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Sophienlust
– 373 –

Michi, das Wunderkind

… er ist aber auch ein normaler kleiner Junge

Marisa Frank

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-664-9

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Dominik von Wellentin-Schoenecker stöhnte innerlich. An diesem Nachmittag war wirklich besonders viel los im Kaufhaus. Und vorn an der Ecke wartet Pünktchen, dachte Nick. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und seufzte. Endlich hatte er die erste Stufe der Rolltreppe erreicht und ließ sich nach oben tragen. Schnell strebte er der Buchabteilung zu.

Wieder vergingen einige Minuten, bis Nick eine Verkäuferin entdeckt hatte und diese ihm half, das gesuchte Buch zu finden. Aber an der Kasse stand eine Menschenschlange. Nick hatte keine andere Wahl, er mußte sich anstellen.

Verdammt! dachte er. Er und Pünktchen hatten vorgehabt, noch ein Eis zu essen. Gestern hatten sie entdeckt, daß die Eisdiele bereits geöffnet hatte, und heute hatten sie das ausnützen wollen. Das erste Eis im Jahr war immer das beste, aber daraus würde wohl nichts werden. Zu lange hielt er sich schon im Kaufhaus auf.

Nick nahm das Wechselgeld entgegen. Er eilte zur Rolltreppe zurück, da fiel sein Blick auf einen entzückenden blondhaarigen Jungen. Mit interessiertem Gesicht schlenderte der Kleine von Stand zu Stand. Offensichtlich war er allein.

Nick vergaß seine Freundin. Er liebte Kinder, und dieser Junge war nicht nur bildhübsch, er bewegte sich auch völlig frei zwischen den vielen Menschen. Angst schien er keine zu kennen.

Nick verhielt seinen Schritt und ging, als der Kleine sich von ihm entfernte, hinter ihm her. So schlenderten die beiden von den Büchern hinüber zu den Spielsachen. Nick beobachtete, wie der Kleine herzlich auflachte, als er einen Clown sah. Doch plötzlich drehte er sich um.

»Du«, er zeigte mit dem Finger auf Nick, »kann man den aufziehen?«

»Ich glaube schon«, sagte Nick und kam heran. »Gefällt er dir?« »Er sieht lustig aus«, sagte der Kleine. Mit dem Finger tippte er in das Clowngesicht. »Ich nehme an, er schlägt einen Purzelbaum, wenn er aufgezogen ist.«

»Wahrscheinlich hast du richtig geraten. Woher weißt du das?« Es machte Nick Spaß, sich mit dem aufgeweckten Kleinen zu unterhalten.

»Oh, es gibt doch so viel solches Spielzeug. Zum Anschauen ist es ja ganz lustig. Daher laufe ich auch immer schnell hierher.«

Nick konnte sich ein Lächeln nicht verbeißen. Woher das Kind seine Weisheit wohl hatte? Nick schätzte es auf vier bis fünf Jahre.

»Du spielst also nicht mit solchen Sachen?« fragte er.

»Aber natürlich! Dieses Häschen da ist ganz lieb. Damit möchte ich am Abend schlafen gehen. Sicher hat es ein ganz weiches Fell. Glaubst du, daß ich es einmal angreifen darf?«

Nick nickte. Schnell hob der Kleine seine Hand und strich über das Fell des Stofftieres.

»Du, es ist wirklich ganz weich. Willst du es auch einmal anfassen?«

Nick tat dem Kleinen den Gefallen und berührte das Häschen.

»Es hat ein echtes Fell«, erklärte er dann.

»Ein Häschen zum Schmusen und Liebhaben.« Der Kleine nickte befriedigt. »So eines wünsche ich mir. Wenn ich fleißig übe, kauft Mami es mir sicher. Aber jetzt muß ich weiter. Tschau! Vielleicht sehen wir uns wieder einmal.« Der Kleine hüpfte davon, hielt aber plötzlich inne und kam zu Nick zurück. »Du, weißt du, wo die Musikabteilung ist?«

»Ja.« Fragend sah Nick das Kind an.

»Ich weiß nicht mehr genau, ob ich jetzt links oder rechts gehen muß. Kannst du es mir sagen?«

»Kann ich schon. Die Musikabteilung ist im dritten Stock. Wir sind erst im zweiten.«

»Daher!« Der Kleine drehte sich im Kreis. »Heute bin ich völlig durcheinandergekommen. Jetzt muß ich mich aber beeilen.« Er wollte davonlaufen, doch Nick hielt ihn fest.

