Gesellschaftsvertrag und eine gemeinsame politische Ordnung sind.9 Die andere ist die, die mit der großen Migrantenwelle zu tun hat, die aus dem Nahen Osten und Nordafrika angespült worden ist und in der die »Frontstaaten« in Süd- und Osteuropa auch wieder zu denen gehörten, die dadurch wirtschaftlich am stärksten gefordert waren. Die Art und Weise, auf die diese beiden Krisen sich an den Mauern überschneiden, die eine neue Bühne für die Souveränitätskämpfe der EU darstellen, bedarf einer ausführlichen Erläuterung. Zwei von der Europäischen Union getroffene Vereinbarungen, »Schengen« (über offene Grenzen innerhalb Europas) und »Dublin« (über die Regeln zur Aufnahme von Flüchtlingen und die Bearbeitung von Asylanträgen, die das Gemeinsame Europäische Asylsys16tem der EU flankieren), stecken bereits in der Krise, seit der Arabische Frühling Tausende Tunesier an die Küsten Südeuropas gebracht hat. 2015 kamen beide Abkommen an ihr Limit. Heute droht Europa an ihrem Scheitern in Verbindung mit der Krise der Eurozone zu zerbrechen. Was hat dies mit den neuen Grenzbarrieren zu tun, etwa denen, die Ungarn an seinen Grenzen zu Serbien und Kroatien errichtet hat, oder denen Norwegens an seiner arktischen Grenze zu Russland? Es ist wichtig festzuhalten, dass diese Barrieren die Migrationsströme aus dem Osten und dem Süden nicht abwehren, sondern umlenken und sie zu anderen Eintrittspunkten nach Europa hintreiben. Manche von ihnen stehen mittlerweile mit einem System in Verbindung, das Migranten über den Balkan und in das Herz Europas schleust. Das wiederum sorgt dafür, dass ganze Länder zu europäischen Grenzen werden — zu Durchreisezonen statt zu Zielorten —, wodurch sowohl das Schengener als auch das Dubliner Abkommen noch weiter unterminiert werden. Wie Bernd Kasparek es ausgedrückt hat, haben die neuen Korridore durch Europa das, was am Anfang noch spontane Migrationsrouten und behelfsweise Lager für Einwanderer auf ihrem Weg zu ihren Zielen im Westen und Norden waren, in sowohl von den Nationalstaaten selbst als auch von der EU organisierte Kanäle verwandelt, mit denen die Bewegungen von Menschen kontrolliert werden.10 Durch ihren quasi-offiziellen Status haben diese Korridore dazu beigetragen, eine Unterscheidung zwischen »Transit-« und »Zielländern« festzuschreiben, wodurch diejenige Klausel des Dubliner Abkommens, derzufolge das Land, in dem Migranten die EU erstmals betreten, auch das ist, das für sie zuständig ist (und in das sie zurückgeführt werden können, wenn sie sich in andere Teile Europas begeben), zunehmend ihrer Funktion und sogar ihres Sinns beraubt wird. Grenz17barrieren, Korridore und Durchgangslager, in denen die Bearbeitung der Anträge von Migranten erfolgt, werden so zu Elementen einer komplizierten und ungeplanten, aber dennoch intensiv regulierten Strukturierung des Raums, die im gleichen Zuge, in dem sie die migrantischen Körper verwaltet, die europäische Geopolitik neu konfiguriert. Ersteres tut sie, indem sie neue Zusammenschlüsse und Auseinandersetzungen von nationalen, subnationalen und postnationalen Kräften und Zuständigkeiten und sogar neue Handlungsspielräume für die Migranten selbst produziert, was als eine Biopolitik der Migrantenbewegung betrachtet werden kann: Kasparek schildert die Migrationsflüsse durch diese Korridore als gleichzeitig staatlich organisiert (sie werden angetrieben) und selbstorganisiert (die Migranten treiben sich selbst an). Da Migranten zugleich gedrängt werden und drängen, geschützt und reglementiert werden, entsteht in diesen Korridoren eine neuartige Semiotik und Physik von Freiheit und Sicherheit, die von den Gefahren von Festnahme und Abschiebung konturiert wird.11

