Über Didier van Cauwelaert

Didier van Cauwelaert, 1960 in Nizza geboren, schreibt seit seiner Jugend. Seine Bücher wurden mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, für den Roman »Das Findelkind« erhielt er den Prix Goncourt. Seine Werke sind in über zwanzig Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschienen zuletzt sein Roman »Die Erscheinung« (2007) und »Die Jesus-Formel. Auf der Suche nach dem heiligen Gen« (2006). Der Autor lebt in Paris.

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Zigeuner stehlen ein Auto, in dem ein kleines Kind schläft. Sie nehmen den Jungen auf, taufen ihn Aziz, besorgen ihm einen marockanischen Pass, bilden ihn zum Spezialisten für den Diebstahl von Autoradios aus. Jahre später wird Aziz verhaftet, unter großem Medienspektakel schiebt man ihn in seine »Heimat« ab – die ihm ebenso fremd ist wie dem »Attaché für Humanitäres«, der ihm bei seinem Neuanfang pressewirksam zur Seite stehen soll. Doch bald wird sich herausstellen, wer hier wem zu einem neuen Leben verhilft.

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Didier van Cauwelaert

Das Findelkind

Roman

Aus dem Französischen
von Veronika Cordes

Inhaltsübersicht

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Impressum

Ich habe meine Laufbahn als Findelkind wider Willen begonnen. Als Zugabe zum gestohlenen Auto, um genau zu sein. Man hatte mich am Fußgängerüberweg geparkt, und wann immer ich in den folgenden Jahren meinen Teller nicht leer aß, sagte Mamita, der Abschleppdienst würde kommen und mich holen. Dann aß ich derart hastig, dass ich mich anschließend übergeben musste, was auch wiederum sein Gutes hatte; es bewahrte mich davor, Gewicht anzusetzen. Ich war und blieb ein für alle Mal der Adoptierte.

Den Tsiganes ist das Kind heilig. Aus Prestigegründen soll es so pummelig wie möglich sein; von null bis vier Jahren ist es ein König – danach kommt es allein zurecht. Ich bin zurechtgekommen, ohne König gewesen zu sein: ich stürzte aus geringerer Höhe ab, ich fiel nicht auf, ich hielt den Mund, ich war der Magerste. Wenn es einem gelingt, nicht beachtet zu werden, schafft man das.

Häufig kam nachts der Kranwagen des Abschleppdiensts und brachte mein nicht vorschriftsmäßig geparktes Auto zum Schrottplatz, und ich wurde unter dem Blech zermahlen. Zum Glück gab es im Wohnwagen von Mamita immer einen plärrenden König; der unterbrach den Traum in dem Augenblick, da ich noch lebte, und ich konnte wieder einschlafen. Ich wusste, dass ich in Sicherheit war, mollig warm zwischen diesen dicken Kindern mit ihren Ketten und Medaillons, die im Dunkeln klimperten. Und umso dankbarer, dass mein Schicksal, wie man mir ständig vorhielt, mit einer einzigen Stimme im Ältestenrat entschieden worden war. Der des alten Wasil, des Rom, der mich hatte mitgehen lassen, ohne mich, der ich in meiner Tragetasche auf der Rückbank inmitten von Weihnachtseinkäufen schlief, zu bemerken. Bei den Manouches, die mich zurückbringen wollten, hatte er sein ganzes Gewicht in die Debatte geworfen. Da sich im Handschuhfach keine Papiere gefunden hatten, glaubte er, ich sei ein Fingerzeig des Himmels. Man hat ihm nicht widersprochen, weil er damals schon sehr alt war, und nach unseren Bräuchen bringt man einem vertrottelten Greis Respekt entgegen.

