Buchcover

Ursula Isbel-Dotzler

Nelly

Unser Fohlen Sammy Langbein

SAGA Egmont




Unser Schwarzwaldhof Zum Rössle war vor mehr als hundert Jahren eine Poststation. Damals hielten hier die Postkutscher und wechselten ihre „Rösser“. Die Kutschpferde waren nach den langen Wegen über steile Berghänge, durch Wälder und Täler müde und erschöpft und konnten im Stall des Rösslehofs ausruhen. Sie wurden getränkt und gefüttert, während die Stallknechte frische Pferde vor die Postkutscehen spannten. Und in der alten Schankstube, die jetzt unsere Küche ist, gab es Bier und eine warme Mahlzeit für die Postkutscher und ihre Fahrgäste.

Das ist lange her. Aber unser Hof wird hier im Tal auch heute noch Zum Rössle oder Rösslehof genannt, so wie in alter Zeit, als es noch Postkutschen gab.

Es regnet Hunde und Katzen

Es regnet und platscht nur so vom Himmel. Unsere Englischlehrerin sagt, bei den Briten heißt das: „Es regnet Hunde und Katzen.“ Aus der Dachrinne pladdert das Wasser in die Regentonnen. Von der Dachkante tropft es auf den Vorplatz. Unsere Hühner kriegen bestimmt bald Schwimmhäute zwischen den Krallen. Die Pferde stehen auf der Koppel und versinken mit den Hufen in der zertrampelten, aufgeweichten Erde. Ihr Fell ist dunkel vor Nässe.

Sogar unsere Stute Lady, die eigentlich silbergrau ist, sieht schwärzlich aus. Vom Gras ist nicht mehr viel übrig. Die ganze Wiese hat sich in eine Schlammwüste verwandelt.

„Wenn es endlich zu pinkeln aufhört, bringen wir die Pferde auf die hintere Weide“, sagt Dani, mein Bruder. Vorerst sieht es aber nicht danach aus. Der Himmel ist düster und die Wolken hängen fast bis zum Dach unseres Schwarzwaldhauses.

Eigentlich mag ich Regen, aber das wird mir doch zu viel. Der einzige Vorteil ist, dass die Schule wieder angefangen hat. Nach den Ferien ist es leichter sich wieder an die Schule zu gewöhnen, wenn das Wetter schlecht ist, finde ich. Sonst habe ich immer das Gefühl, unheimlich viel zu verpassen.

Obwohl man ja auch bei Regenwetter allerhand verpassen kann. Die Geburt eines Fohlens zum Beispiel. Sammeli, die Norwegerstute, steht nämlich seit zwei Tagen bei uns im Stall und wartet darauf, dass ihr Fohlen zur Welt kommt. Und da wäre ich natürlich gern zu Hause. Warum kann man sich für derart wichtige Sachen nicht vom Unterricht befreien lassen?

Ich überlege, ob ich so tun soll, als hätte ich Bauchschmerzen. Oder Kopfweh. Das kann keiner nachprüfen, obwohl unser Vater Heilpraktiker ist. Der merkt meistens recht schnell, ob einem wirklich etwas fehlt. Außerdem sind meine Eltern nicht auf den Kopf gefallen. Sie würden wahrscheinlich gleich den Zusammenhang zwischen meiner „Krankheit“ und der bevorstehenden Geburt von Sammelis Fohlen erkennen.

Also kann ich nur hoffen, dass Großvater Recht behält. Unser Großvater ist Tierarzt. Er behauptet, dass Fohlen fast immer nachts zur Welt kommen.

Eigentlich ist Sammelis Fohlen schon überfällig. Seit Tagen warten wir darauf.

„Tapert nicht ständig in den Stall und glotzt Sammeli an“, sagt Dani zu mir und Emma, unserer jüngeren Schwester. „Wenn um mich dauernd einer herumschleichen würde, hätte ich auch keinen Bock drauf, ein Kind zu kriegen.“

„Das schaffst du sowieso nicht, ob du Bock drauf hast oder nicht“, antwortet Emma. Manchmal wundere ich mich richtig darüber, wie schlagfertig sie ist.

