3Geschichte
des politischen Denkens

Das 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Manfred Brocker

Suhrkamp

11Vorwort

Politisches Denken wird auf vielfältige Weise von bestehenden politischen, sozialen, ökonomischen und religiös-kulturellen Verhältnissen sowie historischen Entwicklungen und Ereignissen beeinflusst. Es lebt im Spannungsfeld von Ideen, Interessen und Mentalitäten, von Machtnetzwerken, Diskursformationen und gesellschaftlichen Strukturen. Es ist insofern nicht kontextlos, ist weder »reine Idee« noch bloßer »Überbau«. Es sucht die deutende Distanz zur sozialen und politischen Welt, gleichzeitig wirkt es verändernd auf sie ein. Der vorliegende Band verfolgt die Geschichte des politischen Denkens im 20. Jahrhundert anhand von 62 Texten, die sich in dieser Hinsicht als besonders dicht und wirkmächtig erwiesen haben. Sozialwissenschaftliche und philosophische Texte sind ebenso vertreten wie politische, theologische und ideologische. In ihrer Vielstimmigkeit und globalen Spannbreite beleuchten sie die widersprüchliche Geschichte des vergangenen Jahrhunderts. Kriege, Völkermord, koloniale Unterdrückung und Ausbeutung prägten es ebenso wie forciertes Eintreten für Menschenrechte und Demokratie, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit sowie eine wissenschaftlich-rational begründete Politik.

Damit sind die wesentlichen gestaltgebenden Züge des 20. Jahrhunderts bereits benannt. Europäisch-amerikanischer Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus prägten seine Anfänge. Um das Jahr 1900 stand Europa im Zenit seiner Macht. Die Industrialisierung mit hohen Wachstumsraten der gewerblich-industriellen Produktion hatte zu ungeahntem Reichtum geführt. Neben den traditionellen Kolonialmächten Großbritannien, Frankreich, Spanien, Portugal, den Niederlanden und Russland beteiligten sich jetzt auch neue, aufstrebende Mächte (neben den USA und Japan das Deutsche Reich, Belgien und Italien) am Wettlauf um die Aufteilung der Welt. Der zunehmende Konkurrenzkampf um Rohstoffe und Absatzmärkte für die heimische Industrie trieb die Kolonialmächte zu immer neuen Eroberungsanstrengungen und Expansionen. Um 1900 hatten sie sich weltweit etwa die Hälfte allen verfügbaren Landes angeeignet.

Nicht zuletzt aufgrund dieser Politik stieg das Volkseinkom12men, gleichzeitig verschärften sich die innergesellschaftlichen Verteilungskämpfe. Hinzu traten ethnisch-nationalistisch und religiös geprägte Konflikte. Zwar bildeten sich zwischen 1828 und 1926 in einer zunehmenden Zahl von Staaten weltweit demokratische Strukturen heraus (Samuel P. Huntington spricht von einer »ersten Demokratisierungswelle«, die Länder wie Australien, Deutschland, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Neuseeland, Österreich, Portugal, Spanien und die USA erfasste), doch gerieten diese angesichts der vielfältigen nationalen wie internationalen Spannungen unter Druck und hielten oft nicht stand (»erste autokratische Gegenwelle«: 1922 bis 1942). Bereits mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges war die Hoffnung auf eine friedliche, demokratisch geprägte Zukunft weitgehend obsolet geworden. In zahlreichen Ländern führten die anhaltenden Konflikte zu einem Sieg der extremen Linken oder Rechten, die den demokratischen Widerstreit beendeten und diktatorische Strukturen schufen. Der viele Jahre andauernde erbitterte Kampf um Vorherrschaft zwischen liberal-demokratischen, sozialistischen und faschistischen Staaten, Parteien und Positionen kulminierte schließlich im Zweiten Weltkrieg, der – ausgelöst von Nazi-Deutschland und Japan – 60 bis 70 Millionen Menschen das Leben kostete.

