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Sabine Scholl

Das Gesetz des Dschungels

Roman

Erste Auflage

Gestaltung und Satz:

Printed in Germany

Inhalt

DAS GESETZ DES VERSPRECHENS

(1961)

(2014)

DAS GESETZ DER ÄHNLICHKEIT

(1998)

DAS GESETZ DER SPRACHEN

(1999)

DAS GESETZ DER HAUT

(2000)

DAS GESETZ DES WEISSEN

(2014)

DAS GESETZ GEKAUFTER LIEBE

(2004)

(2014)

DAS GESETZ DES WASSERS

(2007)

(2014)

(2007)

(2014)

DAS GESETZ DES VERFALLS

(2008)

DAS GESETZ DES DSCHUNGELS

(2009)

(2014)

DAS GESETZ DER LOSEN ENDEN

(2014)

(2016)

DER WIRKLICHE SCHLUSS

LITERATURVERZEICHNIS

Borders (what’s up with that?) … Identities (what’s up with that?)

(M. I. A.)

Ein Leopard ändert seine Flecken nie.

(Sprichwort)

NOW this is the law of the jungle – as old and as true as the sky.

(Rudyard Kipling)

In ten years I want to be a tourist.

(Mädchen aus der Favela zur Fotografin)

Eines Tages überwogen die Sorgen. Nachdem Veronikas Telefonate nach Sri Lanka im Nichts verhallt waren, hatte Marvin sich von London aus bemüht, das Schweigen des Vaters zu ergründen. Seine Kollegin bat ihren Onkel, der aus Colombo stammte und nicht weit von Victor wohnte, zum Haus des Vaters zu spazieren. Er fand es verschlossen, sprach mit einem Nachbarn. Victor sei eines Tages abgereist, den gesamten Hausrat auf einem Anhänger gestapelt. Ein Umzug. Plötzlich. Zumindest hatte er dem Nachbarn seine neue Adresse hinterlassen.

Der Mann beklagte sich, dass nun nachts Bettler in das geleerte Haus einstiegen und dort übernachteten. Er fühle sich nicht mehr sicher. Im Garten lagerten herrenlosen Hunde. Die Mangos fielen vom Baum und verrotteten. Ungeziefer mache sich breit. Der Onkel hatte durch die trüben Fensterscheiben auf zerfetzte Matratzen und zerrissene Moskitonetze gestarrt.

Das waren die Fakten, die der Onkel aus Colombo Marvins Kollegin am Telefon erzählte, die sie wiederum Marvin erzählte, die der Bruder seiner Schwester erzählte und die Veronika eines Abends am Strand in Tangalle mir erzählte, als wir Gin Tonic tranken, um gefeit zu sein gegen die Strandflöhe, die sich angeblich vor dem Geruch des Chinins im Tonic scheuten.

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(1961)

Je weiter sich das Schiff von Colombo entfernte, desto mehr verflogen die Gerüche nach Salzteig, frittiertem Fisch und Kreuzkümmel. Victor blieb so lange an der Reling stehen, bis die Nacht einfiel und der wässrige Horizont den Lichtstreifen der Stadt schluckte, in der er bisher gelebt hatte. In den Sechzigerjahren herrschte in London Mangel an Ärzten und Pflegekräften. Die Einreise von Menschen aus Ceylon, wie man die Insel damals noch nannte, und eine Ausbildung vor Ort wurden deshalb erleichtert. Die Auswanderer ließen ihre Familien zurück und versprachen, sie bald mit britischem Geld zu unterstützen. Das war das Wichtigste.

Als seine Heimat im Dunkel verschwunden war, ging Victor in die Kabine, die er mit anderen jungen Männern teilte.

– Was wirst du machen in London?

– Ich habe Familie dort, einen Onkel. Er kümmert sich. Besorgt mir Arbeit.

– Und du, Victor?

– Ich werde Medizin studieren.

– Und du?

– Mein Cousin arbeitet in einem Krankenhaus, und es werden noch Leute gesucht. Er wird mir helfen.

Das Schiff legte in Bombay an. Weitere Kandidaten für Großbritannien kamen an Bord. Victor lernte Sanjeev, seinen ersten besten Freund, so kennen.

Angekommen in London mussten sie alles neu erlernen. Sie wurden wieder zu Kindern in ungewohnter Umgebung. Was sie bisher gewusst hatten, galt in dieser Stadt wenig. Sogar ihre Sprache war den Bewohnern nicht immer verständlich. Nun versuchten die Einwanderer, Laute an anderen Stellen des Gaumens zu platzieren, das Zusammenspiel von Zunge, Zähnen und Rachen neu zu gestalten. Oder sie gaben es auf, behielten ihre Akzente. Sie mussten auf den Märkten einkaufen lernen, mussten die besten Märkte erst finden. Sie mussten zu kochen versuchen und Staub in ihren Zimmern wischen. Und davor mussten sie lernen, wie man sich verhielt, um diese Zimmer überhaupt zu mieten. Nicht überall waren sie willkommen. Sie lernten, ältere britische Damen zu charmieren, damit diese die Kinderzimmer ihrer erwachsenen Söhne öffneten für die Fremden. Sie lernten, ungewohnte Speisen zu essen und zu loben, so lange, bis sie vergaßen, was sie einmal gelernt hatten. Weil sie danach Würste liebten und süchtig nach Mayonnaise waren. Die Pausen zwischen den Briefen nach Hause wurden länger. Die Versprechen gegenüber der Familie auf der Insel fragwürdiger. Denn je mehr die Einwanderer ihre Erinnerungen an das Mutterland aufgaben, desto besser lebten sie sich in London ein. Das dünne Mädchen mit den Zöpfen, das die Mutter Victor vorgestellt hatte, bevor er abfuhr, und das auf ihn warten sollte, verblasste. Wurde ein Schatten, eine Schablone, die zerbrach, als er Karin kennenlernte. Warum sollte er nur in Gedanken an die Insel leben? Warum nicht hier, mit allem, was er war? Mit allem, was sich änderte in ihm?

Auch wenn London mehr verlangte als geplant. London wollte nicht, dass er in Hemdsärmeln im King’s College saß und aus Wälzern medizinische Fremdwörter auswendig lernte. London wollte, dass er Blumenstängel zurechtschnippelte, sie nach Farben sortierte und vor dem Laden arrangierte. London wollte, dass er telefonierte und Landsleuten Flug- und Schiffstickets organisierte. London wollte, dass er seine Hände und seinen Verstand anders anwendete als vorgesehen. Doch solange er vorwärtskam und die Mutter zu Hause die Lügen von einem Studium der Medizin glaubte, war Victor froh.