Aber jetzt kann es nicht mehr lange dauern. Sammelis Euter ist schon deutlich angeschwollen. Seit heute früh ist sie auch sehr unruhig. Sie scharrt in der Streu, die wir täglich frisch in ihre Box bringen. Als ich mittags von der Schule nach Hause komme, gehe ich gleich in den Stall und sehe nach ihr.

Sie liegt im Stroh und schläft, dabei atmet sie schwer und zuckt mit den Beinen. Plötzlich wacht sie auf und springt hoch. Ihre Augen sind weit aufgerissen und haben einen erschrockenen Ausdruck. Schon geht sie wieder in der Box hin und her, auf und ab.

„Ich glaube, jetzt ist’s bald so weit, Sammeli“, sage ich und streichle sanft ihre Nase und den Hals. „Pass mal auf, ich rufe Großvater Max an, damit er sich darauf einrichtet, dass er heute Nacht zu dir kommen muss. Wenn er hier ist, kann dir nichts passieren.“

Bessie, die mächtige Schwarzwälder Fuchsstute, steht am Koppelgatter und sieht mir entgegen, als ich um die Hausecke biege. Sie wiehert durchdringend und läuft ein Stück am Zaun entlang, als wollte sie mich begleiten. Bessie ist schlammbedeckt bis zur Brust. Ich könnte schwören, dass sie sich Sorgen um Sammeli macht. Bessie und Sammeli sind nämlich dick befreundet, schon seit dem ersten Tag, als Bessie zu uns kam.

Eigentlich gehört Bessie unseren Nachbarn Toni und Liese vom Mattenhof. In diesem Sommer musste Toni ins Krankenhaus und wir haben Bessie zu uns geholt, weil Liese die viele Arbeit mit dem Hof und all den Tieren nicht allein schaffen konnte.

Jetzt haben Toni und Liese ihren Hof verpachtet und sind ins Dorf hinuntergezogen, nach Schwarzbach. Sie haben da ein Häuschen gefunden, in dem sie wohnen können. Für Bessie ist dort nicht genug Platz. Deshalb darf sie weiter bei uns bleiben und Toni kommt regelmäßig vorbei und versorgt sie.

Zum Glück hat Großvater seit einiger Zeit ein Autotelefon. Er ist gerade auf dem Weg zu einem kranken Schwein.

„Großvater“, sage ich, „ich bin’s, Nelly. Du, ich glaube, Sammeli kriegt bald ihre Wehen.“

„Aha. Langsam wird’s auch Zeit.“ Durch das Autotelefon klingt seine Stimme, als wäre er sehr weit weg, ungefähr in der Wüste Gobi oder mitten in den Rocky Mountains. „Ich komme abends gleich nach der Praxis vorbei. Falls es vorher schon losgehen sollte, rufe mich noch mal an.“

„Du hast doch gesagt, Fohlen kommen immer nachts zur Welt.“

„Meistens, ja. Aber es gibt für alles eine Ausnahme.“

Ich lege auf. Dann wähle ich die Nummer der Pflümlis. Den Pflaumers – Frau Pflaumer, Mick, Jenny und Jonas – gehört die Norwegerstute Sammeli und das Shetlandpony Franzi, die bei uns untergestellt sind. Sie müssen natürlich erfahren, dass es bei Sammeli bald losgeht.

Jonas nimmt sofort ab. Wahrscheinlich hat er schon neben dem Telefon gesessen. Seine Stimme klingt heiser vor Aufregung. „Mick ist noch in der Schule, die haben heut irgend so ein Kollo …“ Er stolpert über das schwere Wort. „Na ja, irgend so ein Zeug halt. Und Mama arbeitet noch. Aber sobald sie da sind, sag ich ihnen Bescheid. Oder soll ich gleich kommen?“

„Ich weiß nicht“, sage ich. „Sammeli ist so unruhig. Vielleicht tut’s ihr gut, wenn du bei ihr bist. Dich kennt sie ja schon ewig.“

„Okay, dann schreib ich Mick einen Zettel. Jenny ist auch gerade unterwegs, die hat Zeichenstunde. Hast du deinen Großvater angerufen?“

„Klar, vor drei Minuten. Er hat versprochen, abends zu kommen.“

Noch immer pladdert der Regen vom Himmel. Ich gehe zur Haustür. Emma ist gelandet und lehnt ihr Fahrrad gegen die Mauer. Sie trägt einen roten Umhang aus Gummi oder Plastik mit einer Kapuze und sieht aus wie ein Gartenzwerg. „Geh mir aus dem Weg!“, sagt sie. „Ich muss mal ganz dringend.“

Großvater und seine Fan-Gemeinde

Kurz vor vier taucht Mick auf, atemlos und nass bis auf die Haut, denn er hat seinen Regenmantel irgendwo vergessen.