Erst nach seinem Ende und dann mit dem Epochenjahr 1989 verschwanden die meisten Diktaturen wieder. So erlebte das 20. Jahrhundert neben der bereits genannten noch zwei weitere »Demokratisierungswellen«. Die eine begann 1943 (nach Mussolinis Fall) und endete 1962 (mit Jamaikas Unabhängigkeit). Eine von 1958 bis 1975 dauernde zweite »autokratische Gegenwelle« erfasste zwar auch zahlreiche zuvor demokratisierte Länder (wie Argentinien, Brasilien, Griechenland, Indonesien und Pakistan), doch die anschließende »dritte Demokratisierungswelle« war deutlich höher als die beiden vorherigen Gegenwellen und schien der Demokratie endgültig zum Durchbruch zu verhelfen. Sie begann nach Huntington 1974 mit der »Nelkenrevolution« in Portugal und gelangte schließlich bis Anfang der 1990er Jahre in mehrere Dutzend weiterer Länder (Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Norman, Ok. 1991). Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der demokratischen Transformation der politischen Systeme des Ostblocks brach sich gar die Hoffnung Bahn, das »Ende der Geschichte« sei erreicht 13oder werde bald mit dem Sieg der liberalen Demokratie (verbunden mit Frieden und Freiheit) erreicht werden. Darin mochte man dem Hegelianer Francis Fukuyama folgen (Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992). Doch spätestens mit den ethnisch-nationalistisch und religiös geprägten Jugoslawienkriegen und den Terroranschlägen islamistischer Gruppierungen sah es vielen eher nach einem »Neuanfang« der Geschichte und einem globalen »Kampf der Kulturen« aus – wie Huntington seine spätere gegen Fukuyama gerichtete Schrift nannte – als nach einem universalen und endgültigen Sieg der liberaldemokratischen Ordnungsidee (Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996). Es bleibt abzuwarten, ob es in diesem Zusammenhang nun auch zu einer umfassenden dritten »autokratischen Gegenwelle« kommen wird.

Denn an der Schwelle zum 21. Jahrhundert erweist sich die weltpolitische Lage als unübersichtlich. International spricht vieles für eine neue »Weltunordnung«, die geprägt ist durch zunehmend aggressive Reaktionen in Teilen der Welt auf die anhaltende kulturelle, ökonomische und politische Hegemonie des Westens (dessen freiheitlich-demokratische Wertvorstellungen in Frage gestellt und relativiert werden), aber auch durch zahlreiche ethnisch-religiös geprägte regionale Konflikte und die Machtansprüche aufstrebender Mittelmächte. Auch innenpolitisch geraten viele Demokratien erneut unter Druck, nicht zuletzt durch einen »Populismus«, der sich die Verunsicherung von Teilen der Bevölkerung zunutze macht, die durch die politische Unübersichtlichkeit – im wachsenden Geflecht von regionalen, nationalen, suprastaatlichen und internationalen Einrichtungen und Zuständigkeiten –, durch Globalisierung, Digitalisierung und Migration entstanden ist.

Wird das 21. Jahrhundert besser für die zahlreichen politischen Herausforderungen gerüstet sein als das 20. Jahrhundert? Immerhin hat die sozialwissenschaftliche Forschung in vielfältiger Hinsicht die Wissensvoraussetzungen hierfür geschaffen. Trotz aller Vorläufer und Vorarbeiten in den vergangenen zweieinhalbtausend Jahren hat das 20. Jahrhundert erkennbare Fortschritte im Feld der ökonomischen und politischen Theorie gemacht und eine Vielzahl neuer empirischer Erkenntnisse gewonnen. So wissen wir heute sehr viel mehr über die Funktionsweisen und Funktionsvoraussetzungen von Demokratie, die sozialen und ökologischen Folgen 14der wirtschaftlichen Entwicklung oder das Internationale System. Daneben hat die Politische Philosophie spätestens mit John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1971) eine Wiedergeburt erfahren und ist heute in der Lage, politisches Orientierungswissen zur Verfügung zu stellen, so kontrovers auch immer darüber diskutiert werden mag. Sie hat dazu beigetragen, die Argumente im Kampf für Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Toleranz und Anerkennung begrifflich zu schärfen, und nicht zuletzt für die Auseinandersetzung mit politischen und religiösen Ideologien ein wichtiges Handwerkszeug geliefert.

Parallel zur Sozial- und Ereignisgeschichte des vergangenen Jahrhunderts verläuft also eine Wissenschafts- und Denkgeschichte, die sich um (sozial-, rechts- und wirtschafts-)wissenschaftliche wie philosophisch-normative Antworten auf die Herausforderungen der Zeit bemüht, indem sie die gegebenen Verhältnisse und Entwicklungen reflektiert, sie beeinflusst und verändert. Abgedeckt wird im vorliegenden Band das breite Spektrum der hier relevanten Positionen: Neben zentralen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten aus der empirisch-analytischen Tradition findet das liberale und libertäre, das kommunitaristische, anarchistische, sozialdemokratische und sozialistische, das feministische, poststrukturalistisch-dekonstruktive und postkoloniale Denken Berücksichtigung. Zu Wort kommen schließlich aber auch jene Autoren, deren Publikationen diktatorische Ambitionen unterstützten, Kriege legitimierten und die Ermordung ganzer Völker oder Klassen ideologisch rechtfertigten. Denn auch sie sind Teil der Geschichte des 20. Jahrhunderts, des »Zeitalters der Extreme« (Eric Hobsbawm), in das der Totalitarismus ebenso eingeschrieben ist wie der Kampf für Gerechtigkeit und die Bewahrung der Humanität. Insofern gibt die rekonstruierende und kritische Lektüre der Texte nicht nur Einblicke in die »Geschichte des politischen Denkens«, sondern auch in die Geschichte des 20. Jahrhunderts selbst.

