Buchcover

Ursula Isbel-Dotzler

Als Fanny ihr Pony fand

SAGA Egmont




„Laßt mich hierbleiben!“

So oft hatte ich schon gedacht, daß ich tausendmal lieber auf dem Land leben würde als in der Stadt. Doch das vergaß ich völlig, als es passierte.

Ich ahnte nicht, was auf mich zukam, bis meine Eltern es mir an einem Abend im April sagten. Draußen regnete es, daran erinnere ich mich noch.

Wir saßen am Eßtisch, und ich stocherte in meinem Gemüseauflauf herum.

Da sagte mein Vater: „Fanny, wir müssen mit dir reden. Es gibt eine große Veränderung in unserem Leben.“

Fanny, das bin ich. Es klang sehr feierlich, wie er das sagte. Immer wenn mein Vater aufgeregt ist, blitzen seine Brillengläser auf besondere Weise. Ich weiß nicht, woher das kommt. Diesmal blitzten sie wie verrückt.

Meine Mutter saß dabei und schälte einen Apfel. Sie sah mich nicht an.

„Wir hätten es dir vielleicht längst sagen sollen“, fuhr mein Vater fort. „Aber es war alles so ungewiß. Wir wollten dich nicht beunruhigen …“

Ich fragte mich, was es sein mochte und warum er so lange um den heißen Brei herumredete. Doch das ist seine Art. Umständlich.

„Die Firma entläßt in diesem Frühjahr mehr als hundert Leute“, sagte er. „Unter anderem werde auch ich entlassen. Ich kriege zwar eine Abfindung, aber … jedenfalls war ich gezwungen, mir eine neue Arbeit zu suchen.“

Ich schob ein Stück Lauch an den Tellerrand. Lauch mag ich nicht. „Wie lange weißt du’s schon?“ fragte ich.

Mein Vater räusperte sich. „Seit Weihnachten“, sagte meine Mutter.

Ich war nicht besonders überrascht. Ich bin es gewöhnt, daß meine Eltern Dinge vor mir verheimlichen. Sie glauben, daß es besser für mich ist, nicht alles zu wissen.

In einer Viertelstunde kam meine Lieblingsserie im Fernsehen. Sie handelte von einem Mädchen und seinem Pferd. Wenn ich ganz ruhig zuhörte und meinen Vater nicht unterbrach, war er vielleicht bald fertig, und ich konnte mir Wildfeuer ansehen.

„Wir müssen umziehen!“ sagte er.

Ich dachte, er meinte in eine andere Wohnung. In eine andere Straße oder so ähnlich. Doch so war es nicht. Er erklärte mir, daß wir aus unserer Stadt wegziehen mußten, weil es hier keine „adäquate“ Arbeit für ihn gab. Was adäquat bedeutet, wußte ich nicht, aber ich fragte nicht nach.

Mein Vater erklärte und erklärte und erklärte, wie schwierig es sei, eine gute Stellung zu finden, die seiner Ausbildung entsprach. Er redete vom Arbeitsmarkt und von Finanzen und wie teuer alles sei.

Schließlich hob meine Mutter den Kopf und sagte: „Wir ziehen nach Bayern, Fanny. Vater hat einen Job in Traunstein angeboten bekommen. Und Tante Bea hat ein Reihenhaus in einem Dorf für uns gefunden, das wir mieten können.“

Ich kann nicht sagen, was ich fühlte. In meinem Kopf war es ganz leer. Aber mein Herz klopfte wild.


Nachts konnte ich nicht schlafen. Die Gedanken waren wie ein wuselnder Ameisenhaufen. Ich dachte vor allem an Mona.

Mona ist meine beste Freundin. Am ersten Schultag saßen wir nebeneinander. Seitdem sind wir befreundet. Mit Mona kann ich über alles reden. Sie hilft mir beim Rechnen, und ich helfe ihr bei der Rechtschreibung. Mona liebt Tiere genauso wie ich. Sie ist stark und mutig, obwohl sie nicht besonders groß ist. Einmal prügelte sie sich beinahe mit einem Jungen, der versuchte, mich anzumachen.

Ich werde sie nie Wiedersehen! dachte ich. Höchstens einmal oder zweimal im Jahr, in den Ferien. Ich werde ganz allein sein. Mona kann in unserer Schule bleiben, aber ich werde niemanden kennen, keinen Menschen. Die Leute werden bayerisch reden, und ich werde sie nicht verstehen. Ich komme an einen völlig fremden Ort, unter lauter fremde Menschen.

Tante Bea war die einzige, die ich dort kannte. Sie lebte auch in dem Dorf, in dem meine Eltern das Haus mieten wollten. Tante Bea war selbst erst vor einem Jahr nach Erlbach gezogen, wie der Ort hieß. Vorher hatte sie in Stuttgart gewohnt. Seit ich aus dem Kindergarten gekommen war, hatte uns Tante Bea zweimal besucht. Besonders gut kannte ich sie also auch nicht.