»Moment, nicht so schnell. Wohin willst du denn?«

»Habe ich doch schon gesagt.« Unwillig schüttelte der Kleine den Kopf. »Ich will noch in die Musikabteilung.«

Nick hielt den Kleinen etwas von sich weg. Er musterte ihn von oben bis unten und fragte: »Du bist doch nicht allein unterwegs, oder?«

»Meine Mami ist mitgekommen. Sie kauft Lebensmittel.«

»Und da bist du einfach ausgerissen?« Nick mußte seinen Griff verstärken, denn der Kleine versuchte sich loszureißen.

»Ich reiße nie aus«, versicherte der kleine Junge. »Jedenfalls nicht richtig. Mami weiß genau, wo sie mich suchen muß.«

»Na, na, das soll ich dir glauben?« Nick lockerte seinen Griff.

Sofort riß der Kleine sich los. Sekunden später war er Nicks Blicken entschwunden.

Nick lächelte. An die Zeit dachte er nicht mehr. Er hätte sich gern weiter mit dem Kleinen unterhalten. Sicher wurde dieser schon irgendwo vermißt.

Nick wollte sich gerade umdrehen, da sah er den Kleinen wieder auf sich zukommen.

»Du«, sagte der kleine Junge, »ich habe es mir anders überlegt. Du kannst mit mir mitkommen zur Musikabteilung. Dann wirst du auch sehen, daß meine Mami hinkommt.«

»Einverstanden.« Nick nahm die Hand des Kleinen, die dieser ihm ohne Scheu hinhielt. »Du mußt mir aber versprechen«, fuhr er fort, »daß du mir deinen Namen sagst, wenn deine Mami nicht kommt. «

»Mami kommt ganz sicher.« Der Kleine zog Nick zur Rolltreppe. »Wenn wir uns nicht beeilen, ist Mami früher dort.«

»Was willst du eigentlich in der Musikabteilung?« fragte Nick, als die beiden mit der Rolltreppe emporfuhren.

»Das wirst du schon sehen.« Der Kleine grinste Nick an. »Zuerst mußt du mich aber zur Musikabteilung führen. Ich habe dich ja nur mitgenommen, weil ich diese Abteilung auch sicher finden will.«

Nick hob die Hand und fuhr dem Kleinen durch das lange Blondhaar. Er fand, diesem Jungen konnte man einfach nicht böse sein.

Kaum hatten die beiden den dritten Stock erreicht, fragte der Kleine: »Wohin müssen wir? Nach links oder nach rechts?«

»Genau weiß ich es nicht, aber das werden wir gleich haben.« Nick sah sich um.

Enttäuscht löste der Junge seine Hand aus Nicks Hand. »Du weißt es auch nicht. Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

»Ich weiß es schon.« Nick hatte inzwischen die Musikabteilung entdeckt. »Komm nur!« Er machte ein paar Schritte, blieb aber gleich darauf wieder stehen: »Ich heiße Nick, und wie heißt du?«

»Das sage ich dir später. Ich habe es eilig.« Der Kleine, der sich inzwischen umgesehen hatte, stieß einen befriedigten Schrei aus. »Jetzt kenne ich mich aus.« Schon war er weg.

Nick wollte ihm nach, stieß aber gegen zwei Damen, die sich unterhielten. Er mußte sich zuerst entschuldigen, ehe er weiterhasten konnte. Als er zur Musikabteilung kam, sah er den Kleinen sofort. Er stand neben einer Verkäuferin und sprach eifrig auf diese ein.

Langsam ging Nick näher heran. Es interessierte ihn nun doch, was der kleine Junge, der nun keinen Blick mehr für ihn hatte, wollte.

»Wetten, daß ich besser spiele als du?« hörte Nick ihn jetzt sagen.

Die Verkäuferin lachte. »Die Wette würdest du verlieren. Ich habe als Kind sehr gut gespielt.«

»Und jetzt? Spielst du jetzt auch noch?« fragte der Kleine. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um hinter die Ladentheke zu sehen.

»Nein, aber ich singe in einem Chor mit.« Die Verkäuferin lächelte noch immer. Der Kleine gefiel ihr. »Wo ist denn deine Mutti?« fragte sie.

»Meine Mami brauchen wir jetzt nicht. Hast du nicht verstanden? Ich will dir etwas vorspielen. Du, ich kann es wirklich.« Der Kleine drängelte sich hinter die Theke. »Da, diese Flöte kannst du mir geben.«

»Aber das ist doch eine Altflöte. Mit der kannst du sicher nicht umgehen«, wunderte sich die Verkäuferin.