Kasparek beschreibt diese neue Ordnung wie folgt:

 

Der Korridor, der sich über mehrere Länder hinweg erstreckt und sie scheinbar miteinander verbindet, hat ein eigenes Grundgesetz. Man könnte es als »exterritorial« beschreiben, um die verschiedenen Gesetze und Regeln besser einzufangen, die in ihm (im Gegensatz zu seinem Außen) gelten. Dass diese Regeln und Gesetze anderenorts abgefasst worden sind, muss nicht extra erwähnt werden. Das Grenz- und Migrationsregime der EU war nicht dazu fähig, die außergewöhnlichen Personenbewegungen über ihre Grenzen hinweg zu unterbinden, sondern hat die Route in einen genau abgegrenzten Korridor verwandelt, der dazu dienen sollte, eine gewisse Kontrolle über die Migrationsflüsse wiederzuerlangen.12

 

18Ebendiese Strukturierung von Raum und Bewegung ist durch die Kombination von Grenzbarrieren, Korridoren und Durchgangslagern aber auch zu einem Schauplatz für die Souveränitätskämpfe der EU geworden, die über den Umgang mit Flüchtlingen in einer Post-Dublin-Ordnung geführt wurden. Ja, die Korridore bestätigen erneut die jurisdiktionelle Kontrolle der EU über die Infragestellung ebendieser Kontrolle durch die Migranten, widersprechen aber zugleich radikal den Souveränitätsbehauptungen der Länder, die durch sie zerschnitten werden, indem sie nationale durch postnationale Gouvernementalitätstechniken ersetzen. Gleichzeitig zieht die Schaffung von »Transitstaaten« eine neue Ebene in die europäische Grenzpolitik ein und schafft außerdem ein neues Element in der Aushandlung von Souveränität aus einer Position der Schwäche heraus — dies ist die Position Griechenlands, Mazedoniens und der Balkanstaaten, ganz zu schweigen vom ewigen EU-Beitrittskandidaten Türkei.13 Und dann ist da noch das Verhandlungsangebot aus dem Norden: Deutschlands vorläufige »Politik der offenen Tür« rührte natürlich zum Teil von seinem eigenen Arbeitskräftebedarf sowie von den Legitimitätsdefiziten her, die sich aus seiner gnadenlosen Behandlung Griechenlands im Sommer 2015 ergeben hatten. Zugleich ist sie aber auch ein Versuch, Europa vor der Gefahr zu bewahren, dass andere Staaten entweder dem ungarischen Vorbild der Errichtung von Mauern und der Gewaltanwendung gegenüber Einwanderern oder dem Brexit-Modell folgen … die beide eine wachsende nationalistische Enttäuschung über die Einwanderungs- und Finanzpolitik der EU widerspiegeln. Die Rolle, die Grenzbarrieren sowohl dabei spielen, die Gefahr eines Auseinanderbrechens Europas zum Ausdruck zu bringen, als auch dabei, ebendieses noch zu befeuern, wurde an der Freude deutlich, mit der rechtsgerich19tete Politikerinnen und Politiker wie die Vorsitzende des Front National, Marine Le Pen, oder der britische UKIP-Chef Nigel Farage das Mauerbaufieber des Herbstes 2015 zur Kenntnis nahmen: »Bye bye Schengen!«, tweetete Le Pen, als dieses seinen Höhepunkt erreicht hatte.14

