Über Winfried Hammelmann

Winfried Hammelmann, 1959 in Bremen geboren, machte erst einen Umweg über das Bankwesen und studierte Germanistik und Kunst, bevor er zum Radio kam. Seitdem ist er als Moderator, Redakteur und Satiriker für Hörfunk und Fernsehen tätig, u.a. für Radio Bremen, WDR, HR und das ARD-Morgenmagazin. Die Zahl seiner Radioserien und Fernsehkolumnen liegt bei über vierzig. Seit 2001 hat er außerdem eine wiederkehrende Rolle im Bremer Tatort.

Sie war wunderschön und ziemlich tot. Dabei hatte alles so gut angefangen. Ich führte schon eine glückliche Beziehung mit Lena, als es noch gar keine war.

Es brauchte zwei Anläufe, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Bedauerlicherweise lagen zwischen diesen Versuchen mehrere Monate … und das Jenseits.

Alles begann in unserem Stammlokal im Bremer Stadtteil Oberneuland. Dieses Lokal hatte im Laufe der letzten Jahre oft den Namen gewechselt. Erst hieß es Ave Maria. Weil Chef Antonio mit Maria zusammen war. Dann ging die Beziehung in die Brüche. Fortan nannte er sein Lokal nur noch Ave. Seine nächste Beziehung hatte er mit einer Frau, die total anders war als seine vorherige Liebe, und die ihm komplett den Kopf verdrehte. Das äußerte sich auch darin, dass Antonio den Namen des Restaurants einmal umdrehte. Es hieß von nun an Eva. Etwa ein Jahr später folgte die nächste Taufe.

Jetzt hieß die Gaststätte Adam, und wir waren uns sicher, dass Antonio damit sein Coming-out hatte. Die Dekoration änderte sich, die Karte änderte sich, das Personal änderte sich, aber wir waren immer noch dieselben: Wir, das sind mein bester Freund Tim, genannt TimTim, meine beste Freundin Katrina, genannt Ina, und mein zweiter bester Freund Jan, genannt Jan. Die neuen Kellner kamen und gingen so oft, dass man gut daran tat, sich nicht zu sehr an sie zu gewöhnen.

Aber in diesem Sommer war alles anders. Wieder waren

Ich hatte mich schon fast damit abgefunden, mein Leben bis zu meinem Ableben als Single zu fristen. Da ich an ein Leben nach dem Tod glaubte, hoffte ich auch ein bisschen darauf, zumindest im Jenseits eine Frau zu finden, in die ich mich verlieben könnte, und die – was viel wichtiger war – meine Liebe erwiderte. Es heißt ja vermutlich Himmelreich, weil der Himmel reich an Menschen ist. Schließlich gibt es entschieden mehr Menschen im Himmel als auf Erden. Und wo so viele Artgenossen sind, da findet man auch viele Frauen. Und wo sich viele Frauen aufhielten, wird ja hoffentlich auch eine für mich dabei sein.

Im Diesseits hatte ich mich weitgehend damit abgefunden, allein ins Bett zu gehen, allein aufzustehen, und auch das, was man im Bett so anstellt, allein zu machen, also schlafen, lesen und träumen.

Ina, TimTim und Jan sahen mich als ewigen Single. Und wenn ich mal von einer Ex sprach, guckten sie mich an, als würde ich chinesisch sprechen oder über Hobbits oder über chinesische Hobbits. Ehrlich gesagt kam es mir von Jahr zu Jahr selbst immer seltsamer vor, von den wenigen Verflossenen zu sprechen, die es in meinem Leben gab.

Ja, ich hatte ein Liebesleben: Es gab einen ersten Kuss. Es gab den ersten richtigen Kuss. Es gab den ersten Sex. Es gab den ersten richtigen Sex. Es gab sogar den ersten Fesselsex. Leider war ich bei all diesen ersten Erfahrungen immer alleine. Ich war immer noch auf der Suche nach der ersten großen Liebe. Mir wäre sogar eine mittelgroße Liebe recht gewesen. Aber seit fünfeinhalb Jahren passierte in dieser Richtung einfach nichts. Gar nichts.

Und dann kam Lena.

2

Es war ein lauer Sommerabend. Und es war ein lauter Sommerabend. Lauter laute Leute. Lauter Stammgäste, die sich angeregt unterhielten. TimTim, Jan und Ina saßen bereits an unserem bevorzugten Tisch und begrüßten mich gleichzeitig: »Hallo, Nils.«

Wie immer antwortete ich: »Hallo, ihr drei.«

»Wir haben schon die Getränke bestellt«, sagte Jan.

Darauf entgegnete TimTim: »Ich weiß.«

Worauf Ina korrigierte: »Jan meinte nicht dich, TimTim, sondern Nils.«

»Ich weiß«, ergänzte ich, »er meinte mich, nicht dich, TimTim.«

Es versprach ein inhaltsschwacher, aber amüsanter Abend zu werden.

Jan schaute in meine Richtung, um dann mit einer kurzen Kopfbewegung und hochgezogenen Augenbrauen zu einer jungen Frau zu deuten: »Das ist die Neue.«

»Von wem?«, wollte ich wissen.

»Vom Chef«, sagte er grinsend.

»Jetzt doch wieder eine Frau?«

»Wie jetzt? Die da vorne ist keine Frau?« Ich war ein Meister im Falschverstehen.

»Nils, das ist die neue Kellnerin«, klärte Jan mich endlich auf.