Das Auto war ein Citroën Ami 6, deshalb hat man mich Ami 6 genannt. Da komme ich also her. Im Laufe der Zeit hat sich mein Name zu Aziz abgeschliffen, der Einfachheit halber. Mamita, die in Rumänien geboren und dort von den Nazis sterilisiert wurde, hielt das Kürzel von Anfang an für eine dumme Idee, weil ich als Kleinkind typisch französisch aussah und ihrer Ansicht nach Namen abfärben. Mir ist das egal. Ich bin gern Araber, weil wir so viele sind und man mich in Ruhe lässt. Seit ich mich mit Autoradios befasse und für den Fall einer Verhaftung falsche Papiere brauchte, besitze ich sogar einen Familiennamen: Kemal. Woher der stammt, weiß ich nicht. Vielleicht war K gerade an der Reihe.

Hin und wieder dachte ich an meine leiblichen Eltern, die, wie wohl angenommen werden darf, Anzeige erstattet und auf eine Lösegeldforderung gewartet und die Hoffnung nicht aufgegeben haben, solange man meine Leiche nicht gefunden hatte. Eines Tages, nahm ich mir vor, würde ich eine kleine Annonce in den Provençal setzen: »Kind, zu Weihnachten aus einem Ami 6 gestohlen, sucht seine Eltern. Zuschriften an Aziz Kemal, blauer Estafette-Kombi gegenüber Volkswagen-Pizza-Stand Chez Moi, Vallon-Fleuri, Marseille-Nord.« Nur dass ich das immer wieder auf später verschob. Wenn man es geschafft hat, in einer Familie mehr oder weniger akzeptiert zu sein, ist man nicht unbedingt scharf darauf, sein Schicksal ein zweites Mal aufs Spiel zu setzen. Lieber verharrte ich im Ungewissen und bewahrte mir den Traum. Ohne zu wissen, woher ich kam, war ich froh, da zu sein.

Oft malte ich mir aus, ich wäre der Sohn eines Stürmers von Olympique Marseille, dem die Reparaturwerkstatt für die Zeit, in der sein Mercedes überholt wurde, einen Ami 6 zur Verfügung gestellt hatte. Ein andermal war ich der Erbe der Kernseifenfabrik. Oder der Jüngste einer zwölfköpfigen Hafenarbeiterfamilie, die sich mit der Arbeitslosenunterstützung ihres Ernährers durchschlagen muss. An Regentagen redete ich mir ein, man habe für mich einfach ein weiteres Kind in die Welt gesetzt.

Und dann, mit achtzehn Jahren, sind sie mit der Wahrheit herausgerückt. Einer anderen Wahrheit – ob grausamer oder erträglicher, kann ich nicht beurteilen. Der alte Wasil hatte meinen Ami 6 gar nicht geklaut: Er hatte ihn mit seinem Pizzastand gerammt, bei dem Versuch, ihn regelwidrig in der Kurve von Frioune zu überholen. Beide Eltern auf der Stelle tot. Er hatte mich aus dem Wrack gezogen, bevor es explodierte, und, na ja, alles Weitere kannte ich bereits. Wasil war nie darüber hinweggekommen; weder hatte er sich jemals wieder ans Steuer gesetzt noch seinen Ofen angeworfen; deshalb hatte ich seinen VW-Kombi immer nur aufgebockt erlebt, von Efeu überwuchert und mit einer Muttergottes im Pizza-Ofen.

Anfangs war ich zutiefst gerührt, dass alle in der Siedlung mir die ganze Zeit über etwas vorgemacht hatten, um mir den Kummer zu ersparen – aber auch ein wenig gekränkt. In meinem schönsten T-Shirt bin ich zu Wasil gegangen und habe ihm in aller Form gedankt, dass er mir das Leben gerettet hat. Worauf er einen völlig verschrumpelten Finger aus seinem Umhang gestreckt und mit Grabesstimme, den Blick ins Leere gerichtet, verkündet hat:

»Gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater, durch Ihn ist alles geschaffen.«

Das musste ein Rätsel sein, und ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Aber er war inzwischen derart verkalkt, dass man ihn nur noch zu den Feiertagen hinausbrachte, und vielleicht gab es auch gar keine Antwort.