»Und ob ich kann. Soll ich es dir beweisen?«

Nick traute seinen Ohren nicht. Unwillkürlich trat er noch einen Schritt näher. Er sah, daß die Verkäuferin zögerte, aber offensichtlich konnte sie den bittenden Kinderaugen nicht widerstehen. Sie griff nach der Flöte.

»Gib schon her!« Der Kleine streckte seine Hand nach der Flöte aus, doch die Verkäuferin hielt sie zu hoch für ihn.

»Wenn du flöten lernen willst, dann mußt du es zuerst mit einer kleineren Flöte versuchen.«

»Aber ich kann doch schon flöten. Ich will es dir doch zeigen.« Bittend legte der Kleine jetzt seine beiden Hände gegeneinander. Da die Verkäuferin nicht sofort reagierte, griff er in seine Hosentasche und holte zwei klebrige Bonbons hervor. »Du wirst sehen, daß ich sehr gut Flöte spiele«, verkündete er. »Wenn ich es nicht gut kann, dann gehören die zwei Bonbons dir.«

Die Verkäuferin mußte lachen, und Nick war gespannt. Würde die Verkäuferin nachgeben? Er sah, daß ein anderer Kunde herantrat und die Verkäuferin etwas fragte.

»Moment«, sagte diese. Sie sah auf die Altflöte, die sie noch immer in der Hand hielt. »Nun gut, probiere es halt einmal. Aber laufe nicht damit weg.«

Die Augen des Kleinen blitzten empört auf. »Ich bin doch kein Dieb.« Dann setzte er die Flöte an die Lippen.

Nick schmunzelte, aber das Schmunzeln verging ihm. Der Kleine konnte tatsächlich spielen. Das erkannte Nick bereits nach den ersten Tönen. Auch die Verkäuferin hob den Kopf. Ein ungläubiges Staunen stand auf ihrem Gesicht. »Der spielt ja wie ein Großer«, hörte Nick sie sagen.

Der Kleine ließ sich nicht stören. Seine kleinen Finger huschten geschickt über die Flötenlöcher. Es war eine schwierige Melodie, die er spielte, aber er spielte sie einwandfrei.

Aus den Augenwinkeln sah Nick, daß einige Kaufhausbesucher stehenblieben. Bald war die Musikabteilung voll von Menschen. Begeisterte Stimmen wurden laut. Ungerührt spielte der Kleine weiter. Immer mehr Leute fanden sich ein und hörten ihm zu. Schließlich nahm der Kleine die Flöte von den Lippen. Er sah sich um. Jemand fing an zu klatschen, andere folgten diesem Beispiel. Der Kleine verneigte sich. Mit seinen leicht geröteten Wangen sah er allerliebst aus.

»Aber Michi!«

Nick sah, daß sich eine Frau durch die Menge drängte.

»Ich habe gut gespielt«, hörte er den Kleinen sagen. Da fingen die Umstehenden erneut an zu klatschen.

»Da bist du ja.« Nick wurde am Arm gepackt. Er drehte sich um. Hinter ihm stand Pünktchen. Sie sah nicht gerade freundlich drein.

»Entschuldige...« Nick wußte im Moment nicht, was er sagen sollte.

»Weißt du überhaupt, wie lange ich schon auf dich warte?« Pünktchens Gesicht verzog sich noch mehr. Selbst die unzähligen Sommersprossen, die der Dreizehnjährigen den Spitznamen gegeben hatten, blitzten böse.

»Es tut mir leid. Ich wollte mich beeilen.«

»Das habe ich gemerkt«, entgegnete Pünktchen spitz.

»Bitte, sei nicht böse.« Mit einer liebevollen Geste legte Nick ihr seinen Arm um die Schultern. Seit langer Zeit waren er und Pünktchen eng befreundet. Er konnte es nicht ertragen, wenn sie böse war.

Auch Pünktchen konnte Nick nicht böse sein. So schob sich nur ihre Unterlippe etwas nach vorn. »Das Eis! Ich habe mich so auf das erste Eis gefreut.«

»Ich auch«, gestand Nick. Er nahm Pünktchens Hand und drückte sie. »Wir holen es nach. Aber sieh dir einmal den Jungen an. Ist er nicht entzückend?«

Die Menschenmenge begann sich jetzt etwas zu zerstreuen. So wurde der Blick auf den Kleinen frei. Neben ihm stand nun eine junge Frau und unterhielt sich mit der Verkäuferin.