Eigentlich waren wir müde von diesen vielen Personalwechseln der letzten Jahre, deshalb sagte ich, Müdigkeit simulierend: »Ein Kommen und Gähnen.«

Obwohl sie gar nicht so weit von unserem Tisch entfernt stand, war ich mir relativ sicher, dass sie mich nicht gehört hatte, denn es war sehr laut im Adam. Jetzt drehte sie sich zu mir um, und ich war mir gar nicht mehr so sicher, ob sie unser Gespräch nicht doch mitbekommen hatte. Also blickte ich verlegen zur Seite. Sie trat an unseren Tisch. Ich war drauf und dran, mich für meine blöde kleine Bemerkung zu entschuldigen. Dann erst blickte ich in ihr Gesicht, und es war um mich geschehen. Nie zuvor hatte ich eine so bezaubernde Frau gesehen.

»Hi, ich bin Lena. Was möchtest du denn?«

Ich möchte, dass du dich auf der Stelle in den nächstbesten, blassen, etwas unförmigen, mittelgroßen Mann, ach so, und annähernd mittellosen Bankkaufmann, verliebst, der dir begegnet. Und das wäre dann ja wohl Nils Petersen persönlich. Meine Wenigkeit. Zunächst aber möchte ich, dass du aufgrund meines dämlichen Gesichtsausdrucks nichts Falsches denkst. So was wie: halb offener Mund = halb genutztes Hirn. Vor allem solltest du nicht zu schnell zu der Überzeugung gelangen, es mit einem Idioten zu tun zu haben. Zu spät. Denn ich war spontan nicht in der Lage, eine einfache Bestellung aufzugeben.

»Sag jetzt nichts Falsches«, sprang Ina ein, wissend, dass ich im entscheidenden Augenblick oft nicht die richtigen Worte finde.

Mein Gesichtsausdruck hatte sich während der letzten fünf Sekunden nur unwesentlich verändert: Aus einem halb

TimTim machte dem Elend ein Ende: »Bring ihm erst einmal ein großes Bier.«

»Null vier oder null fünf?«, fragte der fleischgewordene Engel vor mir.

Geistesgegenwärtig antwortete ich: »Ja.« Schmunzelnd drehte sie sich um, warf mir noch einen kurzen Blick zu, und mein Herz schlug noch höher.

»Was ist denn mit dir los«, fragte Ina, obwohl sie es ganz genau wusste. Darüber zu sprechen war mir in zweierlei Hinsicht unangenehm: Erstens war Ina selbst eine attraktive Frau, und zweitens konnte ich über so etwas ohnehin nicht gut sprechen. »Tolle Frau, was?«, sagte Ina stattdessen.

»Ja«, stammelte ich, und meine drei Freunde grinsten mich an.

»Ist sie …?« Alle drei zuckten mit den Schultern.

»Hat sie denn …?« Erneutes Schulterzucken.

»Aber sie hat doch bestimmt …?« Dreimal skeptische Blicke kombiniert mit hin und her wiegenden Köpfen.

Man merkte meinen Freunden an, dass sie sich für mich freuten; schließlich konnte sich keiner von uns vieren daran erinnern, wann eine Frau das letzte Mal etwas in mir ausgelöst hatte.

Später, nach dem zweiten Bier, kamen meine Komplimente richtig in Fahrt: »Lena ist so ein schöner Name, findet ihr nicht auch? Leeenaaa.«

»Ina finde ich noch schöner«, sagte der in Ina dauerverliebte TimTim. Sie waren seit acht Jahren ein Paar, hatten das verflixte siebte bereits hinter sich, benahmen sich aber immer noch wie frisch verliebt, was Frischverliebten manchmal gehörig auf den Senkel ging.

»Ey, du Charmeur«, warf Jan ein.

»Lena«, sagte ich erneut, »Lena, das klingt so rein, so unschuldig, so besonders. Und in dem Wort Engel steckt ja auch das Wort Lena, also die Buchstaben. Das hat doch was zu bedeuten.«

»Nein«, entgegnete Jan, »bei aller Liebe. Lena steckt nicht in Engel, sondern in Angel.«

»Und was hat das zu bedeuten?«

»Dass du dir Lena angeln sollst«, konterte TimTim. Und drei von vier gackerten los.

Petrus dachte über seinen letzten Fehler nach. Seit Jahren. Natürlich war er auch mit anderen Dingen beschäftigt: neue Menschen begrüßen, ihnen erklären, warum sie hier sind, sie in die Verhaltensregeln des Himmels einweisen und ihnen noch mal verdeutlichen, dass sie wirklich tot sind. Manchmal musste er den Verstorbenen auch den Unterschied zwischen Himmel und Hölle erläutern. Zudem war er ständig im Austausch mit den Erzengeln, die darüber befanden, welche Verstorbenen in die Hölle sollten und welche als menschliche Seelen im Himmel blieben.

Darüber hinaus widmete Petrus viel Zeit dem Glauben. Nicht seinem Glauben, schließlich war er sehr nah bei Gott. Nein, hier im Himmel ging es um den Glauben der Neuankömmlinge, aber auch der älteren Bewohner. Viele glaubten vor ihrem Tod an ein Leben nach dem Tod. Im Himmel angekommen gab es nicht wenige Menschen, die – nachdem sie ihren Tod akzeptiert hatten – so was sagten wie: »Ich wusste es!« oder »Na also, geht doch« oder »Chaka!«

Natürlich wollten viele, die zu Lebzeiten Gott gespürt, Gott gefühlt, Gott in ihrem Herzen oder im Hirn getragen hatten,

Wenn dann aber Ruhe eingekehrt war, dann dachte Petrus weiter über seinen letzten Fehler nach.

3

An unserem zweiten Kneipenabend mit der liebreizenden Bedienung Lena bestellten wir Pizza und Pasta. Ich hatte mich in den letzten Tagen gefragt, ob ich mich wirklich verguckt hatte, oder ob ihre Schönheit proportional zu meinem Alkoholkonsum gestiegen war, ob mein Herz auch beim nächsten Treffen höher schlagen würde.

Dann kam Lena an unseren Tisch. Vor lauter Lippen sah ich ihr Gesicht nicht sofort. Ich zoomte zurück. Wow, dachte ich. Wahnsinn. Hammer und alle anderen Werkzeuge dazu. »Ist das meine Nudel?«, war das Einzige, was ich hervorbrachte.