Natürlich habe ich um meine Eltern getrauert. Auch wenn es schwerfällt, jemanden, den man nicht kennt, zu beweinen. Ich habe mich schließlich damit getröstet, dass ihnen jedenfalls erspart geblieben war, sich meinetwegen Sorgen zu machen. Was mir in den darauffolgenden Monaten komischerweise vor allem gefehlt hat, war die kleine Annonce, die ich in Gedanken so oft vor dem Einschlafen für sie verfasst hatte und die ich jedes Mal weiter ausgeschmückt, verschönert, besser formuliert hatte. Das kleine Inserat, das ich immer im Herzen tragen wollte, um es eines Tages aufzugeben, für den Fall, dass. Ab sofort ergab es keinen Sinn mehr. Ich war, kurz gesagt, Waise.

Aber was soll’s, das Leben ging weiter. Ich war also in Marseille, notgedrungen als Marokkaner, mit gebührenpflichtiger Aufenthaltsgenehmigung, zahlbar jeweils bei Verlängerung. Wenn schon falsche Papiere, hätte man mir meiner Meinung nach gleich die französische Staatsbürgerschaft verpassen können, aber, ehrlich gesagt, war mir der Preis dafür zu hoch gewesen. Ich habe nun mal meine Prinzipien. Das Geld, das ich mit meinen Autoradios verdiene, liefere ich in der Siedlung ab. Es ist dazu da, meine Kindheit abzubezahlen, und nicht, um die Fälscher aus dem Panier zu mästen. Außerdem kann man sich nicht einfach eine Rasse erkaufen; das ist wie die Farbe der Augen oder das Wetter, eben alles, womit man es zu tun bekommt, ohne gefragt zu werden. Und wenn die Leute ein falsches Papier brauchen, um festzustellen, dass ich Franzose bin, dann bleibe ich lieber Araber. Ich habe auch meinen Stolz.

Der einzige Ort, an dem es allerdings für mich problematisch wird, ist das Fußballfeld. Unweigerlich überfällt mich dort das Gefühl, in einer Zwickmühle zu stecken. Wenn ich bei den Roms aus Vallon-Fleuri gegen die Beurs1 aus Rocher-Mirabeau spiele, komme ich mir wie ein Verräter vor. Dass ich Verrat begehe und mich gleichzeitig aufdränge: Ich weiß sehr wohl, dass mich die Tsiganes nicht als einen der Ihren betrachten. Ein Gadjo, ein Nichtzigeuner, kann zwar ein guter Mittelstürmer sein, bleibt aber weiterhin ein Gadjo, selbst wenn er ein Tor gegen seine Rasse schießt. Das ist der Grund, weshalb ich schließlich Schiedsrichter geworden bin.

Bei den handgreiflichen Auseinandersetzungen der einzelnen Siedlungen untereinander ist es einfacher: Instinktiv schlage ich mich stets auf die Seite meiner Adoptivfamilie, auch wenn ich denen von Rocher-Mirabeau nur ungern ans Leder gehe. Normalerweise erkennt man den Blutsbruder, wenn sein Blut fließt. Deshalb drücke ich mich meistens vor Schlägereien, auch wenn man mich deshalb für einen Feigling hält. Das kratzt mich aber nicht, solange das Mädchen, das ich liebe, sich nicht vor den anderen für mich schämt – wir ziehen uns bei solchen Gelegenheiten diskret zurück. Und das ist das Beste.

Lila ist neunzehn, wie ich. Wir kennen uns von Kindesbeinen an, nur müssen wir jetzt vorsichtig sein, wegen meiner Herkunft. Ihre Brüder haben ihr einen Manouche wie sie selbst zugedacht, einen waschechten aus Saintes-Marie, Rajko, einen Mercedes-Spezialisten. Wenn Lila und ich uns in der Siedlung begegnen, beschränken wir uns neuerdings auf ein »Guten Tag – Guten Abend«, ohne uns in die Augen zu schauen. Dafür nimmt sie einmal in der Woche die Micheline, den Triebwagen, ich schnappe mir einen Motorroller, und wir treffen uns in der Felsenbucht von Niolon, dem schönsten Fleckchen auf der Welt – bis dato, ich bin ja noch nie aus Bouches-du-Rhône herausgekommen.

