Buchcover

Ursula Isbel-Dotzler

Nelly

Das schönste Pferd der Welt

SAGA Egmont




Unser Schwarzwaldhof Zum Rössle war vor mehr als hundert Jahren eine Poststation. Damals hielten hier die Postkutscher und wechselten ihre „Rösser“. Die Kutschpferde waren nach den langen Wegen über steile Berghänge, durch Wälder und Täler müde und erschöpft und konnten im Stall des Rösslehofs ausruhen. Sie wurden getränkt und gefüttert, während die Stallknechte frische Pferde vor die Postkutschen spannten. Und in der alten Schankstube, die jetzt unsere Küche ist, gab es Bier und eine warme Mahlzeit für die Postkutscher und ihre Fahrgäste.

Das ist lange her. Aber unser Hof wird hier im Tal auch heute noch Zum Rössle oder Rösslehof genannt, so wie in alter Zeit, als es noch Postkutschen gab.

Mäusebraten in Bierteig

Bei uns gibt es meistens Spaghetti. Dabei ist keiner von uns besonders wild auf Spaghetti. Es ist nur so, daß sie einfach zu kochen sind. Wenn man es kann, finde ich. Manchmal kleben sie in Haufen zusammen. Sie „rotten sich zusammen“, sagt mein Bruder Daniel. Oder sie bleiben zu hart. Jedenfalls, inzwischen können wir alle Spaghetti kochen, mit Butter oder mit Tomatensoße aus der Dose dazu; sogar meine kleine Schwester Emma.

Emma ist die Jüngste in unserer Familie. Und die einzige, die findet, eine Mutter sollte kochen können.

„Wer sagt, daß eine Frau auch gleich eine Köchin sein muß, nur weil sie Kinder hat?“ fragt Dani und schiebt sich ein Stück Käsebrot zwischen die Zähne. Käsebrot ist auch etwas, was bei uns häufig gegessen wird. „Da könnte man genausogut verlangen, daß jeder Vater auch ein Koch sein muß. Aber das ist wohl zu hoch für dich, wie?“

Emma baumelt mit den Beinen. Sie reicht noch nicht ganz mit den Füßen bis zum Boden, wenn sie auf dem Sofa sitzt. Sie kaut an ihrem dicken Zopf und erwidert undeutlich: „Ist mir egal. Trotzdem, ich finde, Kathi müßte es können. In meiner Klasse haben sie auch alle Mütter, die kochen können. Alle. Bloß wir nicht!“

Kathi, das ist unsere Mutter. Emma geht mir manchmal echt auf den Geist mit ihrem Schwarzwälder Dickkopf. In manchen Dingen läßt sie sich einfach nicht von ihrer Meinung abbringen, da kann man machen, was man will. Ich glaube, man könnte sie an einen Marterpfahl binden, Feuer unter ihr anzünden und sie rösten, und sie würde immer noch mit diesem eigensinnigen Zug um den Mund herum dastehen und sagen: „Ist mir egal, trotzdem!“

„Diese Frau macht mich wahnsinnig!“ sagt Daniel und steckt die Nase wieder in sein Buch über Europas Moose und Flechten.

Mit „Frau“ meint er Emma. Sie ist vor kurzem acht geworden. Wenn’s nach mir gegangen wäre, hätten wir auch ohne sie auskommen können. Ein zweiter Hund wäre mir lieber gewesen. Aber damals hat mich ja keiner gefragt.

Überhaupt mag ich Tiere lieber als Menschen. Hunde und Katzen und besonders Pferde. Mücken und Spinnen weniger. Obwohl Chris, unser Vater, immer sagt, daß auch sie notwendig sind für das Gleichgewicht in der Natur.

Unsere Familie besteht zur Hälfte aus Tieren und zur anderen aus Menschen. Nein, eigentlich sind die Tiere in der Überzahl, wenn man die Hühner dazurechnet. Wir haben zwei Katzen, einen Hund, einen alten Papagei und vier Hühner, von denen eins keine Eier mehr legt. Die Schwalben und Spatzen und Bachstelzen, die unter unserem Hausdach nisten, zähle ich nicht mit. Auch die Mäuse nicht, die im Keller und auf dem Dachboden leben. Letzten Winter hatten wir sogar einen Siebenschläfer irgendwo im Gebälk. Er machte nachts Zoff wie eine Horde Gespenster.

Obwohl es sinnlos ist, sage ich zu Emma: „Man kann nicht alles haben. Andere Mütter können vielleicht kochen, aber sie malen dafür keine Bilder und stricken keine tollen Muster und nähen keine Patchwork-Decken. Oder sie wollen keine Tiere im Haus haben, wegen dem Dreck. Oder sie verlangen, daß man ständig gute Noten nach Hause bringt und in allem besser ist als andere. Und sie hören vielleicht nicht zu, wenn man ihnen was erzählen will. Oder sie erwarten, daß man Klassenbeste in Mathe ist. Wäre dir das lieber?“

„Ist mir egal, trotzdem“, sagt Emma.

„Vergiß es!“ murmelt Dani und seufzt in sein Buch.

Ich bin aber noch nicht fertig. „Da kannst du lange suchen, bis du eine Mutter findest, die nichts gegen einen Papagei wie Kukirol hat, der alles vollkackt“, füge ich hinzu.