Und an den Wochenenden traf er zusammen mit Sanjeev die österreichischen Schwestern Helga und Karin. Die Röcke der jungen Frauen plusterten sich auf. Die Schenkel in durchsichtigen Strümpfen, die Taillen schnürten sie mit breiten Gürteln. Auf Schnappschüssen posierte Victor inmitten roter Flammenblumen. Die Mädchen neben ihm streckten ein Bein nach vorn. Über ihren Schultern hingen Wolljacken, und hinter der Kamera stand sein bester Freund.

In jenem Londoner Sommer waren die Rasenflächen verbrannt. Die Frauen trugen zum Picknick Handtaschen mit goldenen Schnappverschlüssen. Der Kragen an Karins Kleid blendete. Die Baumkronen von Kensington Gardens senkten sich fast bis auf den Grund. Stolz lächelte Victor auf den Fotos. Die kargen Zeiten des Anfangs waren überstanden, als er unsichtbar durch die Stadt gestreift war und keiner ihm einen Blick geschenkt hatte, keine der jungen Frauen.

– Ein Geruch nach Heu wie zu Hause! Ich habe Sehnsucht! Meinte Karin neben ihm im Gras.

– Heute Abend treffen wir uns in deinem Zimmer! Nur wir zwei.

Victor gelangte schneller ans Ziel als sein Freund.

Sieben Monate danach zerrte Karin an seiner Hand: fort von ihren lauernden Eltern, den Kuchenstücken und der Kanne mit kraftlosem Kaffee. Das Bündel Scheine in der Hosentasche drückte gegen Victors Schenkel, Lösegeld in Noten. Sie zog ihn in den Wald. Atmete schwer. Pausenlos quollen Worte aus ihrem Mund. Sie strich ihm über den Unterarm, bückte sich, zeigte ihm glitschige Auswüchse an Stämmen, steckte runde Blättchen zwischen die Lippen und kaute:

– Probier mal! Try!

In ihren Lauten hing schwer die Sprache ihrer Gegend, und er vermisste Farben, vermisste das gleißende Licht der Insel. Seine Augen fanden nur braune, grüne Töne, und das Feuchte schmeckte hier kalt, nicht schwül.

Nach der Hochzeit würden sie in Karins Mädchenzimmer mit den Blumentapeten und den weiß lackierten Möbeln ziehen. Sein Koffer wartete schon dort. Auf der karierten Bettdecke thronte Karins Teddy, abgewetzt, mit Hängeaugen.

– Und später bauen wir ein eigenes Haus, Victor, nur für uns, wenn du fertig bist mit dem Studieren. Meine Eltern haben Grund gekauft, ganz nahe am Fluss.

Auch seine Mutter in Colombo wartete auf ein Haus – das Victor für sie verdienen sollte. In den Briefen an sie hatte er die blonde, österreichische Frau nie erwähnt. Das Klopfen eines festen Schnabels gegen einen harzigen Stamm knallte in sein Ohr.

– Hörst du, Darling!

Der Kaffee stieß ihm auf. Karin zog ihn mit einem Ruck an sich heran, als wäre sein Körper ihr Eigentum. Sogar in die Kirche hatte sie ihn geschleppt, das Gebäude so hoch wie die höchsten Wipfel in diesem Wald. Sie waren zu spät. Ein Geruchsschwall nach verbrannten Hölzern und die Predigtstimme des Pfarrers wischten ihnen entgegen. Alle Gesichter blickten zum Altar. Die Jesusfiguren waren mit violetten Tüchern verhängt. Victor hätte es genügt, hinten im Schatten zu bleiben. Karin freilich drängte nach vorn, um sich zu setzen und in eine Bank zu quetschen:

– Es ist dein Gott so gut wie meiner, Victor.

Als sie sich in die enge Sitzreihe zwängte, harrte er daneben aus. Und alle Augen der Stadt fingen ihn ein, drängten sich über sein Gesicht, blieben daran hängen. Senkten die Blicke lange nicht und wandten sich nur zögerlich den zerfledderten Büchern zu, aus denen sie Lieder lasen und Gebete. Sie tuschelten, ihre Zungen rauschten. Karin betete mit. Sie hatte ihn in die Falle gelockt, und er stand in der Pflicht. Kniete, wenn die anderen knieten, faltete die Hände, murmelte Worte, die nur er verstand. Das war nicht geplant, ist passiert, ist Liebe, hatte er geglaubt in London. Dort war alles noch leicht gewesen.

Nun aber, sonntags im Wald in Österreich, schmiegte sich Karin an Victors Brust. Er wollte seine Hand nicht auf ihren Bauch legen und sah nach oben. Die Äste griffen ineinander unter dem Wind, ein Säuseln, vor dem sogar die Vögel verstummten, plötzlich, als alles anhielt. Er zählte, eins, zwei, drei, wünschte sich, in diesem Zeitloch zu verweilen.

Vergebens. Er spazierte am Arm einer schwangeren Frau in der Nähe einer Stadt, deren Namen er nicht aussprechen konnte: Houffkrchn, ein Konsonantenschub. Ähnlich wie der Gruß, den sie sich zuriefen: Greestee! Anfangs mochte er das I in Karin, ihre Stupsnase, die scharfen Zähne, ihre flinken Zehen, ihre Finger, die sich auf ihn verließen. Er befühlte das Geldbündel in der Hosentasche.

In London hatte er alles Ersparte gewechselt, Geld, das seiner Mutter auf der Insel fehlen würde. Als sie ankamen, warteten am Bahnhof Karins Eltern, gedrungene Gestalten mit fahlen Haaren und blauen Augen. Karin gab ihnen die Hand. Sie gingen entlang grauer Häuserzeilen, über einen Platz mit Springbrunnen. Victor schleppte die Koffer hintennach. Er musste das Sofa in der Küche beziehen. Als er abends ins Mädchenzimmer kam, ihr Gute Nacht zu sagen, beschwerte er sich.

– Wie die Leute mich anstarren! Wie deinen schwitzenden Kuli!

Karin lachte, hatte nichts bemerkt.

– Ach, die sind nur neugierig, das ist normal.

Sie drehte ihm ihr Gesicht zu, um ihn zu küssen. Er ertrug nicht, wie sie roch: nach Kuhmilch, ein schwarz-braun-weiß gefleckter Geruch, von dem ihm übel wurde. Er stöhnte, sehnte sich nach dem trüben Alkohol, den er zu Hause mit den Freunden getrunken hatte. Karin schloss die Augen. Victor ließ das Bündel Scheine in seinen Hosen nicht los. Dreitausend Schilling. Hoffte, dass es reichte.

London: Mai 1961 bis September 1963, hatte Karin in geschwungenen Buchstaben auf der ersten Seite des Albums vermerkt. Geplante Erinnerung auf dunkelgraue Pappseiten geklebt, umschlossen von geprägtem Leder. So viele Versprechen. Das Ende vordatiert.

Abflug vom Münchner Flugplatz Riem 16 Uhr 15, Flugdauer 2 Stunden.