Der Titel des Buches greift die im englischen Sprachraum gebräuchliche Bezeichnung »History of Political Thought« auf und ersetzt damit die in Deutschland verbreitete, aber verengende Vorstellung von »Ideen«-Geschichte. Er trägt einer breiten und inklusiven Herangehensweise Rechnung, die alle Texte zum Gegenstand der Forschung macht, die politische Fragen reflexiv behandeln, 15eine entsprechende Relevanz besitzen und über eine Region oder Nation hinaus wirkmächtig geworden sind. So entsteht eine Geschichte politischer Denkkonzepte, die aufgegriffen, interpretiert, weiterentwickelt oder verworfen wurden.

Die Auswahl der Schriften erfolgte im Dialog mit einer Vielzahl von Fachkolleginnen und -kollegen. Nicht jede Leserin und jeder Leser wird ihr zustimmen. Weitere Texte hätten berücksichtigt werden können, vielleicht müssen, allein die Umfangsbegrenzung des von Anfang an einbändig geplanten Handbuchs ließ dies leider nicht zu. Die geneigte Leserschaft kann aber im ersten Band der Geschichte des politischen Denkens weitere Texte aus dem 20. Jahrhundert besprochen finden (Manfred Brocker, Geschichte des politischen Denkens: Ein Handbuch, Frankfurt/M. 42012). Jener Band enthält insgesamt 53 Interpretationen von Werken aus zwei Jahrtausenden, von der Antike bis zur Gegenwart. Das 20. Jahrhundert ist darin mit 22 Beiträgen breit vertreten, etwa zu Max Webers Politik als Beruf (1919), John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (1971), Iris Marion Youngs Justice and the Politics of Difference (1990), Jürgen Habermas’ Faktizität und Geltung (1992) und Charles Taylors Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (1992). Um einen umfassenderen Eindruck vom politischen Denken im 20. Jahrhundert zu bekommen, stehen somit nun insgesamt 84 Textanalysen zur Verfügung.

Für die Kapitel des vorliegenden Bandes hat der Herausgeber erneut Kolleginnen und Kollegen gewinnen können, die ausgewiesene Experten für die ausgewählten Schriften und deren Autorinnen und Autoren sind. Sie wurden wie die Mitwirkenden des ersten Bandes gebeten, die jeweiligen Texte noch einmal neu zu lesen und ihre Kontexte, Inhalte, Intentionen und Wirkungen auf etwa 15 Seiten allgemein verständlich darzustellen.

Die Texte werden in chronologischer Reihenfolge behandelt. Den Auftakt macht Kropotkins anarchistische Grundlegungsschrift Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt von 1902, das Ende markiert Colin Crouch mit seiner Theorie der Postdemokratie (2003), die bereits in das 21. Jahrhundert hineinragt und eine Diskussion angerissen hat, die uns noch heute unmittelbar beschäftigt.

Die Darstellungen folgen einem einheitlichen Muster: Im Kopf des jeweiligen Beitrages steht der Name des Autors bzw. der Au16torin, gefolgt vom Titel des jeweils besprochenen Werkes. Unter diesen Angaben findet sich in Klammern die Jahreszahl der Erstveröffentlichung. Dann folgen kursiv die vollständigen bibliographischen Angaben zur jeweiligen Quelle. Die anschließenden Seiten liefern nach einer kurzen werkbiografischen und zeithistorischen Einordnung eine kritische Analyse der jeweiligen Schrift, gefolgt von einem kurzen Überblick über ihre Rezeptionsgeschichte und ihre aktuelle Bedeutung.

Um die Lesbarkeit zu erhöhen, verzichtet der Band auf Fußnoten. Nötige Belege für wörtliche Zitate und Verweise auf die Forschungsliteratur werden in Klammern im Text eingefügt. Autorennamen, Jahreszahl und Seitenangaben verweisen dabei entweder auf die im Artikelkopf genannte Quelle oder auf die Sekundärliteratur, die am Ende des jeweiligen Kapitels aufgeführt ist und die den Leserinnen und Lesern auch für ein weiterführendes Studium hilfreich sein kann.

Das Buch hätte ohne das Engagement der vielen Mitwirkenden nicht zustande kommen können. Mein Dank gilt vor allem den Kolleginnen und Kollegen für ihre Beiträge, ihr Verständnis für die strikten formalen und zeitlichen Vorgaben und für ihre Geduld bei der Überarbeitung und Drucklegung. Herzlich danken möchte ich auch den studentischen Hilfskräften und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl für Politische Theorie und Philosophie, insbesondere Regina Retter und Anna Tomashek, für ihre organisatorische und redaktionelle Unterstützung. Zuletzt, aber nicht minder, danke ich dem Lektor des Suhrkamp-Verlages, Philipp Hölzing, für seine kompetente Betreuung des Gesamtprojekts.

Eichstätt, im September 2017 Manfred Brocker