»Hat er gespielt?« fragte Pünktchen verwundert. »Man hat es schon auf der Rolltreppe gehört.«

»Ein Wunderknabe, der in einem Warenhaus spielt. Ist das seine Mutter?« Pünktchens Blick war an der jungen Frau hängengeblieben.

»Ich weiß es nicht. Als ich den Kleinen traf, war er allein. Ein wirklich süßes Kerlchen.«

»Die Frau scheint sehr stolz auf ihn zu sein«, stellte Pünktchen sachlich fest.

»Eine hübsche Frau.«

»Natürlich, so etwas seht ihr Männer zuerst.« Pünktchen drehte sich um und ging weiter. Als Nick sie eingeholt hatte, sagte sie hoheitsvoll: »Du hättest ja bei der hübschen Frau bleiben können. Ich muß mich jetzt beeilen, sonst versäume ich den Bus nach Sophienlust.«

»Ist es schon so spät?« Nick warf einen Blick auf seine Armbanduhr, dann beschleunigte er seinen Schritt ebenfalls.

*

»Hier bin ich letzte Woche dem aufgeweckten Kleinen begegnet. Du erinnerst dich doch? Ich habe dir von ihm erzählt.« Diesmal war Dominik von Wellentin-Schoenecker nicht allein im Kaufhaus, sondern in Begleitung seiner Mutter.

Denise von Schoenecker lächelte. »Dir geht der Kleine wohl überhaupt nicht mehr aus dem Kopf?«

»Er war auch entzückend.« Nick geriet wieder ins Schwärmen. »Du hättest ihn sehen sollen. Wie ein Engelchen sah er aus mit seinem langen hellblonden Haar.«

»Ein ziemlich lebhaftes Engelchen«, meinte Denise schmunzelnd.

»Wissen möchte ich, ob diese Frau wirklich seine Mutter war«, fuhr Nick überlegend fort. »Pünktchen hat recht. Sie hat vor Stolz gestrahlt. Man sah ihr an, wie sehr sie sich über den Erfolg des Kleinen freute.«

»Ich weiß nicht. Ich finde es nicht richtig, daß ein so kleines Kind bereits so nach Erfolg aus ist. Du hast ja erzählt, der Junge wirkte sehr selbstsicher. Vielleicht hat er das schon öfters gemacht und dabei entdeckt, daß die Leute begeistert sind.«

»Das kann gut sein«, stimmte Nick seiner Mutter zu. » Jedenfalls hat die junge Frau gewußt, wo sie den Jungen suchen muß.«

»Nun zerbrich dir darüber nicht mehr den Kopf. Du wirst den Kleinen kaum wiedersehen. Wir müssen überlegen, was wir Ilona zum Geburtstag schenken.«

Denise von Schoenecker irrte sich. Als sie und ihr Sohn das Warenhaus verließen und über den Marktplatz gingen, hielt Nick sie plötzlich am Arm fest. »Mutti, da ist er.« Freude schwang in seiner Stimme mit.

Denise von Schoenecker folgte dem Blick ihres Sohnes. Ein blondhaariger Junge stand an der Hand einer jungen Frau vor einem Schaufenster. Jetzt wandte der Kleine den Kopf. Er begann zu lächeln, riß sich von der Hand der Frau los und kam herübergelaufen.

»Hallo! Fein, daß ich dich wieder treffe. Hat dir das, was ich damals gespielt habe, auch gefallen?« Mit den Händen in den Hosentaschen stand der Kleine vor Nick und dessen Mutter. Fragend sah er Nick an. Er wartete auf ein Lob.

Nick kam jedoch nicht dazu, den Kleinen zu loben, denn die junge Frau kam heran.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie und dann, an den Kleinen gewandt: »Was tust du denn jetzt schon wieder?«

»Aber das ist doch der, der mir die Musikabteilung gezeigt hat. Ich habe dir doch erzählt, daß er ganz lieb war.« Empört sah der Kleine zu der Frau empor.

»Ich heiße Nick, Dominik von Wellentin-Schoenecker«, stellte sich Nick vor.

Der Kleine schlug sich auf die Stirn. »Natürlich, jetzt fällt es mir wieder ein. Du bist der Nick. Jetzt verrate ich dir auch, wie ich heiße. Ich bin der Michi. Soll ich dir wieder etwas vorspielen?«

»Hier?« Nick lächelte. »Ich würde aber gern noch mehr von dir hören. Du spielst sehr gut.«

»Er spielt mehrere Instrumente«, mischte sich die junge Frau nun ein. »Verzeihen Sie. Silvia Berger. Michi ist mein Sohn.«