Alle lachten, auch Lena.

Ich stotterte: »Ist das meine … äh … Lasagne, meine ich …« Ich wurde knallrot. Das … das … das … war mir so unangenehm, dass ich selbst in meinen Gedanken zu stottern beg g g g gann. Und das mit 32 (in Worten: zweiunddreißig) Jahren.

Glücklicherweise saßen wir an dem Tisch, der am weitesten von der Küche und dem Tresen entfernt war, sodass ich sehen konnte, wie Lena den langen, viel zu kurzen Weg zurücklegte und unsere Getränke brachte.

»Oh, könnte ich noch Salz bekommen?«, fragte ich, nachdem ich den Streuer unter dem Tisch versteckt hatte. Auf meinen Wunsch hin bestellten wir die Getränke nicht gemeinsam, sondern nacheinander, damit sie öfter an unseren

Jan versuchte mich zu retten: »Aber seine Hände kleben so.« Recht hatte Jan, denn ich hatte Joghurt mit Walnüssen und Honig gegessen, ein griechisches Dessert, das im Adam neben Tiramisu, Tartuffo und Roter Grütze seit langem auf der Karte stand.

Geduldig brachte uns dieses wunderbare Geschöpf alles, was wir bestellten. Und ich begriff, warum schöne Frauen auf der Kinoleinwand, wenn sie einem Mann den Kopf verdrehten, in Zeitlupe gezeigt wurden: Echtzeit ist einfach zu schnell.

Der letzte Fehler von Petrus lag vierundfünfzig Jahre zurück. Fast ein ganzes Menschenleben. Na, sagen wir ein dreiviertel Menschenleben. Und genau diese vierundfünfzig Jahre wurden zu viel gelebt. Das kann man als Mensch kaum kapieren, für Petrus war es logisch: Es gibt ein Gleichgewicht zwischen Leben und Tod. Und wenn dieses Gleichgewicht gestört ist, gerät die Welt aus den Fugen – nicht mehr und nicht weniger. Menschen müssen gehen, müssen Abschied nehmen, müssen das Zeitliche segnen – so hatte Gott die Welt erschaffen.

Tatsächlich hatte Gott in einem sehr privaten Moment Petrus einmal erzählt, dass er weit weg von der Erde schon einmal eine Welt erschaffen hatte, in der die dort lebenden Wesen nicht starben, sondern älter und älter und älter wurden. Ihre Körper wurden immer schrumpeliger, ihre Gehirne schrumpften und ihre Geschlechtsorgane entwickelten sich in das Gegenteil. Was auch immer das bedeutete. Diese Wesen wurden zwar immer dümmer, aber leider nicht glücklicher.

Gott beendete das Projekt, indem er diesen Wesen, die sich

Und während die Tiere exakt so lebten und starben, wie es der Schöpfer für sie vorsah, gab es mit den Menschen und später auch mit den Engeln immer mal wieder Schwierigkeiten.

Selbst Petrus machte ab und zu Probleme. Als Gott sah, dass Petrus vergessen hatte, Käthe in den Himmel zu holen, war ihm sofort klar, dass er wieder mal einen Fehler gemacht hatte. Leben und Tod waren nicht mehr im Gleichgewicht.

4

Wir besuchten das Adam jetzt noch öfter. Beziehungsweise ich … oder, präzise ausgedrückt: Es waren immer andere Wirs mit der Schnittmenge Ich.

Aber schon am dritten Adam-Abend war Lena nicht da. Sarah brachte heute Speis und Trank an die Tische. Sie hatte sämtliche Namensänderungen und Personalwechsel überlebt. Alles hatte sich verändert, aber Sarah war geblieben. Nun gibt es unter den Bedienungen immer a) Nette, b) Blöde und c) Solalas. Superselten gab es auch d) die T.N.T., die Total-Nette-Traumfrau. Aber Sarah war eindeutig eine Solala – zumindest für viele Kunden. Für Ina aber war Sarah bald eine gute Freundin, mochten sie doch die gleichen Filme, die gleichen Bücher, die gleichen Schuhe und die gleichen Späße.

 

Warum wir uns ausgerechnet mit Sarah anfreundeten, erscheint bei oberflächlicher Betrachtung abwegig, ist bei genauerem Hinschauen aber schnell erklärt:

Auch Gäste kann man in a) Nette, b) Blöde und c) Solalas

Jedenfalls: Meine Freunde nennen mich Nils; weil ich beim Scrabble mal das Wort Nils gelegt habe und darauf bestand, dass ich den afrikanischen Fluss meinte, und zwar im Genitiv: »Ich bin ein Freund des Nils«, hatte ich damals gesagt: »Man kann doch auch mal im zweiten Fall Wörter legen.« Ich konnte mich nur durchsetzen, weil die anderen noch mehr getankt hatten als ich. Seitdem werde ich Nils genannt.

Eine Solala bediente also einen Solala. Natürlich erkundigte ich mich nach der T.N.T. Lena. Aber Sarahs Antworten blieben genauso oberflächlich wie meine Fragen.

 

Eines Tages, eines Kneipentages, eines tollen Kneipentages hatten Sarah und Lena gemeinsam Dienst. Es war ein sonniger Spätfrühlingstag. Ina und TimTim säuselten sich wieder gegenseitig an und versorgten sich mit allerlei Kosenamen, von denen Hutzeldutzel noch der sachlichste war.

Jan schwärmte vom letzten Werder-Spiel, nicht ohne mit seinem Handrücken nervös an seiner juckenden Nase herumzufummeln.