„Wie geht’s ihr?“, fragt er und rast voraus, dem Stall zu.

Ich renne hinterdrein. „Es ist schon das Harz aus ihren Zitzen gekommen“, berichte ich keuchend. „Und sie schwitzt total und schlägt so komisch mit den Hinterhufen nach ihrem Bauch.“ Schon ist er beim Stalltor angelangt. Trotz aller Eile und Aufregung öffnet er den Torflügel leise und behutsam, um Sammeli nicht zu erschrecken. Ich bleibe auf der Schwelle stehen. Großvater hat ja gesagt, es ist nicht gut, wenn vor und während der Geburt zu viele Leute um Sammeli herumwuseln. Deshalb lasse ich sie lieber in Ruhe.

Jonas sitzt auf einem Hocker neben der Box. Ich höre Sammelis schwere Atemzüge, sehe sie aber nicht. Sicher liegt sie in der Streu.

„Wie steht’s?“, fragt Mick.

„Sie döst mit offenen Augen.“

Mick dreht sich zu mir um und fragt halblaut, wann Großvater kommt. Mick ist ein echter Fan von meinem Großvater. Er hat sogar schon einmal gesagt, seit er Großvater Max kennt, überlegt er, ob er später nicht selbst Tierarzt werden soll.

„Nach der Praxis schaut er vorbei“, sage ich und frage ihn dann, ob ich ihm trockene Klamotten bringen soll.

Er schüttelt den Kopf. „Nein, danke, Nelly. Ich ziehe meine Arbeitshose und den alten Pulli über. Die sind in der Sattelkammer.“

Ich gehe wieder ins Haus, denn ich habe versprochen, heute Abend Spagetti für die ganze Familie zu kochen. Und weil Mick und Jonas hier sind und auch Großvater kommen will, hole ich gleich vier große Dosen mit Tomatensoße aus dem Vorratskeller. Bestimmt haben sie alle Hunger.

Besonders Emma natürlich. „Was gibt’s zu essen?“, schreit sie durch die offene Küchentür.

„Spagetti“, sage ich.

„Äh, schon wieder Spagetti! Die kommen mir schon zu den Ohren raus!“

„Dann koch was anderes“, erwidere ich nicht besonders freundlich.

Ich bin so nervös wegen Sammeli, dass die Tomatensoße über den Topfrand brodelt. Es gibt eine furchtbare Schweinerei. August, unser Schäferhund, wuselt um mich herum und leckt die Tropfen vom Boden auf. Ich wische mit dem Spüllappen auf, da kommt Dani angetrabt. „Hier stinkt’s“, sagt er.

„Sehr scharfsinnig“, brumme ich. „Hilf mir lieber beim Aufwischen.“

Er tut es, weil er heute seinen gutmütigen Tag hat, wie er mir erklärt. August hilft mit. Kukirol, unser Papagei, sitzt auf seiner Stange und küsst in die Luft. Das macht er oft, wenn er Hunger hat.

Ich schäle eine Banane und reiche ihm ein Stück. Er reißt es mir sofort aus der Hand.

Dann kommen sie alle auf einmal: Kathi, unsere Mutter, und Chris, unser Vater. Großvaters Kombi hält vor dem Haus, und Mick Pflaumers Kopf erscheint hinter dem Küchenfenster. Außerdem klingelt das Telefon.

„Geht mal einer hin?“, schreit Dani und fuchtelt mit dem Spüllappen in der Luft herum. Der Lappen ist voller Spagettisoße und sieht aus, als wollte er damit ein Zimmer für einen Gruselfilm ausmalen.

Es ist Frau Pflaumer, die wissen will, wie es Sammeli geht. Wir rufen Mick herein. Er nimmt den Hörer und sagt, dass es wohl noch eine Weile dauern wird und dass sie vorerst zu Hause bleiben kann. „Wir rufen dich an, wenn’s so weit ist“, verspricht er noch.