Wie ihre Mutter liest Lila aus den Handflächen das Leben von anderen heraus. Alles, was sie mir über mich gesagt hat, ist, dass es mit mir bald aus ist, aber auch, dass mir eine Reise ins Ungewisse bevorsteht. Sie hat schwarzes Haar, feurige Augen, duftet wie die Linden im Juni und trägt knöchellange rote oder blaue Röcke, die hoch aufwirbeln, wenn sie tanzt – aber genug davon, angesichts der weiteren Ereignisse tut die Erinnerung zu sehr weh.

Hunderte Male hat sie mir von dem Land erzählt, aus dem sie kommt und das sie nie gesehen hat – Indien; sie hat mir von den Ritualen berichtet, den heiligen Kühen, den blumenbekränzten Scheiterhaufen, auf die man die Witwe bettet, wenn der verstorbene Gatte Ansehen genoss – ich hörte nicht wirklich zu. Ich höre überhaupt selten zu, ausgenommen in der Schule, und die besuche ich nicht mehr. Aber von dem Tag an, da wir miteinander schliefen – mit Rücksicht auf die Ehe, ihre Ehe, war ich angezogen, und sie wandte mir ihren Hintern zu –, war das alles bedeutungslos geworden. Wir waren frei und ganz allein auf der Welt, und ich fühlte mich endlich zu Hause. Sie hatte mir in ihrer Sprache »ich liebe dich« gesagt; ich selbst habe keine Sprache außer der, die ich spreche – keine eigene, meine ich, geheime –, deshalb habe ich nicht geantwortet, dafür jubelte mein Herz. Nach ihrer Hochzeit, so dachte ich, brauchten wir nicht länger Rücksicht zu nehmen, wir könnten uns von Angesicht zu Angesicht lieben.

Am Abend, beim geselligen Beisammensein, gedenkt jeder seiner Herkunft, seiner Traditionen, dem Land, in dem seine Wurzeln liegen, hadert mit dem rostfreien Stahl, der den Ruhm der Kalderasch zunichte gemacht hat, die alle Verzinner und Kupferschmiede vom Vater auf den Sohn waren, zählt zwischen zwei Gitarrenakkorden und drei Soli auf der Harmonika die Verfolgungen auf, die Pogrome und die Verordnungen der Gemeinde, die ihn, Wanderer im Geiste, dessen Wohnwagen auf Ziegel gebockt ist, in Vallon-Fleuri, Bouches-du-Rhône, haben stranden lassen. Ich sitze da und schweige, nicke respektvoll; meine Gedanken sind woanders. Es gefällt mir nicht, wo die anderen herkommen. Abgesehen von dem Ami 6 möchte ich nirgendwoher stammen und keine Geschichte haben, auch wenn es schmerzt, Einzelgänger zu sein.

So richtig glücklich war ich, als ich noch zur Schule ging. Glück bedeutete für mich, lernen zu dürfen. Mit den Wörtern und Zahlen dachte ich mir nur für mich eine andere Familie aus, die ich nach Lust und Laune umstellen, addieren, konjugieren, subtrahieren konnte, und alle verstanden mich. Wenn ich vorn an der Tafel die Schlachten und die Flüsse aufsagte, hörte man mir zu, als wäre dies meine ureigene Geschichte. Die Millionen Toten, die Überschwemmungen und der Hass der Menschen verwandelten sich in gute Noten. Die schönste Belohnung für mich war, etwas über die Struktur und das Klima eines Landes zu erfahren, nicht nur, weil das etwas Neues war, sondern einfach, weil es ein solches Land gab. Dabei war das nur ein Anfang: So vieles gab es noch zu lernen, genug für mein ganzes Leben.

Mitten in der sechsten Klasse jedoch musste ich die Schule verlassen, weil Vallon-Fleuri nichts von nutzlos durchzufütternden Mäulern hält. Bei uns liegt man mit fünf auf der Lauer und schaut zu, wie die anderen es machen, mit sieben klaut man die ersten Handtaschen, mit elf wird man »Lerche« und steht Schmiere – und hört mit der Schule auf. So ist das nun mal.