Sogar das Flugzeug hatte sie fotografiert. Darunter das Ticket geklebt:

Passenger Coupon, DM 46,50, Gepäckstücke: 2, Gesamtgewicht: 35 kg.

Diese Fotos bewiesen, dass die Schwestern sich wahrhaftig in der Stadt befanden, deren Sehenswürdigkeiten sogar die Daheimgebliebenen erkannten. Deshalb war stets die Silhouette einer jungen Frau mit hochtoupierten Haaren gegen die Silhouette der Monumente aufgenommen. Die Miene kindlich bis trotzig, die Qualität der Aufnahmen mäßig. Einige verschwommen, anfangs in Schwarz-Weiß, die Bilder mal mit gerade geschnittenem, mal mit gezacktem, weißen Rand. Karin, meist in lichte Farben gekleidet, die Wolljacke überm Arm oder über den Knien. Seitlich auf einem Mäuerchen sitzend, weiße Schlappen lässig wippend über nackten Zehen. Unterm Foto, mit Tesa festgehalten, britische Münzen: Pound, Shilling, Twopence. Die Sonne schien.

Piccadilly Circus, 25. Mai: Karin mit gebauschtem Rock, selbst genäht. Daneben klebte Helga im dunklen Kostüm, Handtasche in der Armbeuge, vor der Royal Albert Hall.

Vom 6. bis 20. Juni arbeitete ich auf der Ideal Home Exhibition in Leeds, erzählen die feierlichen Buchstaben in Tusche. Dazu das Eintrittsticket zur Messe. Die Schwestern präsentierten Nähmaschinen einer Schweizer Marke. Damit konnten handarbeitswillige Hausfrauen von zu Hause aus arbeiten. Nähgeld verdienen, Abwechslung ins vorherbestimmte Leben als Gattin und Mutter bringen. Ab nun kamen ständig Frauen und Nachbarinnen zu Besuch, wählten Stoffmuster, probierten Schnitte, steckten Abnäher über pummeligen Körpern fest. Die magere Twiggy wurde erst ein paar Jahre später entdeckt.

Mit den Farbfotos besserte sich die Qualität. Von nun an waren die Schwestern oft gemeinsam im Bild. Victor ließ sich nicht gerne auf Fotos festhalten. Die jungen Frauen sahen älter aus als zwanzig, ihrer Erwachsenenfrisuren und ihrer gediegenen Kleidung wegen. Damals gab es bloß Garderobe für Mädchen und für erwachsene Frauen. Dafür wirkte Karin sogar als ältere Frau noch mädchenhaft, nur mit Falten, die sich kreuzweise über ihr gepudertes Gesicht zogen. Das Lächeln über Jahrzehnte immer gleich. Ihr lebensgroßes Porträt im Silberrahmen auf der Kommode schaute uns beim Blättern in ihrem Leben zu.

Auf Victors Porträt als junger Mann ist die schmale Krawatte tadellos gebunden, das dunkle Haar gescheitelt, der Kopf im Halbprofil. Schöne Ohren und der Ansatz eines Lächelns auf den Lippen kaum merkbar: millimeterleichtes Heben der Mundwinkel auf Anweisung eines Fotografen in Frankfurt am Main. Auf der Rückseite die Inschrift: With love!

Sein Bild lag lose am Ende des Andenkenreigens im grünledernen Album, das von Karin über Jahrzehnte versteckt worden war, vielleicht sogar vergessen.

Vroni schickte mir die Nachricht eines Sonntagnachmittags:

Ich habe ein Album meiner Mutter gefunden mit alten Fotos

aus London. Im obersten Schrankfach, hinter Geschirrtüchern.

Sofort wollte ich nach Hofkirchen, um die Fotos zu sehen. Die Liebesgeschichte nicht bloß erahnt, nicht bloß aus Bruchstücken und Gerüchten gebaut, sondern dokumentiert in echten Bildern. So lange hatte Vroni im Ungewissen stochern müssen. In den Sechzigerjahren eine Kamera zu benutzen, bedeutete, die Darstellung des eigenen Daseins nicht nur einem Fotografen zu überlassen, der nach seinem Eindruck ein starres Porträt erzeugte. Selbst zu fotografieren, hieß das eigene Bild von der Welt in die Hand zu nehmen. Und dieses Instrument kostete. Allein die Filme waren eine Investition. Man überlegte genau, wann man die Kamera zückte, stellte sich lange und ausführlich in Position. Gab Anweisungen, hielt nur das Allerwichtigste fest.

Als ich endlich einen Blick auf diese Fotos werfen konnte, war ich jedoch enttäuscht. In ihrem Mittelpunkt standen nur die jungen Frauen. Keine Liebespaare. Keine Küsse. Ein einziges Gruppenfoto mit Victor und sein Porträt vom Fotografen in Frankfurt. Ansonsten Postkarten und aus Reiseprospekten geschnittene Beschreibungen. Als produzierte Karin einen Führer für die, die London nicht kannten, eine Geschichte ihrer selbst mit fremder Stadt.

Spannend erschien mir einzig die Datierung am Anfang, weil Vroni der lebende Beweis dafür war, dass sie nicht stimmte.

Als Teenager hatte ich Vroni nur vom Sehen gekannt. Wir trafen uns in einem alten Wirtshaus mit Holzfassade und mächtiger Linde im Gastgarten. Das alte Gebäude war Partyraum, Ausstellungsfläche, Konzertsaal, Lesebühne, heimliche Trinkstation und deshalb ein Stachel in den Augen der Bravbürgerlichen und Katholischen. Angefeindet, verleumdet, weil unkontrollierbar und laut. Unsere betrunkenen Rufe drangen bis an die schweren Holztüren der Kirche, lautete das Gerücht. Hier geschah alles das erste Mal. Das erste Jazzkonzert, die erste Dichterlesung, der erste Rausch, die ersten Küsse, die ersten wilden Tanzereien. Das Haus war eine Zuflucht vor der Ödnis, den Gamsbärten, den brutalen Typen im Trachtenanzug, den strengen Regeln der Eltern.

Am Rande meines Blickfelds tauchte eines Tages Vroni auf und bewegte sich ab nun in der Nähe meines Bruders. Vroni, dunkelhaarig und umschwebt von Legenden und Anekdoten, deren Hintergrund kaum einer kannte. Doch wir fragten ohnehin nie nach Vergangenem, weil wir jung waren und uns nur für die Zukunft interessierten. Vronis Vater war eine unbekannte Größe, sie selbst die Verkörperung der Langsamkeit. So lauteten Geschichten, die manchmal variierten und die ihr eine Andersheit vor allem im Verhalten andichteten. Oft verbunden mit einem Lachen, manchmal schadenfroh.

Meine Mutter sagte:

– Ich bin mit Vronis Mutter zur Schule gegangen. Karin ist nach London als Au-pair-Mädchen und wurde dort schwanger. Ein Unfall. Vroni ist zur Hälfte asiatisch, was man daran merkt, dass sie ein anderes Verhältnis zur Zeit hat als wir. Meist kommt sie zu spät.