Erst als ich spürte, wie naß mein Gesicht war, merkte ich, daß ich weinte. Ich versuchte an irgend etwas zu denken, das mich trösten konnte, doch mir fiel nichts ein.

Am nächsten Morgen sagte ich beim Frühstück: „Also, ich hab mir das überlegt. Ich mag nicht mit nach Bayern ziehen. Laßt mich hierbleiben, bitte! Vielleicht kann ich ja bei Mona wohnen.“

Mein Vater stellte seine Kaffeetasse ab. Sie klirrte. Mutti sah erschrocken aus. „Aber Kind!“ erwiderte sie. „Das geht nicht! Du gehörst doch zu uns! Wir können dich nicht einfach hier zurücklassen …“

„Hör mal zu, Fanny“, sagte mein Vater mit blitzenden Brillengläsern. „Ich verstehe ja, daß der Gedanke an den Umzug schwer für dich ist. Es ist für uns alle eine große Umstellung. Aber in ein paar Monaten wirst du dich in Erlbach schon zu Hause fühlen. Du wirst neue Freunde finden.“

Das klang, als wären Freunde etwas, was einfach so an jeder Straßenecke auf einen wartet. Mit zitternder Stimme antwortete ich: „Ich will aber keine neuen Freunde! Mona ist meine Freundin. Ich möchte mit ihr zusammenbleiben. Und ich mag nicht in eine neue Schule gehen, wo ich keinen kenne.“

Ich fing an zu schluchzen, obwohl ich das gar nicht wollte. „Ich werde ganz allein sein. Nein, ich bleibe hier, ich gehe einfach nicht mit!“

Dabei wußte ich genau, daß mir gar nichts anderes übrigbleiben würde, als mitzukommen. Sie konnten mich dazu zwingen, wenn sie wollten. Kinder und Jugendliche haben kein Recht, zu bestimmen, wo sie wohnen wollen. Sie müssen dort leben, wo ihre Eltern sind.

Die beiden wechselten einen Blick. Mein Vater wollte etwas sagen, doch meine Mutter schüttelte leicht den Kopf. Sie streckte die Hand aus und streichelte meine Wange.

„Es geht nicht anders, Mäuschen“, sagte sie. So hatte sie mich früher immer genannt, als ich noch klein war. „Mach es uns doch nicht noch schwerer, als es schon ist! Wir müssen umziehen, wir haben keine andere Wahl. Und du wirst nicht allein sein. Tante Bea wird ganz in unserer Nähe wohnen. Du kannst tagsüber zu ihr gehen, so oft du willst. Und sie hat eine Katze.“

Ich mag Katzen, aber in diesem Augenblick dachte ich: Ich scheiß auf Tante Beas Katze! Und auf Tante Bea. Und auf Bayern.

Das schwarze Loch tut sich auf

Mona kam erst in letzter Minute zur Schule, als es schon klingelte. So konnte ich nicht mehr mit ihr über alles reden. Sie war ganz außer Atem.

„Ich muß dir was erzählen!“ flüsterte ich.

Frau Berger-Fink, unsere Geschichtslehrerin, warf mir einen strengen Blick zu. Sie kann es nicht leiden, wenn man während ihrer Stunde redet.

Mona flüsterte zurück. „Ist was passiert?“

Und Frau Berger-Fink sagte: „Wenn ihr etwas zu besprechen habt, Fanny und Mona, dann tut das bitte beim Stundenwechsel. Ihr stört meinen Unterricht.“

Am Schluß der Stunde verkündete sie, daß wir Anfang Juni eine Klassenfahrt nach Franken machen durften. Dort gab es in irgendeiner Burg ein Museum für Völkerkunde, das wir besuchen sollten.

Es gab mir einen richtigen Stich. Ich dachte: Anfang Juni werde ich schon nicht mehr hier sein. Sie werden ohne mich fahren, Mona und alle anderen.

Es war komisch. Mona fand das mit dem Umzug gar nicht so schlimm. „Wir schreiben uns viel!“ sagte sie. „Und ab und zu telefonieren wir. Und in den Ferien besuchst du mich, und ich besuche dich. Das wird toll!“

Vielleicht wollte sie mich ja nur trösten?

Ich starrte sie an. „Aber … Briefschreiben ist doch nicht das gleiche, wie wenn man sich jeden Tag sieht! Und Ferien gibt’s bloß alle paar Monate. Und … irgendwann findest du eine neue Freundin und vergißt mich!“

Das war die allerschlimmste Vorstellung. Ich wünschte mir so, daß Mona gesagt hätte: So was wird nie passieren, ich schwör’s! Großes Ehrenwort!