Ein bisschen genervt von allen dreien pampte ich Jan nur dreiviertelfreundlich an: »Du könntest auch Monks Sohn sein!« Monk war nicht nur seine Lieblingsserie; Jan hatte – genau wie die Hauptfigur – einige ungewöhnliche Ängste und Macken. Sich ein Nasenloch zuhalten und durch das zweite

 

Jan guckte irritiert: »Wie jetzt?«

»War nicht so gemeint«, setzte ich nach und dachte: Warum setze ich das nach? Er weiß, dass er monkt.

Jan zählt fünfunddreißig Lenze. Nein, das trifft es nicht. Lenz heißt ja Frühling. Jan zählt fünfunddreißig Herbste. Er war insofern ein ausgeglichener Mensch, als er in seinem Körper und in seinem Geist gleich viele Honk- und Nerd-Anteile vereint. Und die wurden nur zusammengehalten durch seine Monk-Macken.

Liebenswert ist er trotzdem. An diesem Abend aber war er kein nervender Nerd, sondern ein monkiger Honk. Eine Entschuldigung meinerseits war angemessen. Und so stießen wir mit Sambuca auf Eis ohne Kaffeebohne an.

Sarah und Lena gesellten sich mangels weiterer Gäste zu uns, und ich erfuhr, dass die beiden die dicksten Freundinnen waren, bereits in anderen Kneipen und Erlebnisgastronomien zusammengearbeitet hatten und dass Lena das Abendgymnasium besuchte.

Zack, erste Gemeinsamkeit. »AbGy hab ich auch gemacht. Ist allerdings schon ein paar Jahre her«, sagte ich. Viele Lehrer waren noch dieselben. Es wurde ein sehr netter Abend, bei dem ich die Chance nutzte, meine inneren Werte nach außen zu krempeln, um von meinen äußeren abzulenken.

Das Drittletzte, was ich über sie erfuhr, war, dass sie Horrorfilme mochte.

Das Vorletzte, was ich von ihr an diesem Abend erfuhr, war, dass sie es liebte, Motorrad zu fahren.

Das Letzte, was ich erfuhr, war: Sie hat einen Freund. Und das war wirklich das Allerletzte. Sie hatte einen Knuddelwuddel. Mist!

Er ist bestimmt ein Idiot: gut!

Aber es gibt ihn: blöd.

Vielleicht nichts Ernstes: gut!

Aber warum nicht, bei dieser Wahnsinnsfrau: blöd.

Aber die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass er auch ein toller Typ ist: sehr gut!

Nun bin ich auch kein toller Typ: sehr blöd.

Mir wurde zwischenzeitlich schwindelig, weil ich für den Bruchteil einer Stunde nicht mehr zusammenbekam, warum Männer überhaupt mit Frauen zusammenkommen. Ja, schon klar, zum Fortpflanzen, oder um den Fortpflanzungsakt zu vollziehen, ohne die Absicht zu haben, sich fortzupflanzen. Aber warum? Warum sollten Weibchen überhaupt idiotische Männchen an sich heranlassen? Mein Schwindel hing aber auch mit dem übermäßigen Konsum von Bier und Sambuca zusammen.

Zu Hause angekommen, drehte sich alles. Und alles drehte sich um Lena.

Mein letzter Gedanke war: Mein Baby gehört zu mir.

Der Fehler von Petrus war nicht, dass er die falsche Käthe in den Himmel geholt hatte. Es war auch nicht aus Versehen die Nachbarin von Käthe. Sein Fehler war auch nicht, dass er diese Käthe zu früh oder zu spät geholt hatte. Nein, Petrus hatte sie gar nicht geholt. Er hatte sie vergessen. Und ehe er sich’s versah, waren vierundfünfzig irdische Jahre vergangen.

Nüchtern betrachtet gehörte mein Baby natürlich nicht zu mir. Der Ausspruch macht außerdem keinen Sinn. »Mein« und »mir« sind beides besitzanzeigende Fürwörter. Entweder also »Das Baby gehört zu mir« oder »Das ist mein Baby«.

Das war das Geistreichste, was mir am nächsten Morgen einfiel. Einige Stunden später ließ mein Hirn etwas mehr zu. Hatte ich mich zum Idioten gemacht? Oder hat das ein anderer übernommen? Oder habe ich mich übernommen? Hat irgendjemand was genommen, was übel genommen? Was genommen, was Übelkeit auslöst? Ich versuchte mir diese und weitere Fragen zu beantworten und kam zu dem Schluss, dass der Abend nett gewesen war, sehr nett sogar.

Die nächsten Wochen sah ich immer nur Sarah und nie Lena. Ich fragte mich schon, ob sie mir aus dem Weg ging, was mir aber unsinnig erschien; schließlich wusste sie ja nicht, an welchen Abenden ich ins Adam kam. Und irgendwann war sie wieder da. Jetzt waren wir wieder zusammen … im selben Raum. Toll. Wie so oft waren wir zu viert da.

»Müsste deine Beziehung beziehungsweise Nichtbeziehung nicht mal in eine neue Phase übergehen?«, wollte TimTim wissen.

Bestimmt entgegnete ich: »Ja … nein … vielleicht. Warum nicht? Aber warum doch?«

»Du bist echt strange«, gab Ina ihrem TimTim recht – einem Baum von einem Mann: Zwei Meter groß, blond, breitschultrig, mit Zopf und Dreimal-Dreitagebart. Ein Typ, hinter dem ich mich verstecken konnte. Und mein Selbstbewusstsein passte locker zweimal hinter seins. Und optimistisch ist TimTim auch noch. Wenn Werder in der 80. Minute 0:3 zurückliegt, dann setzt er immer noch auf einen grün-weißen Gewinn. »Du musst irgendwann mal einen ersten Schritt wagen, der darüber hinausgeht, sie anzugaffen«, sagte er.

Auch Jan triezte mich jetzt: »Nicht immer nur glotz glotz glotz.«

Als Lena mir das Bier brachte, sagte ich halb locker zu ihr: »Ich gucke dir gerne zu.« Ein Schritt vor.