Meine beste Freundin damals sagte:

– Jaaaa, die Vroooonniiiii. Und zog ihren Namen in die Länge, so wie sich die Zeit dehnte, in der man auf Vroni wartete.

Vronis Mutter schwieg. Ihre Schwester Helga lebte mit Sanjeev verheiratet in Frankfurt.

Meine Mutter erzählte mit Vergnügen nach, was ihr mein Bruder angeblich berichtet hatte:

– Als sie mit einem Interrail-Ticket durch Europa gefahren sind, hat Vroni immer so getrödelt, dass die Gruppe mehrmals den Zug versäumte. Als sie am Ende der Reise beschlossen haben, von Istanbul aus das Flugzeug zu nehmen, weil der Rückweg sonst zu weit war, hat Vroni es nicht geschafft, rechtzeitig aufzustehen. Da sind sie ohne sie geflogen. Vroni ist dann lieber drei Tage mit dem Bus durch ganz Europa gefahren.

Vroni sagte Jahre später:

– In Istanbul haben die mich allein zurückgelassen, und ich musste als Einzige diesen schrecklichen Bus zurück durch Jugoslawien nach Hause nehmen.

Trotzdem trafen sich mein Bruder und Vroni immer wieder. Sie wurde schwanger, und er war nicht ganz sicher, ob er bereit war, schon Vater zu werden. Vroni setzte sich durch, entwarf ihre eigene Geschichte. Sie werde das Kind bekommen. Wenn es sein müsse sogar ohne ihn. Ein Baby mit hellen blauen Augen, langen Wimpern, dichtem schwarzen Haar kam zur Welt. Die Augen meiner Nichte waren mir sofort vertraut. Familienaugen, weil die Augen meines Bruders, weil die Augen unserer Mutter, weil die Augen ihres im Krieg gefallenen Vaters. Sie musste ohne ihn auskommen, vermisste ihn ihr Leben lang. Mit diesem ersten Enkelkind blühte meine Mutter jedoch auf. Und Vroni hatte mit der Geburt dieses Kindes ihre erste von der Familie vorgegebene Aufgabe erfüllt. Ein paar Jahre später waren seine Eltern jedoch getrennt. Schon für Vronis leiblichen Vater galt dieses Modell, ohne dass sie damals davon wusste. Vaterlosigkeit wird oft vererbt. Manchmal über mehrere Generationen. Es lag an meinem Bruder, die Linie zu durchbrechen. Und er kümmerte sich, gab der Tochter viel Raum in seinem Leben. Hunderte Fotos entstanden. Und Vroni war für einige Zeit erlöst davon, die Besondere zu sein.

Ich selbst glaubte an die Überwindung der Familie, wollte mich so weit als möglich davon entfernen. Besuchte eine höhere Schule, betrat eine andere Welt. Und die vorherige war mir nichts mehr wert. Dass ich mich dabei auch selbst verringerte, habe ich erst später bemerkt. Während ich also beschlossen hatte, die Vorstellungen der Eltern auf gar keinen Fall zu erfüllen, wollte Vroni, die von Anfang an infrage stand, immer Teil sein, alles richtig machen, um in der Anpassung zu verschwinden. Bis sie den Namen des Vaters auf ihrer Geburtsurkunde gefunden hatte, lebte sie, wie es die Konvention verlangte: Wochenendausflüge zu Burgruinen und Wildwasserläufen, in den Ferien Bergsteigen, Schwimmen in Salzkammergutseen, im Winter Skifahren. Zu Weihnachten rechtzeitig Kekse backen, grüßen am Sonntag vor der Kirche und der Besuch in der Konditorei danach. Im Februar Faschingskostüme nähen, Zuckerschaum schlecken, Krapfen nur an diesem einen besonderen Tag.

Auch Karin arbeitete hart an der Angleichung ihrer Tochter. Doch die Blicke der anderen sprachen dagegen. Das Mädchen mit den roten Schleifen an den Zöpfen hörte die gemurmelten Zurufe der Mitschülerinnen und wollte sich unter der Schulbank verstecken: Deine Nase ist zu groß, deine Stirn zu niedrig, deine Ohren zu riesig, deine Stimme zu rau, deine Hände sind Krallen, du bist ein halbes Tier, und niemals, niemals, niemals wirst du schön sein als Frau.

Und diese Gemeinheiten konnte sie zu Hause nicht erzählen, weil sie sich schämte, weil sie fürchtete, die Mutter zu enttäuschen. Weil die schimpfen würde, dass Vroni sich nicht wehrte, dass ihr Kind sie nicht unterstützte in dem Bemühen, es den anderen zu zeigen. Weil sie schwach war und hässlich, ohne das Versprechen, jemals Schwan zu sein. Weil auch der Schwan schwarz bleiben würde und sein Hals zu lang, seine Stimme zu schrill. Es reichte nie. Es reichte nicht, dauernd all das zu tun, was die anderen dauernd taten, weil sie es waren, die Vroni bestimmten, die bestimmten, ob sie Teil sein durfte oder nicht.

Und die Mutter speiste Vroni ab. Mit Büchern. Mit Torten zum Geburtstag. Manchmal aber konnte selbst Karin nicht widerstehen. In der Pfarrbibliothek fand sie ein Bilderbuch über Tiger und Elefanten, geschrieben von einem Deutschen, der in Ceylon gelebt hatte, und las es ihrer Tochter vor.

Im scharfen Trab durch Hindustan

Begibt sich hier ein Reitersmann.

Im Dschungel, wo er angekommen,

Da wird zunächst der Baum erklommen.

(2014)

In Vronis Küche in Hofkirchen klickte ich auf den Link und zeigte ihr den Film über den gefangenen Elefanten mit traurigen Augenbrauen, der mit seinem Rüssel die Kurbel eines Leierkastens drehte, aus dem die Schnulze dröhnte.

Derweil fragt sich der Papagei,

Was das auf seinem Kopfe sei.

Auf seinem altgewohnten Pfade

Entstieg der Elefant dem Bade;

Dort stellt man listig ihm die Schlinge,

Damit man ihn am Rüssel finge.

– Das waren die ersten Bilder für ein größeres Publikum. Inspiriert von Ceylon.

– Spannend! An das Bilderbuch kann ich mich gar nicht mehr erinnern.

– Ich mich schon. Aber dass der Autor auch Trickfilme gemacht hat, wusste ich bis vor Kurzem nicht.

Das Kinderbuch beschreibt die Geschichte eines Tierfängers, der am Rüssel des Elefanten zieht, bis der fast reißt, bis der schwere Körper besiegt am Boden liegt. Ungeschickt gezeichnet und für den Trickfilm holprig animiert, versehen mit schiefen Reimen und unterlegt mit einem schmalzigen Schlager.