Doch sie antwortete nur: „Nein, ich vergesse dich bestimmt nicht, auch wenn ich zehn andere Freundinnen hätte. Du findest sicher auch in Bayern eine neue Freundin. Aber das heißt dann doch nicht, daß ich dir nicht mehr wichtig bin, oder?“

Am liebsten hätte ich meine Schulmappe genommen und wäre auf und davon gegangen. Doch da fing schon die nächste Stunde an. Wir hatten Mathematik. Ich kapierte überhaupt nichts, kein einziges Wort und schon gar keine Zahl. Ich fühlte mich wie jemand, der in einem tiefen schwarzen Loch sitzt, aus dem er nicht hinaussehen kann.

Mona sah mich ab und zu von der Seite an und lächelte mir zu, aber das änderte nichts. Ich kam mir schrecklich allein vor in meinem schwarzen Loch. Ich war auch sicher, daß ich da nie mehr herauskommen würde, nie wieder.

In der Pause gingen wir zwischen zwei Regenschauern auf den Schulhof. Alle standen in Gruppen beisammen und lachten und schrien. Nur mir ging es schlecht. Jedenfalls fühlte es sich so an. Mona sagte:

„Häng doch nicht so rum, Fanny! Wenn ich in ein Dorfim Gebirge ziehen dürfte, würde ich drei Luftsprünge machen. Weißt du, was ich dann täte? Ich würde mir ein Pferd anschaffen!“

„Wir ziehen nicht auf einen Bauernhof, sondern in ein Reihenhaus!“ erwiderte ich mürrisch.

„Oder einen Hund. Dann würde ich endlich einen Hund kriegen!“

„Meine Eltern wollen keinen Hund. Sie sagen, man ist so angebunden, und daß wenigstens einer den ganzen Tag zu Hause sein müßte.“

„Einen Hund kann man schon mal ein paar Stunden alleinlassen. Wenn du von der Schule kommst, kannst du ja mit ihm Spazierengehen. Wenn man einen Garten hat, ist das doch ganz einfach!“

„Sag das mal meinen Eltern“, erwiderte ich.

Ich hatte das Gefühl, daß mich nicht einmal Mona verstand.

Nachmittags mochte ich nicht wie sonst mit Mona zum Schwimmen ins Hallenbad gehen, obwohl wir das jeden Montag taten, zusammen mit Jens und Birge. Bald würde ich sowieso nicht mehr beim Schwimmen dabei sein. Was hatte es also für einen Sinn, jetzt noch mitzukommen?

„Hab keine Lust“, sagte ich zu Mona. „Geht ohne mich!“

Sie sah mich wieder von der Seite an, mit forschendem Blick. „Und später?“ fragte sie. „Magst du später noch zu mir kommen? Wir wollten doch zusammen Schularbeiten machen.“

Ich murmelte: „Weiß noch nicht. Kann sein, daß ich komme, kann aber auch nicht sein.“

Mona nickte nur. Sie gehört nicht zu denen, die versuchen, andere zu etwas zu überreden. Eigentlich mag ich das an ihr. Aber an diesem Tag wäre es mir lieber gewesen, sie hätte es getan.

Ich haßte alles und jeden, als ich heimwärts ging. Auch mich selbst. Zu Hause wartete keiner auf mich. Deshalb machte ich einen Abstecher in den Park und setzte mich auf eine Bank, obwohl es regnete.

Hier bleibe ich jetzt und stehe nie wieder auf, bis ich sterbe! dachte ich.

Die Typen mit den Lederhosen

Zwei Wochen später führen meine Eltern nach Bayern, um sich das Haus anzusehen und den Mietvertrag zu unterschreiben. Sie wollten bei Tante Bea übernachten. Ich sollte mitkommen, aber ich sagte, ich könnte nicht, weil ich eine wichtige Matheprobe hätte.

Das stimmte sogar. Normalerweise hätte ich nichts lieber getan, als wegzufahren und die Prüfung zu versäumen. Doch in diesem Fall zog ich die Prüfung vor. „Es ist sehr wichtig! Ich kann unmöglich weg!“ behauptete ich.

„Dann mußt du die Probe nachholen“, meinte mein Vater.

„Das geht nicht. Wir wissen ungefähr, was drankommt, und ich hab mich darauf vorbereitet. Sonst muß ich wieder von neuem büffeln. Das schaffe ich einfach nicht!“

Das sahen sie ein. Sie überlegten, ob sie die Reise verschieben sollten. Doch der Hausbesitzer sagte am Telefon, er hätte eine Woche später keine Zeit. Also baten sie Frau Schulzeck, in unserer Wohnung zu übernachten, damit ich nicht allein bleiben mußte. Frau Schulzeck ist unsere Putzfrau. Ich fand das albern. Mit elf kann man wohl mal zwei Nächte allein verbringen.