Monsieur Giraudy, mein Erdkundelehrer, hat gesagt, es täte ihm leid, dass ich aufhöre. Außerhalb des Unterrichts hatten wir nicht oft miteinander gesprochen, und solche Bemerkungen machen mich immer verlegen, weil ich nie so richtig ihren Sinn mitbekomme. Ich fühle mich dann wie ein Fisch, der an der Angel zappelt; unvergleichlich schöner ist es, ihm zuzusehen, wie er sich im Wasser tummelt. Monsieur Giraudy hat zu mir gesagt, das Leben sei ungerecht, und mit seinen fünfzig Jahren musste er es schließlich wissen. Anderswo, in anderen Vierteln von Marseille, so seine Worte, gebe es normale Schulen, ohne verschmierte Wände und Drogen und Gewalttätigkeiten und Scherben, und ich hätte Besseres verdient, weil mir das Lernen doch Freude mache. Das hat ihn wohl unendlich bekümmert, ich hatte noch nie jemanden erlebt, der derart traurig war, und ich sagte mir, dass es vielleicht ganz gut war, mit der Schule aufzuhören, wenn sie einen derart traurig macht.

Er hat mir Glück gewünscht und mir ein unglaubliches Buch geschenkt, einen Atlas von drei Kilo mit dem Titel Legenden aus aller Welt. Um nicht loszuheulen, habe ich geschwiegen, weil man mir eingebläut hatte: »Araber sein heißt stolz sein«, und gedacht: »Möge der Prophet dich auf all deinen Wegen begleiten.« Mit Religion hatte das nichts zu tun, es war etwas, was ich irgendwo aufgeschnappt hatte und dem ich von Herzen zustimmte.

Das erste Autoradio, das ich geklaut habe, ein Grundig, habe ich ihm noch am selben Tag per Post als Dankeschön geschickt, mit einem Zettel: »Von Aziz, 6 B, weil Sie so nett sind.« Und mir vorgenommen, später, wenn ich alt genug zum Autofahren wäre, für ihn das dazugehörige Auto zu stehlen, weil Monsieur Giraudy immer den Bus benutzte. Ich habe das dann aber vergessen, und dann war keine Zeit mehr, wegen der Ereignisse, die über mich hereingebrochen sind.

Am Feuer hockend, in abendlicher Runde, während die anderen von Rumänien und der Türkei und von Nordindien erzählen, den Ländern eben, aus denen man sie verjagt hatte, lernte ich die Legenden aus aller Welt auswendig, besonders die aus Arabien, weil mir die am besten gefielen. Da man sich nicht einigen konnte, aus welchem Land ich stammte, war es für mich naheliegender, mich mit Träumen von fremden Ländern zu befassen statt mit den alltäglichen Begebenheiten, wie man sie auf den Seiten des Provençal fand, in die ich meine Autoradios für den Verkauf einpackte.

Zwischendurch, aus dem Augenwinkel und über das Sperrholzsteigen verschlingende Feuer hinweg, beobachtete ich Lila, die es vermied, mich anzusehen. Sie saß neben Rajko, ihrem Zukünftigen, dem Mercedes-Spezialisten, der den Bericht von den Verfolgungen mit Gitarrenmusik vertiefte. Ich vertiefte meinen Kummer dadurch, dass ich mir die Geschichte der Liebenden von Imilchil vorsagte, in der sich ein Ait Brahim rettungslos in eine Ait Yazza von einem feindlichen Stamm verliebt. Aus den Tränen der beiden entsprangen der Isli-See, der Bräutigamsee, und der Tislit-See, der Brautsee. Auf Seite 143 in meinem Atlas ist nachzulesen, dass ihre jeweiligen Familien sie voneinander getrennt ertränkten, um der unstandesgemäßen Verbindung einen Riegel vorzuschieben.

Eines Nachmittags im Juli, auf den Klippen der Bucht, nachdem wir uns geliebt hatten, habe ich Lila die Geschichte von Ait Brahim zärtlich ins Ohr geflüstert. Sie hat geglaubt, ich spreche von einem Burschen aus der Siedlung der Beurs, und ist nach Seeigeln getaucht.