Die Grenzbefestigungen, die jüngst von den Niederlanden und Österreich über den Balkan bis nach Mazedonien und in der Türkei entstanden sind, sind damit eindeutig mehr als bloß theatralische Inszenierungen nationalstaatlicher Macht, die vor den Augen ökonomisch enttäuschter und fremdenfeindlich gesinnter Bürger aufgeführt werden — obwohl sie dies auch sind. Sie sind zu einem Bestandteil eines komplexen Ad-hoc-Netzwerks räumlicher und gouvernementaler Techniken zur Lenkung, Kanalisierung, Polizierung und Beherrschung von Migrationsströmen geworden. Mauern funktionieren viel besser als Umlenkungs- denn als Abriegelungsmaßnahmen — selbst die »gescheiterte« Mauer an der Grenze zwischen den USA und Mexiko hat die illegale Einwanderung zwar nicht gestoppt, aber sie auf Pfade abgedrängt und in Hände gelegt, die viel gefährlicher und kostspieliger sind als bisher. Auf diese Weise manifestieren die neuen Grenzmauern in Europa eine beständige physikalische Tatsache über »Ströme« an Land: Sie können nicht gestoppt, sondern nur gesteuert werden. Anders verhält es sich natürlich bei den Meeren: Dort können die Migrationsströme aufgelöst und zersplittert, ja sogar zum Verschwinden gebracht werden, wie es die Zehntausenden Einwanderer bezeugen, die man seit dem Arabischen Frühling im Mittelmeer hat ertrinken lassen.15

Die neuen Mauern machen die EU fragiler, indem sie sowohl das Dubliner als auch das Schengener Abkommen mit einer Geste souveräner staatlicher Macht unterminieren. Da sie aber mehr als nur ein Ausdruck des national20staatlichen Prärogativs sind, werden sie selbst zu Instrumenten oder sogar zu Taktiken im Kampf der konfligierenden Souveränitätsangebote, der sich im Rahmen der übergeordneten »europäischen Krise« abspielt, zwar unterschieden von, aber dennoch bezogen auf jene Referenden, die von der griechischen Zurückweisung des von der EU angestrebten Austeritätspakets im Sommer 2015 bis hin zum Brexit im Sommer 2016 reichen. In dieser Hinsicht stellen die Mauern Reaktionen von Nationalstaaten auf nichtegalitäre postnationale und sogar globale Institutionen dar, von denen auch diese Staaten selbst und ihre Bevölkerungen abhängig und an die sie gebunden sind — Institutionen, die die nationale Souveränität infrage stellen. Die postnationalen Institutionen kontern derweil mit ihren eigenen Strategien. Abgesehen davon, dass sie Nationen Entwicklungshilfe im Austausch für die Aufnahme von Einwanderern gewährt, hat die Juncker-Kommission zudem sogenannte Hotspots eingerichtet — bestimmte Zonen (zurzeit ausschließlich in Italien und in Griechenland), die dazu auserkoren sind, sich einem »außergewöhnlichen Migrationsdruck« ausgesetzt zu sehen, was eine Antwort der EU provozierte.16 Im Gegensatz zu der Rohheit der Grenzbefestigungen, der desolaten Lage im Flüchtlingslager von Calais oder den brutalen Polizeieinsätzen im Budapester Bahnhof Keleti bringt der Hotspot-Ansatz Frontex und andere europäische Agenturen dazu, sich für die Bereitstellung gebündelter Ressourcen zur Abwicklung, Betreuung und Kontrolle von Migranten an den Orten zu koordinieren, an denen sie die EU betreten. Die Europäische Kommission formuliert dies so:

 

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO), die EU-Grenzschutzagentur (Frontex), das Europäische Polizeiamt (Europol) und die Einheit für justizielle 21Zusammenarbeit der Europäischen Union (Eurojust) arbeiten vor Ort mit den Behörden der Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen zusammen, um diese dabei zu unterstützen, ihre aus der EU-Gesetzgebung hervorgehenden Verpflichtungen einzuhalten und ankommende Migranten zügig erkennungsdienstlich zu behandeln, zu registrieren und ihre Fingerabdrücke zu erfassen. Die Arbeit der Agenturen ist dabei aufeinander abgestimmt.17

 