„Ist mir egal, trotzdem!“ piepst Daniel.

Emma springt vom Sofa. „Ihr könnt mich alle mal“, sagt sie und erklärt dann noch genauer, was wir sie können.

„Ich finde, sie haben sie sehr schlecht erzogen“, meint Dani und grinst mich an.

Ich mag meinen Bruder Daniel. Auch wenn ich manchmal stinkig auf ihn bin und ihn Moppel nenne. Wir streiten schon, aber im Grund verstehen wir uns. Manchmal brauchen wir uns nur anzuschauen, und schon weiß ich, was Dani denkt. Und Dani weiß, was ich denke. Ich stelle mir vor, daß das so bei Zwillingen ist. Allerdings sind wir keine Zwillinge. Dani ist vierzehn, also knapp zwei Jahre älter als ich. Und er ist nicht dunkelhaarig wie ich, sondern blond. Mein Gesicht ist viel rundlicher als seines, und er hat graue Augen, während meine blau sind. Aber vielleicht gibt es ja auch so was wie geistige Zwillinge, was weiß man. Oder wir haben uns in einem früheren Leben schon gekannt. Ich glaube an solche Sachen. Daniel nicht.

Emma reißt die Küchentür auf. Davor steht Chris, unser Vater, und fragt: „Kann mal einer von euch Kids losgehen und Milch und Käse vom Mattenhof holen?“

„Emma!“ sagen Dani und ich gleichzeitig.

„Hab keine Zeit!“ schreit Emma und versucht eilig unter dem Arm unseres Vaters durchzukriechen und zu verschwinden.

Aber er hält sie fest. „Das hast du nie, Gnädigste“, sagt er. „Du drückst dich, wo es geht. Du kannst auch mal was für die Familie tun! Also los, nimm den Milcheimer, und keine Grundsatzdiskussionen!“

Emma brabbelt und brummelt. Ich stehe auf und drücke ihr das blaue Milcheimerchen in die Hand, dazu Geld aus dem alten Schuhkarton, der unsere Haushaltskasse ist.

„Nimm August mit“, sage ich. August ist unser Hund. „Er braucht Bewegung.“

„Habt ihr was gegessen?“ fragt Chris. „Ich kann jetzt nicht kochen, ich hab gleich eine Patientin. Und Kathi malt an einem neuen Bild. Da hört und sieht sie nichts, das wißt ihr ja.“

Ja, das wissen wir. „Ich mache dir ein Käsebrot“, sage ich zu unserem Vater und komme mir sehr großzügig vor. „Oder magst du eins mit Tomaten drauf?“

Er antwortet, daß ihm Tomaten lieber wären. Unser Vater ist Heilpraktiker. Er behandelt die Leute mit Medikamenten, die vor allem aus Pflanzen und Beeren und Wurzeln gewonnen werden. Er braucht einem nur in die Augen zu sehen und weiß schon, welche Krankheit man hat. Er sagt immer, daß die Natur der beste Arzt ist.

Chris, unser Vater, ist groß und knochig. Dani wird sicher einmal genauso groß und knochig wie er. Sie haben auch die gleichen rotblonden Haare. Chris hat einen roten Bart; er sieht wie ein Wikinger aus, finde ich.

Das Küchenfenster steht offen. Der Wind trägt den Geruch von Heu und Harz herein, denn wir wohnen mitten auf dem Land. Eine unserer beiden Katzen landet auf dem Fensterbrett. Es ist Molly. Ich bin die einzige, die Milly und Molly auseinanderhalten kann. Sie sind beide dreifarbig, doch Milly hat einen winzigen schwarzen Fleck neben der Nase, den Molly nicht hat.

„Milly-Molly hat eine Maus mitgebracht“, sagt Dani. „Wie wär’s mit Mäusebraten in Bierteig zum Mittagessen?“

Chris verzieht das Gesicht. Molly springt auf den Teppich, kommt zu mir und legt mir ihre Beute vor die Füße. Es ist wirklich eine tote Maus. Sie tut mir leid, wie sie da liegt, so schlaff und mit einem blutigen Öhrchen. Aber Katzen fangen Mäuse, das ist nun mal so.

„Bring sie wieder raus!“ sage ich. „Ich weiß, du bist stolz darauf, daß du sie erwischt hast, aber ich mag solche Geschenke nicht besonders.“

Molly schnurrt wie verrückt und reibt ihren Kopf an meinen Jeansbeinen.

„Du solltest sie schon loben“, meint unser Vater. „Ohne die Katzen würden uns die Mäuse bald auf dem Kopf herumtanzen. Als ich ungefähr so alt wie Dani war, hatten wir mal eine Katzenseuche hier in der Gegend. Fast alle Katzen sind daran gestorben. Und noch im gleichen Jahr gab’s die totale Mäuseplage. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es hier im Rössle gewuselt hat. Sie waren einfach überall – in den Polstern, im Küchenkasten, im Bettzeug, sogar in den Gummistiefeln. Einmal ist mir eine dicke Maus aus der Mehltüte entgegengesprungen. Seitdem bin ich nicht mehr so wild auf Mäuse,“