Sie guckte mich an, zog die linke Augenbraue leicht nach oben. Zwei Schritte zurück.

Ich machte ein mächtig übertriebenes Zeichentrickfigurenlächeln. Ein Schritt vor.

Sie schüttelte den Kopf. Zwei Schritte zurück. Dann drehte sie sich um und ging.

Wenn sie sich jetzt umdreht, wenn sie sich in den nächsten zehn Sekunden umdreht …, dachte ich und schloss die Augen. Wie oft hatte ich genau solche Filmszenen gesehen und beschlossen, sie blöd zu finden, und jetzt wünschte ich mir genau das. Aber mein Zeitgefühl war vollkommen durcheinandergeraten. Als ich die Augen wieder öffnete, stand sie längst hinter der Bar – und schaute bereits in meine Richtung! Just in dem Augenblick, in dem ich mir einen Hollywood-Moment wünschte, schaute sie mich an. Als ihr Kopf drohte, sich von mir abzuwenden, sprang ich auf, stürzte auf sie zu und rief in gespielter Zeitlupe: »NAAAAAAAAEEEEIIIINNN.« Drei Schritte vor.

Sie guckte irritiert. Vier Schritte zurück.

»Bist du noch ganz bei Trost?« Ein Schritt vor: Immerhin redete sie mit mir.

»Nee, ich bin nicht mehr ganz bei Prost.« Jetzt waren ihre Mundwinkel nach oben gegangen. Was aber eher daran lag, dass ich über die großen Füße eines an der Theke stehenden Gastes gestolpert war.

Ich glaubte, ins Nichts zu greifen, das stellte sich dann aber

Eigentlich war ich der festen Überzeugung, zu so einer Action nur imstande zu sein, wenn ich zuvor Bier aus Sambuca-Gläsern getrunken hätte – und Sambuca aus Biergläsern. Ich dachte darüber nach, was ich daraus ableiten könnte. Und nun kam ich – immer noch am Boden liegend – nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss: nichts. Ich dachte: nichts. Ich meinte: nichts. Und ich sagte: »Nichts.«

Ich hatte überhaupt nicht registriert, dass der Typ, der mit seinen Quadratlatschen im Weg gestanden hatte, gerade offensichtlich eine Frage gestellt hatte, die ich aufgrund meines Gepolters aber nicht gehört hatte. Er wiederholte sie netterweise für mich. Mit einem ziemlich bedrohlichen Unterton: »Zahlst du die Reinigung freiwillig?«

Blöd, dass ich seine Frage bereits mit meinem unvorsichtigen »Nichts« beantwortet hatte. Der Kerl wollte gerade handgreiflich werden, doch eh ich mich’s versah, hatte Lena das Pärchen aufgefordert, das Lokal zu verlassen: noch mal zehn Schritte vor. Streng genommen gehen diese letzten Schritte natürlich nicht auf mein Konto.

Ich war schlagartig wieder nüchtern und hatte mir meinen ersten kleinen Konversationsversuch mit der schönsten Frau der Welt und aller umliegenden Orte etwas romantischer vorgestellt. Andererseits erinnert man sich an eine solche Situation eher als an ein Na-kennen-wir-uns-nicht-irgendwo-her.

Und dann fragte sie: »Na, alles gut?« Das mochte ich auch so an ihr: ihre norddeutsche, fast dröge und dennoch freundliche Art. Voll uneitel. Dabei könnte sie doch jeden haben. Jeden! Ich dachte sehr, sehr, sehr lange darüber nach, dass Kumpelfrauen mit Model-Gesichtern und Top-Figuren eine Erfindung der Werbeindustrie sind. Weit gefehlt. Lena war so eine. Und vollkommen real.

 

Ina verkaufte im Internet sehr erfolgreich sämtliche Hunde- und Katzenartikel, die man sich vorstellen kann, und vorletztes Jahr hatte sie eine eigene Modelinie erfunden. Im wahrsten Sinne des Wortes: Sie hat per Zufallsgenerator einen Namen geschaffen: Semi La Una Brocka heißt der virtuelle Modedesigner. Es gibt eine Biographie, laut der er auf sämtlichen bedeutsamen Catwalks der Welt mit eigenen Kreationen vertreten war. Es gibt sogar immer den gar nicht zu knappen Hinweis auf die Nichtexistenz der Person, nur nimmt den kaum jemand wahr.

Jan arbeitet bei einer Krankenversicherung. Ich hab bis heute nicht so recht kapiert, was er da macht. Irgendwas mit Kunden. Logisch.

Und ich arbeite als Bankkaufmann am Schalter in einer Sparkassenzweigstelle. Hab mit sehr unterschiedlichen Typen zu tun. In diesem Stadtteil haben wir ein ziemlich buntes Publikum. Nette Leute, Vollidioten, Gebeutelte, Streber, unverschämt Reiche, Gutverdiener und nicht wenige, die gerne Gutverdiener wären. Man kann sagen: Der Laden läuft gut.

Eine Sache unterscheidet mich von sämtlichen Kollegen: Ich bin seit Jahren Single.

Wie mancher Kunde überziehe auch ich mein Konto, bin ständig am Limit.

Manche Rechnungen sind im Himmel wie auf Erden gleich. Wenn eine Frau, die mit sechsundzwanzig Jahren hätte sterben sollen, achtzig Jahre alt wird, dann muss eine andere Frau, die achtzig Jahre alt werden sollte, mit sechsundzwanzig Jahren sterben. Es ergab keinen Sinn, so zu tun, als wäre das nicht logisch. Vor allem, wenn der, der so tun will, Petrus heißt, und der, dem gegenüber man so tun will, Gott ist.