– Absurd ist ja, dass dieser Tierfänger, also der Autor des Buches, nachdem er Ceylon verlassen musste, zwischendurch sogar Spielfilme drehte, in denen er vom Dschungel erzählte. Und der Schlager, den sie dafür als Soundtrack verwendeten, auch nicht uninteressant, stammte von zwei jüdischen Österreichern, die in der Nazizeit aus dem Land gejagt wurden.

– Aber was hat das mit meiner Geschichte zu tun?

– Jede persönliche Geschichte ist auch mit der Geschichte rundherum verbunden. Und je mehr wir über die Vorgeschichte erfahren, desto besser können wir sie verstehen.

– Aha, wenn du meinst.

Als ich am Bahnhof angekommen war, hatte ich den Sonntag aus meiner Kindheit mit der undurchdringbaren Wand aus Trägheit wiedererkannt. Die Nebelsuppe draußen, die Küchengerüche innen, das Konzert klassischer Musik halblaut aus dem Kofferradio. Interviews mit Dirigenten, Künstlergespräche, bis man in den Mittagsschlaf sank. Leise Musik, leise Stimmen, leere Straßen, schwache Umrisse verschluckt vom Dunst, katholische Kreuzesruhe. Und dann fiel Dunkelheit ein, bevor der Tag noch richtig begonnen hatte.

Vroni hatte mich abgeholt, und wir saßen in ihrer Eigentumswohnung bei Kräutertee und Kuchen. Das Licht im Wohnzimmer bereits angedreht.

– Sag, warum ist das wichtig, dieser Trickfilm?

– Mr John, wie der Tierfänger sich nennen ließ, hat nicht nur Tiere nach Europa gebracht, sondern auch Menschen. Das waren die ersten Ceylonesen, denen die Europäer begegneten. Meist konnte das Publikum die Tänzer und Musiker in eigenen Anlagen innerhalb des Zoos betrachten. Die haben ganze Dörfer und Teestuben, sogar Zelte aufgebaut.

Vroni seufzte, nahm einen Schluck Tee, schob ihre Lippen vor.

– Aber ich habe gedacht, du schreibst über Victor und mich? Was hat das damit zu tun?

– Weiß ich derzeit nicht genau. Ich muss erst alles sammeln, lesen, anschauen. Hast du die Fotos?

Sie griff nach dem in grünes Leder gebundenen Album. Wir rätselten wegen des Datums, das Karin als Titel über der Dokumentation ihres Londonaufenthalts vermerkt hatte.

– Mai 1961 bis September 1963. Das kann nicht stimmen, dass sie bis 1963 in London gewesen ist. Ich bin doch 1962 geboren.

– Vielleicht ist es das geplante Datum? Sie wollte möglicherweise so lange bleiben und ist wegen der Schwangerschaft früher zurück nach Österreich?

– Vielleicht. Schau, auch das habe ich gefunden!

Vroni holte ein umfangreiches Paket Fotografien aus einer Hülle.

– Von meiner ersten Reise nach Sri Lanka. Ich habe so viel fotografiert damals. Ich weiß nicht mehr, wie viele Filme.

Ich begann zu blättern: Vroni, die Augen mit Khol umrandet, das Haar aufgesteckt, ihr Oberkörper in einem kurzen Leibchen, das den Bauch frei lässt. Um ihre Hüften ein smaragdfarbenes Tuch. Die Hände gefaltet an die Brust gelegt, steht sie inmitten tropischer Blätter verschiedenen Grüns. Spitzig lange, dünn gefächerte, rund fleischige Formen, durchbrochen von Früchten und blutstropfenkleinen Blüten. Endlich. Nach fünfunddreißig Jahren.

Darunter eine Aufnahme des Mannes, von dem alles ausgegangen war. Victor mit nassen Haaren, nackt bis auf eine schmale Badehose, Füße und Schenkel überzogen von Sand. Er hält sich an seinen Zehen fest. Lächelt. Das Brusthaar fast weiß.

Auf dem nächsten Foto sind Vater und Tochter vereint. Vroni mit einem Blick, den ich nicht kannte an ihr; verwegen mit Victors Arm um ihre Schultern, selbstbewusst, als wollte sie sagen: Seht her, das bin ich, hinter mir klappert der Bambus, mein Schultertuch trägt Flammen, und das Hemd meines wirklichen Vaters aus gelber Seide verdeckt seinen Bauch.

– Wir sind ziemlich viel gereist, damals.

– Ihr beide.

– Nein, schau! Da waren ständig Freunde dabei. Oft waren wir eingeladen.

Vroni wühlend in Bergen von getrockneten Halmen, lächelnd. Hinter ihr Erntearbeiter, die Büschel von Reis sammeln, während die Wolken mit dem nächsten schweren Guss drohen.

– Regenzeit. Hier haben wir einen Eselskarren getroffen und sind stehen geblieben. Victor hat gemeint, ich soll mich daraufsetzen, und er hat fotografiert.

Es war wie auf den Fotos ihrer Mutter in London. Vroni platziert vor allem Sehens- und Bemerkenswerten. Vor Tempeln, Wasserfällen, Bergen, vor Hotels, vor Ausblicken ins Weite, allein oder zusammen mit Victors Freunden posierend. Dieselbe Geste, eine Bestätigung! Ich in der Fremde! Wie das Kritzeln von Initialen, zusammen mit Datum und Herz.

– Victor ist viel in der Welt herumgekommen und hat mir Fotos von seinen Reisen geschickt. Magst du noch Tee?

– Ja, gern.

Ich blätterte durch die gesammelten Andenken:

Victor vor der Bucht von Sydney.

Victor stemmt Ayers Rock.

Victor vor einer Höhle zusammen mit einem Freund.

Victor in Indien. Mit Herrschergeste, einen Arm in die Hüfte gestemmt, die andere Hand in den Hosentaschen, in weißes Leinen gekleidet, passend zum Gemäuer des Palastes.

Victor mit Schiebermütze mit Aborigines. Ihre Bäuche sind in weißen Streifen bemalt. Vor ihnen das rote Tuch mit ein paar Münzen. Victor gibt dem Dicken die Hand.

– Und da, wo seid ihr da?

– Irgendwo in den Bergen. Es war so heiß, und wir sind zu diesem Wasserfall gekommen.

28.8.1998, orange leuchtende Ziffern am rechten unteren Rand. Vroni in schwarzem Badeanzug klettert die Felsen hoch. Victor lässt sich von einem Wasserstrahl, der durch ein Bambusrohr läuft, den Kopf benetzen. Sein Gesicht erhoben, das kühle Nass empfangend. Sein dickbäuchiger Freund mit roter Badehose reckt den Oberkörper in die weiß sprühenden Strahlen. Eine Frau, in kariertes Tuch gekleidet, übergießt sich mit Wasser aus einem Plastikeimer, shampooniert ihr langes Haar.