Wenn ich mich in den französischen Teil von Marseille begebe, um die neuen Autoradios unter die Lupe zu nehmen und mich über die Preise zu informieren, begegnen mir zwangsläufig Gruppen anderer Jugendlicher, und dann überkommt mich schon mal der Wunsch, einer von ihnen zu sein. Aber das vergeht wieder. Die Warmherzigkeit, die mir in Vallon-Fleuri ein wenig fehlt, wird durch die Kumpanei wettgemacht, wenn es zur Sache geht. In dieser Beziehung bin ich wirklich Teil des Clans: Ich habe ein gewinnendes Lächeln, eine geschickte Hand, und ich kann schnell laufen.

Worauf wir uns besonders gut verstehen, ist der Überfall auf Italienisch, den die Italiener Überfall nach Art der Zigeuner nennen, aber das darf man nicht so ernst nehmen, sie sind schließlich in der Minderheit. Wir treten gruppenweise auf, stechen einem Autofahrer an der Ampel einen Reifen an, helfen ihm dann beim Reifenwechsel und hauen mit dem Auto ab. Die Polizei warnt übrigens diejenigen, die unbedingt durch unsere Viertel müssen, davor, an den Ampeln anzuhalten. Nett gemeint, nur dass wir die, die nicht anhalten, rammen. Wenn sie dann zur gütlichen Schadensregelung aussteigen, schlagen wir sie zusammen. Diese Variante nennen wir Überfall auf belgische Art. Das Auto wird anschließend in die Siedlung gebracht und von den einzelnen Teams zerlegt. Wir haben Teams für die Motorteile, für die Reifen, für die Elektrik, für Zubehör, für Autoradios – das mache ich. Vorzugsweise haben wir es auf Mercedes abgesehen, und um sich das Leben nicht mit Lagerhaltung zu komplizieren, arbeitet zum Beispiel einer wie Rajko nur auf Bestellung. Man sagt zu ihm: »Rajko, ich brauche eine Zylinderkopfdichtung für den 500 SL«, und tags darauf hat man sie.

Wenn nur noch das Gerippe übrig ist, schleppt man es auf die Zufahrtsstraße am Ausgang der Siedlung, damit es die Sperrmüllabfuhr mitnimmt, weil sonst die Wracks überhandnehmen. Bei uns liegt nichts herum. Vallon-Fleuri ist unser Stolz, sogar Blumen haben wir gepflanzt, um dem Namen gerecht zu werden – Mamita hatte schon recht, der Name färbt mit der Zeit ab.

Was in diesem Zusammenhang Aziz Kemal betrifft, so durchlief ich mit etwa fünfzehn Jahren meine muselmanische Periode. Die ich allerdings sehr rasch beendet habe: Ich liebte Lilas Mund viel zu sehr, um zuzulassen, dass er hinter einem Schleier verschwindet. Ich habe Said seinen Koran zurückgegeben, dem Torwart aus der Siedlung der Ducs, einem Sportsmann durch und durch, der seit einem Jahr mit seinem Baseballschläger erfolgreich den Dealern den Zutritt zu seiner Wohnanlage verwehrte, und bin weiterhin Anhänger von Olympique Marseille geblieben.

Das Leben in Vallon-Fleuri ist ruhig, zu Razzien kommt es selten. Dazu muss man wissen, dass ein Polizist, so er denn auf die Idee verfallen sollte, die Bewohner in den nördlichen Siedlungen auf ihre Papiere hin zu überprüfen, erst einmal unverzüglich an die Grenze versetzt würde und dass ihm der Präfekt eine Standpauke halten würde, weil der von ihm, dem Präfekten, ergriffenen Maßnahme zur Senkung der Kriminalitätsrate die Entscheidung zugrunde liegt, dass es uns gar nicht gibt. Marseille-Nord ist offiziell Wüste geworden. Auf den Stadtplänen sind unsere Siedlungen nicht mehr ausgewiesen; geblieben sind an die dreißig Polizeibeamte für zweihunderttausend Nichtexistierende, und mit einemmal versteift man sich darauf, sie wie eine vom Aussterben bedrohte Gattung zu beschützen.