6

Unser letzter Besuch im Adam vor unserem Urlaub war an einem warmen Septemberabend, und die anderen Gäste wollten nicht gehen. Das ärgerte mich. Andererseits wollte auch ich nicht gehen. Meine Freunde spürten das, und sie ahnten – vielleicht mehr als ich –, dass ich im Verlauf des Abends Lena zumindest ein klitzekleines bisschen näherkommen könnte.

Dafür bin ich ihnen bis heute sehr dankbar.

»Komm, lass uns was spielen«, schlug Ina vor.

Das »Au ja« des dauerverliebten TimTims war vorherzusehen.

»Hä, was denn spielen?«, wollte Jan wissen, der bei dem Wort »Spielen« nur Fußball im Kopf hatte.

»Strip Poker«, schlug TimTim vor.

Jan und ich wiederholten es wie aus einem Mund: »Strip Poker?« An unserem Vierertisch gingen zwei Mundwinkel hoch und einer runter, und meiner wackelte hin und her, weil ich nicht wusste, ob Ina und TimTim das wirklich ernst meinten. Ich kannte sie ja erst seit … seit neun Jahren …

Ich hatte eine andere Idee: »Und was ist mit Fehlerlesen?«

TimTims Augen glänzten: »Jupp. Und danach Strip Poker!«

»Was hast du denn auf einmal mit diesem Ausziehspiel. Hast du ’ne Wette gegen Ina gewonnen oder was?«, riet ich ins Blaue hinein.

Ina nickte vorsichtig: »Genau das.«

Ernsthaft überrascht blickte ich in Richtung TimTim: »Und dich turnt es an, wenn andere geifernd pokern, um in den Genuss zu kommen, deine Ina halb nackt zu sehen?« TimTim nickte heftig und breit lachend. Apropos breit: Fehlerlesen ist unweigerlich damit verbunden, dass man das Lokal mächtig stramm verlässt.

Okay, es gibt etwas, das schneller zu diesem angenehmen Wochenendrausch führte als Spiele mit Schnapsrunden: Schnapsrunden ohne Spiele. Eigentlich waren wir alle drei nicht so die Superschluckspechte, aber je näher der Urlaub rückte, desto häufiger promillten wir. Und Schnapsrunden mit unkomplizierten Spielchen waren einfach netter als plumpes Saufen.

Für Fehlerlesen brauchte man nur eine einzige Utensilie: einen Groschenroman. Arztroman funktioniert. Western funktioniert zur Not auch. Science-Fiction ist okay. Aber am besten klappt es mit Gruselromanen. Jeder von uns hat mindestens ein Heft parat.

Prompt griff Ina in ihre Handtasche: »Das Horrorhotel der ausgehenden Leichen«.

Das Schöne an diesem Spiel ist: Man trinkt sich die Story schön. Und von Glas zu Glas scheinen die unfreiwilligen Gags zuzunehmen.

Man kann mit Gott nicht verhandeln. Nicht als Mensch und auch nicht als Petrus. Und man kann Gott auch nicht umstimmen. Weder als Mensch noch als Petrus.

Die Menschen wollen das aber einfach nicht begreifen. Einige bringen Opfer, was den Opfern selbst nicht recht ist. Andere opfern sich selbst, was den Angehörigen nicht recht ist. Und wenn dann das eintrifft, was sich die Menschen erhofft haben, dann denken sie: »Es hat funktioniert. Das machen wir jetzt öfter.«

Petrus wusste, dass es immer nur Zufälle waren. Man kann mit Gott nicht verhandeln.

7

Irgendwann tauschten wir dann den Groschenroman gegen die Karten. Ich verlor direkt das erste Spiel und zog meinen linken Schuh aus.

Es folgten weitere Kleidungsstücke, unverhältnismäßig oft von mir. Ich war froh, dass ich mir vor Beginn des Spiels noch meine Handschuhe aus dem Auto geholt hatte. Das klingt unfair – aber wir hatten alle den gleichen Plan gehabt und mussten, bevor es losging, alle noch mal zufällig zu unseren Autos.

Nach Runde elf passierte es: Lena und Sarah gesellten sich zu uns und wollten mitspielen. Natürlich freute ich mich darüber. Doch dann wurde ich schlagartig halb nüchtern, als mir bewusst wurde, dass ich mit etwas Glück in den Genuss kam, einer wenig bekleideten Lena gegenüberzustehen. Mein Herz klopfte. Leber, Hirn und Lunge arbeiteten fleißig mit. Wenig später beruhigten sich die Organe, allen voran das jetzt tiefer schlagende Herz. Dann plötzlich: Organalarm! Viel wahrscheinlicher würde Lena einem wenig bekleideten Nils gegenüberstehen.

»No risk, no fun«, sagte ich forsch.

Und Sarah erwiderte frech: »Just fun, no risk«, wobei sie den zweiten Teil sehr dehnte. Begleitet von einem süffisanten Lächeln und einem kleinen, aber feinen Kopfschütteln drückte sie damit genau das aus, was ich im promillisierten Zustand dachte: Die beiden können mit ihren Bodys nicht verlieren.

Der Kartengeber setzte aus. Und als es an mir war, kurz zu pausieren, nutzte ich die Zeit, gedanklich allen am Tisch für ihr Äußeres vom Scheitel bis zur Sohle eine Schulnote zu geben: Ina 1-. TimTim: 1-. Jan: 3+. Sarah: 2-. Ich: 4+, gebräunt 3-, mit eingezogenem Bauch und längs gestreiftem Hemd: 3. Lena – für Lena gab es keine Note. Sie war eine 1 mit fünf Sternen. Sie war bereits drei Kleidungsstücke entfernt von komplett bekleidet.