– Wer ist sie?

– Die Frau von Lloyd. Ich war zur Hochzeit eingeladen.

Schließlich Victor in einem Felsenbecken. Sein Rücken wird von einem jungen, kräftigen Mann eingeseift.

– Und wer ist das?

– Das ist Royce. Der Bruder von Lloyd.

– Der sieht unheimlich aus.

– Ja, ist er. Ich habe das nur zu spät bemerkt.

Später sitzen die Männer in einer Runde auf der Terrasse des Hotels. Geschrubbt und breitbeinig. Die leuchtenden Sarongs in Stahlblau, Sonnenrot, Lehmgelb bis zu den Knien geschürzt. Große Flaschen mit karamellfarbener Flüssigkeit auf dem Tischchen.

– Was trinken die?

– Keine Ahnung, wahrscheinlich Rum oder Arrak.

– Aber schau, das kann nicht stimmen. Da ist auf der Rückseite als Datum der 25.5.98 angegeben. Da warst du noch gar nicht in Sri Lanka.

– Hm. Vroni überlegte. Ja, ich kann mich an diese Situation gar nicht erinnern. Obwohl. Ich bin ja nie mit denen gesessen und habe Rum getrunken.

– Und woher hast du das Foto?

– Vielleicht von Friedrich? Der war ja drei Monate vorher dort. So hat er meinen Vater kennengelernt.

– Dieser Mann aus Wien?

Eine Woche nach meinem Besuch in Hofkirchen traf ich Friedrich im Kaffeehaus. Und er erzählte mir von dem Zufall, der Victor und Vroni zusammengeführt hatte:

»Ich glaube, das war 1998, so später Frühling, es hat noch viel geregnet. Ich und meine Freundin wollten mit Rucksack die Insel erkunden. Weil, die Transportmittel sind ja sehr gut, hatte ich gehört, so Minibusse, das ist unproblematisch.

Aber am Flughafen hat uns sofort ein Mann angesprochen und gefragt, ob wir nicht ein Auto mit Chauffeur mieten wollen, und wir dachten, warum nicht, das ist praktisch. Im Preis waren auch seine Übernachtung und sein Essen enthalten. Dafür hat er alles organisiert für uns. Das zahlt sich schon aus, weil man wirklich alles sehen kann, was man so sehen will.

Dem Fahrer haben zwei Zähne gefehlt auf der Seite, das machte beim Reden so seltsame Geräusche. Und immer hat er sich von meiner Freundin Zigaretten geschnorrt. Sie rauchte ganz leichte Zigaretten, ich wunderte mich, dass er die überhaupt genommen hat. Also das waren die störenden Sachen an ihm. Zehn Tage hat er uns dann durchs Land kutschiert. Wir haben Königsstädte angeschaut, sind dann über das Hochland in den Süden bis zur Küste. Und in Kandy haben wir haltgemacht, in der Nähe hat er nämlich gewohnt. Wir wurden zum Abendessen bei seiner Familie eingeladen.

Die hatten noch eine offene Feuerstelle in der Küche, rundherum alles ganz schwarz. Vorher hat der Fahrer gesagt, dass wir seiner Frau nicht verraten dürfen, wie alt er ist, weil er sich nämlich bei der Hochzeit um einiges jünger gemacht hat. Auch seine Mutter war schon ziemlich alt, und meine Freundin hat sofort einen Fauxpas begangen, weil, die Frau hat ausgesehen wie neunzig und sie hat sie dann auf achtzig geschätzt, als sie gefragt haben, aber sie war erst fünfundsechzig. Die Leute altern offensichtlich sehr schnell. Auch, weil sie Betel kauen.

Also, wir aßen bei der Familie und sind dann weitergefahren. Das war sehr angenehm, weil wir immer aussteigen konnten, wo wir wollten, und nicht auf Busse warten mussten. Ich war froh, dass ich nicht selbst gefahren bin, der Linksverkehr und die vielen Schlaglöcher und dann dauernd Leute, die über die Straße laufen, die vielen Moped- und Radfahrer. Da hätte ich sicher einen Unfall gebaut. Es war so ein imperiales Gefühl, er war unser Diener, der alles macht, was der weiße Herr sagt. Meiner Freundin hat er auch immer die Tür aufgehalten, sehr klassisch. Und im Süden hat er uns zu verschiedenen Resorts geführt, wir konnten uns eins aussuchen. Und wenn wir das nächste Mal kommen, meinte er, dann sollen wir direkt mit ihm verhandeln, weil das billiger ist als über die Agentur, für die er fährt.

Wir entschieden uns für ein Resort in Tangalle. Hütten auf Stelzen. Eigentlich wollten wir viel an den Strand, aber lange haben wir’s dort nicht ausgehalten, wegen der vielen Sandflöhe. Wir sind auf unseren Handtüchern am Boden gelegen, und das war sehr unangenehm, ständig die juckenden Stiche. Liegestühle gab es keine. Wir haben dann immer kleine Ausflüge unternommen, sind einfach zur Hauptstraße und haben dort den nächsten Bus angehalten. Weil, Ausländer werden immer mitgenommen. Das war so ein Spaß. Einmal kam ein Bus voller Schulkinder, und wir winkten, haben dann aber gesehen, dass er voll war, aber nein, der Fahrer hielt, wir mussten einsteigen, es war total eng, wir gequetscht zwischen den Kindern, aber die lachten und begafften uns. Wir waren eine Sensation.

Einmal ist im Bus neben uns Mann gesessen, der sich eine Diabetesspritze gesetzt hat, und wir kamen ins Gespräch. Er erzählte, dass er Lehrer war und jetzt in Rente und dass er immer ein halbes Jahr in den Süden fährt und dort Kinder unterrichtet, weil es dort zu wenig Lehrer gibt. Und dann, als wir zum Strand kamen, liefen die Kinder auf uns zu und schrien: school pen, school pen, wollten Kugelschreiber haben, das haben sie schon gewusst, dass sie die Touristen anbetteln können. Da waren auch Touristinnen, die den Kindern Unterricht gaben und, wenn sie was gelernt haben, ein Geschenk oder Bonbons. Wir unterhielten uns mit einem jungen Mann, und er wollte uns zu sich einladen. Wir waren aber schon so müde von den Einladungen, weil die Leute so schlecht Englisch sprechen, noch dazu singhalesisches Englisch, und man sich kaum unterhalten kann. Die Leute sind dann stolz, dass sie einen Ausländer mitgebracht haben, und alle sitzen in der Küche vorm Fernseher, und sonst passiert nichts, kein Gespräch, gar nichts. Das wollten wir nicht mehr. Aber der junge Mann meinte, zum Abendessen heute kommt ein Engländer, und der spricht gut, da können wir uns unterhalten. Nur deshalb sind wir noch mit. Der junge Mann war vorher Soldat, er hatte irgendeine Schussverletzung, die hat er uns gezeigt.