Was hier den Anschein einer kostenlosen und kooperativen Hilfestellung erweckt, verhält sich in Wirklichkeit allerdings ziemlich anders. Zunächst einmal umfasst die Abwicklung auch die seitens der EU vorgenommene Zuweisung von Migranten an die Mitgliedsstaaten und weist zudem Asylsuchende aus manchen Ländern ab oder lässt sie ohne Betreuung zurück. Zum Zweiten kann die EU jedem Land, das sich ihren Maßnahmen an den von ihr festgelegten Hotspots verweigert, mit der Zurückhaltung von Entwicklungshilfen und auch mit dem Ausschluss aus dem Schengenraum drohen. Kasparek schreibt daher, dass »der Hotspot-Ansatz [zwar] die Sprache des Humanismus sprechen mag und von den Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen unterstützt wird […], de facto [aber] ein massives Misstrauensvotum gegenüber den Fähigkeiten und sogar der Bereitschaft dieser Staaten ist, die europäischen Weisungen zu befolgen«.18 Kurz gesagt, die Juncker-Kommission erzeugt mit den Hotspots einen Gegendruck zu den Ansprüchen auf den Vorrang der Nationalstaaten und bedient sich dabei der EU-Technokratie und der EU-Biopolitik; dazu stellen ihre Agenturen die nationale Selbstbestimmung infrage, indem sie die Kontrolle der Europäischen Union über die Einwanderung nach Europa wieder an sich ziehen, von der Kontrolle über die Migranten selbst ganz zu schweigen. Die Hotspots sind zu einem neuen 22Schauplatz des biopolitischen Flüchtlingsmanagements der EU geworden, was sowohl jene betrifft, die sie überprüft und aufgenommen hat, als auch die Abgeschobenen und Zurückgelassenen.19

Zusammengefasst lässt sich festhalten: Während das jüngste und noch anhaltende europäische Mauerbaufieber eine schwindende staatliche Souveränität anzeigt und zum Ausdruck bringt, sind die neuen Mauern ebenfalls Figuren auf dem Schachbrett komplexer Souveränitätskämpfe zwischen nationalen und postnationalen Kräften der politischen Willensbildung, ökonomischen Vereinbarungen und der demographischen Zusammensetzung.20 Im Gegensatz zu den Grenzbefestigungen, die in diesem Buch untersucht werden, ist die bedrohte Souveränität allerdings nicht einfach die der Nationalstaaten, die von globalen Flüssen und Mächten unterminiert werden, obwohl die Migrations- und die Finanzkrise sicherlich eine solche Unterminierung darstellen. Vielmehr ist sie auch dasjenige, was von postnationalen politischen Institutionen und politisch-ökonomischen Konstellationen infrage gestellt wird.

Die neuen Mauern Europas spiegeln Krisen in Europas Beziehung zu sich selbst und zur Welt wider … seine ungewisse Zukunft inmitten eines globalen Interregnums von souveränen Nationalstaaten einerseits und dem, worin auch immer ihre zukünftigen Gestalten bestehen werden, andererseits, eine ungewisse Zukunft zwischen einer auf die euroatlantischen Mächte fokussierten Moderne und eines entsprechenden Kapitalismus auf der einen und dem, was auch immer auf diese Fokussierung folgen wird, auf der anderen Seite. Außerdem zeigen sie eine Reihe von sich überschneidenden nationalistischen Zurückweisungen von Freihandel, offenen Grenzen und multikulturalistischen Demokratien an und zudem auch die gewaltigen Herausforderungen, denen sich die Demokratie heute 23durch zwei sehr unterschiedliche Kräfte und Zukunftsperspektiven ausgesetzt sieht: den reaktionären nationalen Populismus auf der einen und die postnationale Technokratie auf der anderen Seite. Ersterer wird besonders durch weiße (männliche) Erfahrungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Abstiegs befeuert; er ist rückwärtsgewandt, mythohistorisch orientiert, antiegalitär und autoritär. Letztere wird von finanziellen Imperativen und Erwartungen an den technischen Fortschritt motiviert; sie ist mit der Idee des Expertentums und einem kalten Realismus verbandelt, zukunftsorientiert und antidemokratisch. Der Kampf von Technokratie und Nationalismus bildet einen neuen Schauplatz für das Ringen um Souveränität. Mauern, Korridore und irreguläre Zonen innerhalb von Staaten sind nicht bloß Kulissen, sondern aktive und multipel signifizierende Akteure auf dieser Bühne. Dass sie ebenfalls das Leben und Sterben Millionen entwurzelter, verzweifelter Menschen strukturieren, die sich auf der Flucht oder an provisorischen Zufluchtsorten befinden, ist auf diesem Theater ein Kollateralschaden. Wie auch die Demokratie.

Berkeley, Dezember 2016