Meine grauen Zellen bildeten ein einziges Wort: EIJEIJEIJEIJEI. Und das, nachdem sie lediglich zwei Schuhe und ihren Gürtel abgelegt hatte. Ich schaute sie an, dachte siebzehn Wörter: »Du siehst wirklich phantastisch aus, und dein Lächeln ist mehr als toll. Ich bin von den Socken.«

Sie legte die Stirn in Falten: »Was ist mit Socken?«

Ich stotterte: »Socken werden überbewertet.«

»Also, du möchtest, dass ich als Nächstes die Socken ausziehe?«

Unsicher entgegnete ich: »Ja, … äh … nein, also … ich mein, das kann ich ja nicht … das musst du ja entscheiden.«

Sie guckte mich fragend an, ich guckte sie antwortend an. Oder versuchte es zumindest. Mein Blick wanderte auf den Tisch, unter den Tisch, zu meinen unteren Extremitäten. Ich selbst hatte bereits nackte Füße.

Und nun kam mir der rettende Spruch in den Sinn: »Ich bin voll von den Socken.« Dann schaute ich Lena an – etwas länger als normal. Ich hatte sie zum Schmunzeln gebracht.

Und Jan konterte mit »Flasch Bier«. Tatsächlich hatte er einen Drilling und ich nur ein Paar.

»Jetzt geht’s dir an den Kragen«, warf Ina ein und zupfte vorsichtig an meinem Hemd.

Natürlich kam es nicht zum Äußersten, bei keinem von uns. Und das war auch gut so. Für mich. Schließlich war es eine Schnapsidee gewesen. Wir hatten so etwas zuvor noch nie gemacht.

»So, letztes Spiel«, meinte Jan, der am nächsten Tag früh rausmusste.

Meine Hoffnung, ein bisschen mehr Lena-Haut zu sehen, schwand, als die anderen die Karten peu à peu aufdeckten: TimTim hatte gegeben; ihm konnte nichts Schlimmes mehr passieren. Ina zeigte eine Straße, Jan hatte sogar ein Full House, Sarah konnte ebenfalls eine Straße vorweisen. Blieben am Ende nur noch Lena und ich. Ich deckte auf: Ich hatte nicht einmal ein Paar, meine höchste Karte war ein König. Sie

»Verloren, verloren. Du hast verloren«, sang ich, wie ich es mich nicht mal im Weserstadion trauen würde, wenn Werder gegen den FC Bayern gewinnt. Die anderen fünf stimmten mit ein, allerdings mit merkwürdigen Gesichtsausdrücken.

Erst jetzt wurde mir klar: Nicht Lena hatte verloren, sondern ich. Erst jetzt betrachtete ich ihre fünfte Karte genauer: Es war zwar kein Bube, es war eine Dame.

»Zwei Damen schlagen einen König«, lachte Sarah.

Und Jan ergänzte: »Tja, das war schon im Mittelalter so.«

Wir verabschiedeten uns voneinander. Sarah und Lena gaben sich einen Wangenkuss, plötzlich machten das alle, selbst der sonst so verklemmte Jan. Meine Empörung wich sofort einer großen Freude, denn so kam auch ich in den Genuss zweier Wangenküsse und einer Umarmung, bei der ich wenigstens ein kleines bisschen von Lena zu spüren bekam.

»Ich muss dich verlassen«, hörte ich meinen Mund sagen. Sie lächelte.

Wir ahnten nicht, dass tatsächlich Lena mich und alle anderen bald verlassen würde.

Petrus stellte sich dumm – dem Schöpfer gegenüber. Und er wusste, dass Gott genau das eingeplant hatte. Er pflanzte Petrus den Gedanken ein, dass er eine junge Frau holen müsste. Mitte zwanzig. Eine Dunkelhaarige. Braune Augen.

»Weshalb denn dunkle Haare?« Gott sagte nichts.

Dass Petrus sich dumm stellte, war ehrenwert, aber es half nichts. Und selbstverständlich wusste Petrus, dass Gott seine Wahl unabhängig von Äußerlichkeiten traf.

Es konnte nur diese eine Person sein. Gott in seiner unendlichen Größe hatte diese eine bestimmte junge Frau auserwählt. Petrus vermied es, sich weiter dumm zu stellen und mit Gott über das Wort »auserwählt« zu diskutieren, wenn ein Mensch aus dem Leben gerissen werden muss. Das hatte Petrus schon vor eintausendneunhundert Jahren aufgegeben.

8

Als ich aufwachte, lag neben meinem Bett ein von mir gekritzelter Zettel – leider hatte ich die Notiz in einem Zustand gekritzelt, in dem man sogar Probleme hat, ein einfaches Punkt-Punkt-Komma-Strich-fertig-ist-das-Mondgesicht zu malen. Schließlich konnte ich sie entziffern: »Besser, sich mit einer schönen Frau zu besaufen, als sich eine Frau schönzusaufen.«

Nachdem ich anfangs schmunzeln musste, wurde ich plötzlich ernst, denn ich begriff, dass ich nichts mehr wollte als eine Freundin. Eine Geliebte. Eine Verliebte. Eine in mich Verliebte. Eine Verlobte. Eine mit mir Verlobte. Eine Verheiratete. Eine mit mir Verheiratete.

Petrus war großzügig. Petrus war gutmütig. Petrus war weise. Petrus war alles Mögliche, aber er war manchmal auch das, was man auf der Erde einen Schussel nennen würde. Deshalb musste er sich sehr konzentrieren: Nicht den Namen ver

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Ina, TimTim, Jan und ich hatten endlich Urlaub. Er begann seit ein paar Jahren immer mit einem Nachmittagstreffen im Adam. Die Koffer waren gepackt und verstaut. Wir saßen draußen, bestellten zweimal Tiramisu, zweimal Tartuffo, dreimal Cappuccino und einmal Latte macchiato.

Eigentlich war es nur ein kurzes Treffen. Es ist mir allerdings in besonderer Erinnerung, weil danach nichts mehr so war wie vorher – bezogen auf Lena. Sie wischte die Tische ab und warf ein unschuldiges Lächeln zu mir rüber. Und ich blickte – weniger unschuldig – mal in ihre Augen, mal in Richtung Straße, mal in ihren Ausschnitt, mal in Richtung Bäume.