In dem Haus lebten noch zwei Schwestern und die Eltern. Eine Schwester war nur zu Besuch, sie hatte sich gegen den Willen der Eltern gestellt, wollte ihr eigenes Leben führen und hat sich den Mann selbst ausgesucht, das war ein Konflikt in der Familie, vor allem mit dem Vater, aber sie war halt eigensinnig. Dadurch war die Stimmung etwas angespannt, aber die Frauen haben sowieso nicht mit uns gegessen, die sind alle in die Küche verschwunden. Man hat gemerkt, dass es zwar nicht so ist wie in muslimischen Ländern, wo die Frauen überhaupt nicht teilnehmen dürfen, aber ihr Status war schon deutlich niedriger. Und meine Freundin ist sehr offenherzig, ist in die Küche gegangen und hat nachgefragt, bist du verheiratet, und wie ist das mit dem Sex und der Beziehung, und so haben wir erfahren, dass vieles nicht rosig ist.

Und so sind wir mit Victor ins Gespräch gekommen, weil, er war auch Gast an diesem Abend. Er sprach von seinen Verbindungen zu Österreich, dass er eine Frau aus Hofkirchen kannte, die er in London kennengelernt hatte, dass er eine Tochter von ihr hat, aber keinen Kontakt, und ob wir da nicht helfen könnten. Und er wusste den Mädchennamen der Frau und den Namen der Stadt Hofkirchen. Also dachte ich, mit diesen Daten sollte es leicht sein, weil es in Österreich ja ein Melderegister gibt.

Er hat uns ein bisschen in Tangalle herumgeführt. Hat uns seinen Baugrund gezeigt.

Wir haben darüber gesprochen, dass man mit europäischem Know-how was daraus machen könnte, sodass es für Touristen einen bestimmten Standard hätte, also mit Liegestühlen gegen die Strandflöhe zum Beispiel. An solche Sachen denken die Einheimischen ja nicht. Also haben wir zusammen überlegt, wie das aussehen könnte.

Mit seinen Fischerfreunden sind wir auf einem Boot hinausgefahren, schnorcheln, da wurde viel getrunken und natürlich gegessen, und offensichtlich hat Victor das alles bezahlt. Einmal waren wir auch bei einem dieser Fischer zu Hause eingeladen. Wir haben jede Menge Palmwein mitgebracht als Gastgeschenk. Darüber haben sie sich sehr gefreut, der Alkohol war in kürzester Zeit ausgetrunken. Und sobald die letzte Flasche leer war, sind sie ziemlich schnell abgezischt. Teilweise mussten die Männer von den anderen hinausgetragen werden, so betrunken waren sie. Das war kein geselliges Beisammensein, wo man sitzt und sich unterhält und dabei trinkt, sondern eher: Man ist nett, grinst den anderen an, ist froh, in Gesellschaft zu sein, aber man hat sich nichts zu sagen. Nothing to say, but it’s okay.

Die Fischer waren arm, Victor hat erzählt, dass sie Hummer fangen und teuer an die Touristenhotels verkaufen. Und das Geld investieren sie sofort in Palmwein. Sie betrinken sich und trauen sich nicht nach Hause zu ihren Frauen. Am Strand schlafen sie ihren Rausch aus. Zum Teil waren sie verschuldet, obwohl man mit dem Hummer gut Geld verdienen konnte. Sie tauchen sehr tief und fangen mit bloßen Händen bis zu fünf Tiere. Zwei nehmen sie unter die Achseln, einen zwischen die Füße und zwei in die Hände.

Das war schon so, als ich das erste Mal die Insel bereiste. 1993. Touristisch war noch fast nichts erschlossen. Wenn man da an den Strand ging, hat man die Leute beim Scheißen gestört, weil, die sind da alle aufs Klo gegangen damals. Das war unangenehm, überall sind da die Scheißhaufen gelegen. Das war damals in der Nähe von Hikkaduwa. Die Gegend war schon immer für Surfer bekannt. Surfer und Kindesmissbrauch. Die ersten Westler, die dort angekommen sind, waren die Heroinsüchtigen, die aus Goa ausgewiesen worden sind. Früher haben die Fischer noch selbst die Fische und die Hummer essen können, aber durch den Tourismus sind die Preise in die Höhe gegangen. Die Fischer sind dann oft gar nicht mehr rausgefahren, weil es bequemer war, die Touristen zu den Riffen zu bringen. Da haben sie am Tag mehr verdient als durchs Fischen. Der Tourismus zerstört halt viel. Man merkt zwar irgendwie, dass hinter den schönen Fassaden die Armut ist, aber will nicht daran denken, dass man die Situation vielleicht mit ausgelöst hat.

Jedenfalls, als ich zurück war, rief ich in Wien bei der Meldestelle an und wurde nach Oberösterreich verwiesen. Ich versuchte es in Linz, man verwies mich auf Wels, und der Beamte dort verwies mich auf Datenschutz, er könne da nichts machen. Also habe ich ihm die Geschichte geschildert, die natürlich sehr rührend war, und er sagte, na gut, er kann einen Auszug aus dem Register machen, aber ich muss ihm hundert Schilling in Briefmarken schicken. Da dachte ich, lächerlich, ich schaue lieber ins Telefonbuch, und dann habe ich die Nummer gleich gefunden. Zuerst hatte ich Vronis Schwester am Telefon. Sie sagte mir, dass Vroni in der Nacht arbeitet. Und ich habe vermutet, aha, Kellnerin oder so.

Später habe ich Vroni erwischt, und sie sagte mir, dass sie ihren Vater schon lange sucht, und wir haben uns im Café verabredet. Ich war ziemlich neugierig und dachte, na, die Tochter wird jetzt sicher dunkel sein. Und dann ist eine Hellhäutige reingekommen und hat sich umgeschaut, also schwarzhaarig war sie schon, und das war dann die Vroni. Ich habe ihr die Fotos von unserer Reise gezeigt, damit sie weiß, wie der Vater aussieht, das war für sie natürlich das Wichtigste.

Vronis Telefonnummer habe ich dann Victor nach Sri Lanka geschickt, und so konnte der sie dann bald darauf anrufen.«

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(1998)

Kampfgeschrei von Krähen im Mangobaum und anhaltendes Pfeifen einer Eisenbahn, die hinterm Haus vorbeirauschte, weckten Veronika. Sie zog das Laken von ihrer verschwitzten Haut. Spätnachmittag in Colombo. Mittag in Österreich. Der Deckenventilator klackerte, bewegte die schwere Luft bloß und kühlte kaum. Sie wollte sich erfrischen. Doch dazu hätte sie in die im Garten halb vergrabene Tonne steigen und sich mit dem Schlauch abspritzen müssen. Victor hatte ihr, bevor sie sich schlafen legte, gestanden, dass es weder Badezimmer noch warmes Wasser gab.