Ohne überheblich zu sein, halte ich den Präfekten auf seine Art für ganz schön gerissen: Wenn wir einen Polizisten zusammenschlagen, wissen wir genau, dass dessen Anzeige höheren Orts niemals ein Gerichtsverfahren nach sich zieht – wegen der Statistiken. Deshalb haben wir Mitleid mit ihm, und anstatt ihn außer Gefecht zu setzen, üben wir uns in Selbstdisziplin. Da uns ebenfalls bekannt ist, dass die Polizeistreife unserer Sektion in zwei Abteilungen von jeweils fünf Autos die Runde macht, die eine von zwölf Uhr mittags bis neunzehn Uhr, die andere von neunzehn Uhr bis vier Uhr morgens, haben wir unsere Arbeitszeit auf zwischen vier Uhr und Mittag, also wenn sie schlafen, verschoben, und alle sind’s zufrieden. Um sich für unser Zartgefühl erkenntlich zu zeigen, hat man uns übrigens einen eigenen Supermarkt für unsere speziellen Geschmäcker eingerichtet, in dem wir uns mit unseren Einkaufswagen kostenlos zu bedienen pflegen, was uns davon abhält, bei Leclerc und im Casino einzubrechen, beide der älteren Generation des Landes vorbehalten, die mangels anderer Möglichkeiten ihre Waren an der Kasse bezahlen muss. Wir achten sie, diese braven Alten. Allein schon weil sie mehr oder weniger alle seit zig Jahren eine Eigentumswohnung besitzen, die durch die Nachbarschaft mit uns drei Viertel ihres Wertes verloren hat.

Nein, im großen Ganzen läuft es in Marseille-Nord durchaus gut. Sogar Gastspiele aus Paris werden bei uns gegeben: Studienkommissionen unterbreiten Lösungen zur Verbesserung unserer Lebensqualität. Und in Sachen Sonneneinstrahlung hat man letztes Jahr in Vallon-Fleuri fürwahr etwas bewirkt, indem man die alten Türme der angrenzenden Siedlung abrasiert hat, so als ob Kriminalität von zu vielen Stockwerken herrührt. In diesem Punkt wollen sie kein Risiko eingehen: Der Zigeuner, selbst wenn er adoptiert ist wie ich, erträgt die Höhe nicht. Wir können nicht in einem Turm leben. Ebenso wenig wie in einer Mietskaserne – das ist wie ein Turm, nur im Längsformat, und im Hinblick auf die Kriminalität wohl ebenso verwerflich; sobald in einer Mietskaserne eine Wohnung frei wird, wird sie nicht etwa weitervermietet, sondern das Amt für Sozialen Wohnungsbau lässt sie zumauern. Wahrscheinlich ist das billiger als eine Renovierung.

Der Tag, an dem die Kommission in Vallon-Fleuri auftauchte, ist sehr gut verlaufen. Wir waren liebenswürdig, haben die Leute zum Pastis eingeladen, um ihnen über den Schock hinwegzuhelfen. Sie kamen nämlich von den Komorern aus Basse-Robière, wo ihnen durchs Fenster ein Eisschrank entgegengeflogen war. Ein bisschen Musik, Zigeunerjazz, Flamenco, Gipsy Kings, und schon haben sich ihre Nerven beruhigt. Die Kommission hat uns für den Empfang gedankt und die Körbe mitgenommen, die die Kinder vorzeigten, in der Annahme, es wären Geschenke. In der anschließenden Nachrichtensendung hat sie dann erklärt, die »Bohemiens« fühlten sich in ihren Wohnwagen als Außenseiter und dass all ihre Schwierigkeiten von dort herrührten. So kommt es, wenn man keine Ahnung hat. An die Stelle des verfallenen Weilers, den wir als Autowerkstatt benutzten, haben sie uns in Zusammenarbeit mit der Firma Bouygues Häuser gebaut.