– Wir gießen uns wie das Gemüse. Derselbe Gartenschlauch. Oder du schöpfst mit dem Plastikbecher aus der Tonne und wäschst dich so.

Veronika überlegte. War es das wert? Kurz sehnte sie sich nach dem vertrauten Bad zu Hause, das ihr nun paradiesisch erschien. Sie konnte sich nicht vorstellen, in einem unbekannten Land zum Duschen nackt im Freien herumzustehen. Oder zog man sich dazu nicht aus? Hatte das nicht im Reiseführer gestanden? Dass die Frauen sogar am Strand bedeckt blieben, selbst in der Hitze lange Röcke trugen? Sie beschloss, sich nur Gesicht und Oberarme bis zu den Achseln zu waschen.

Sie war so lange unterwegs gewesen und nach dem achtstündigen Flug frühmorgens durch die Gänge des Flughafens geeilt, vorbei an Geschäften mit Waschmaschinen, Fernsehern und Computern.

– Duty Free. Erklärte Victor später. Ausländische Produkte sind dort billiger.

Unmengen von Männern strömten in der Ankunftshalle hin und her und auf sie zu:

– Taxi, Madam! – Brauchen Sie eine Limousine mit Fahrer? – Wechseln Sie Geld! – Unsere Kurse sind die besten! – Woher kommen Sie? – Hallo, ich bin Michael! – Brauchen Sie ein Hotel?

Die Ausrufer dirigierten Veronikas Blick. Ihre grüßenden Gesichter hinter Verkaufstischen hatten sie im Visier gehabt, lange bevor sie die Buden erreichte. Sie lächelte unsicher, schüttelte den Kopf, kämpfte sich durch, aufgeregt. Victor erwartete sie.

– I have a question. How do we know us? Hatte sie am Telefon wissen wollen.

– Geh einfach durch die Halle bis zum Hauptausgang!

Also durchbrach Veronika den Kordon der Abholer mit ihren Schildern, erreichte einen Platz voller Klappstühle vor der Anzeigetafel, wo ratternd Buchstaben und Zahlen auf und ab fuhren. Die Stimmen hallten. Veronika studierte flüchtig einige Gesichter, verglich sie mit dem Foto in ihrer Hand. Vielleicht wartete er ja hier? Aber es waren zu viele. Sie erkannte niemanden und schlüpfte durch den Ausgang. Erhitzte Luftströme schlugen ihr entgegen. Sie bugsierte den schweren Rucksack von ihren Schultern. Wo war Victor? Er hatte doch versprochen, sie abzuholen! Und was, wenn er sie erneut alleinließe? Vielleicht hatte er es sich anders überlegt? Oder etwas war ihm dazwischengekommen. Oder der Verkehr? Was sollte sie dann tun? Sie tastete in ihrem Geldgürtel nach seiner Telefonnummer, um sich sicherer zu fühlen, hielt bereits Ausschau nach einem Telefon.

– Veronika, Veronika!

Ein hellblaues Auto. Ein Mann streckte seinen Kopf aus dem hinteren Wagenfenster, öffnete die Tür, trat in beigefarbenen langen Hosen, Sandalen und weißem Hemd auf sie zu und trug – anders als auf dem Foto – eine Brille. Das war er also! Ihr männliches Spiegelbild. Er hatte Veronika nicht vergessen. Sie atmete auf.

– Bist du meine Tochter?

Sie grinste, nickte.

– Und du mein Vater?

Sie fielen sich in die Arme, hielten einander. Veronika musste kichern. Obwohl jetzt der Moment war, wo andere an ihrer Stelle weinten. Zumindest in den Fernsehsendungen, die sie Woche für Woche verfolgt hatte: Wenn nach langen Jahren die Kinder den leiblichen Vater, die leibliche Mutter trafen, weil sie adoptiert, in andere Länder verschickt worden waren oder weil der Vater es in der Fremde nicht ausgehalten hatte oder weil die Mutter gezwungen wurde, weil das Kind zu verhungern drohte oder weil die Eltern sich unversöhnlich trennten.

Veronika jedoch kamen keine Tränen. Und Victor ließ ihr zum Heulen auch keine Zeit, denn der Fahrer hupte, der Vater riss sich aus ihrer Umarmung, schnappte den Rucksack, schleifte ihn zum Auto. Nach dreieinhalb ungewissen Jahrzehnten saß sie nun neben einem fremden Mann, von dem sie bislang nur den Namen und die Stimme am Telefon kannte. In den also hatte ihre Mutter sich verliebt. In London. Sie konnte ihn nur ansehen, nichts antworten auf seine Fragen. Endlich am Ziel.

– Ich werde dir alles zeigen, Veronika. Alles!

Sie nickte. Ihr Blick von Erstaunen und Rührung verschleiert. Das Weinen blieb weiterhin aus. Victors Wagen bewegte sich nur langsam vorwärts. Der Vater nahm die Brille ab, packte ihre Hände. Redete auf Veronika ein. Bis er irgendwann merkte, dass sie ihn kaum verstand, weil er schnell sprach und jedes zweite Wort verschluckte. Sie lachte in seine Verwirrung, schaute ihn nur an. Manchmal versuchte sie ein paar englische Worte, die sie in Hofkirchen noch eingeübt hatte und die mühsamer aus ihr kamen als sonst, durcheinander wie sie war. Die eigene Stimme erschien wie abgetrennt von ihrem Körper. Bald sprach Victor über den schlimmen Verkehr, und so blickte sie durchs Fenster auf das Gewirr aus Mopedfahrern in dicken Jacken und Helmen, aus Fahrrädern, Handwagen, Tuk-Tuks, aus Fußgängern in Trauben und aus Lieferwagen. Sie fuhren zwischen Staub, Abgasen und voll bepackten, hupenden Bussen, die sich halb über den Mittelstreifen neigten und erst im allerletzten Moment vor einem Frontalzusammenstoß zurücksteuerten. Veronika schrie jedes Mal auf, konnte kaum hinsehen. Victor lachte darüber. Sie fiel in sein Lachen ein, wollte nicht mehr aufhören, spürte wie der Druck hinter ihrer Stirn sich löste und die Tränen zu rinnen begannen. Schniefte. Victor reichte ihr ein Taschentuch aus Stoff, mit dem sie sich das Gesicht abrieb, die Nase putzte. Dann schimpfte er über den Verkehr, unterhielt sich mit dem Fahrer. Im Auto war es angenehm kühl. Veronika wurde wieder müde und still. Nach zwei Stunden im Stau gelangten sie endlich zu seinem Haus, wo sie ihr Gepäck ablegte und ihn sofort zum Einkaufen auf den Markt begleitete.

– Das musst du sehen, Veronika! Du darfst dich jetzt nicht hinlegen, auch wenn du müde bist. Sonst gewöhnst du dich nie!

– No, no! I like markets!