Das Adam war tagsüber meist ziemlich leer, und so setzte sich Lena zwischendurch zu uns. Wir plauderten, schwärmten von den tollen Stränden auf Sylt, von unseren favorisierten Lokalitäten. Ganz vorne: das Alte Zollhaus, nicht nur wegen der einfallsreichen Küche, die Gaststätte Kompass, nicht nur wegen der freundlichen Bedienung, das Pablito, nicht nur wegen des spanischen Flairs, und das Café Wien, nicht nur wegen des üppigen, schmackhaften Frühstücks. Es war Ina, die Lena einlud, uns gemeinsam mit Sarah an einem Wochenende zu besuchen. Lena rief Sarah an, und die war gleich Feuer und Flamme.

100 (in Worten: einhundert) Schritte nach vorn!

Gott war groß. Gott war allmächtig. Gott war allwissend. Gott war alles Mögliche, und er war manchmal auch das, was

Es gelang ihm ebenfalls, die Auserwählte zu einem Fotoshooting mit ihrer besten Freundin zu überreden – natürlich nicht direkt, sondern über Freunde. Das war seine sentimentale Seite. Er wusste, dass die 26-Jährige immer schon mal Profifotos haben wollte – von sich und ihrer Freundin. Und er wusste, dass diese Bilder später eine große Hilfe für die Hinterbliebenen sein würden.

Und so erfüllte Petrus einer jungen Frau einen letzten Wunsch, ohne dass sie es ahnte.

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Hindenburgdamm. Autozug. Beide Autos oben! Yes! Immer, wenn uns das gelingt, freuen wir uns, als hätten wir sechs Richtige im Lotto.

Schon auf dem Weg Richtung Sylt glaubt man, das Salz riechen zu können. Spätestens jetzt haben wir den Alltag hinter uns gelassen. Man muss sich mit keinem beknackten Chef herumplagen, muss nicht vernünftig sein, muss nicht vor Mitternacht ins Bett gehen und muss nicht dauergrinsend am Schalter stehen und Kunden das Geld auszahlen, das man selbst gerne auf dem Konto hätte.

Hier haben wir ganz andere Sorgen: Machen wir das Fenster während der Zugfahrt ganz auf oder nur halb? Wir entschieden uns für einen Schlitz. Das sind Probleme, wie man sie im Paradies hat, oder sagen wir auf dem Vorhof zum Paradies.

»Ist das nicht herrlich?«, fragte ich Jan, der, aufs Meer blickend, entgegnete: »Das ist herrlich.« Worauf ich ergänzte: »Herrlich, was?« Was ihn zu der Äußerung veranlasste: »Echt

»Ob man im Paradies für immer hirnlos umherwandelt?«, wollte ich von Jan wissen. Er verzog das Gesicht so, dass es nun große Ähnlichkeit mit Ralph Wiggum aufwies, dem Polizistensohn bei den Simpsons. Mit auf der unteren Zahnleiste liegender Zunge kam aus Jans halb geöffnetem Mund ein dümmliches »Häh?«.

Wir mussten beide lachen, und dann sagte er etwas sehr Weises: »Wenn der Preis dafür, dass man im Paradies leben darf, der ist, dass man blöde wird, bin ich dabei.«

Eine freundliche weibliche Stimme quäkte aus den kleinen Lautsprechern. Sie wünschte den Urlaubern einen schönen Aufenthalt und den Insulanern ein herzliches Willkommen.

Zündung an. Runter vom Zug. Erste Kreuzung links.

»Westerland, wir kommen!«, rief Jan, als wir um die Ecke bogen.

Und wenige Sekunden später tat ich es ihm fast gleich: »Westerland – wir sind da!«

In kürzester Zeit war das geräumige Apartment bezogen, die Kleiderschränke befüllt, das Badezimmer mit all den Utensilien versehen, die vier Erwachsene nun mal brauchen. Kurzum: Wir hatten die vier Urlaubswände in Beschlag genommen.

 

Am Mittag machten wir unseren ersten Ausflug. Ina und TimTim vorweg, Jan und ich brausten hinterher.

»Wie auch sonst«, sagte ich. »Ina und Timm fahren mit ihren Wagen vorweg, wir brausen hinterher.«

Stirnrunzelnd und dann schmunzelnd guckte mich Jan an und sagte: »Wie auch sonst.« Der Verblödungsprozess hatte begonnen. Wir waren glücklich.

Mit unseren beiden kleinen und bezahlbaren, aber finanzierten Cabrios fuhren wir Richtung List, an Wenningstedt vorbei, an Kampen vorbei und an der Vogelkoje vorbei, der

»The Weststrand is the best strand«, schrie Ina zu uns rüber. Das war einer unserer unzähligen Insider. Wir wurden nicht müde, neue Sprüche zu erfinden, uns Reime auszudenken und Fragen in den Raum zu werfen.

Jan brülle rüber: »Hier kann man sich in die Fluten stürzen, obwohl Ebbe ist!« Über so etwas konnten wir uns totlachen.

Von der Hauptstraße bogen wir in eine Straße ein, die wir Flickwerkstraße nannten. So, wie man an den Ringen eines Baumes dessen Alter ablesen kann, kann man bei dieser Straße das Alter anhand der unterschiedlichen Grautöne der Asphaltausbesserungskleckse festmachen. Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob man an dieser Straße den absoluten Reichtum dieser Insel ablesen kann, weil man direkt nach einer Schlaglochsaison alle Löcher sofort wieder stopft, oder ob man den relativen Reichtum daran ablesen kann, weil die Straße nicht nach jeder Saison komplett neu asphaltiert wird.

Eine Navi-Stimme imitierend sagte ich: »In zweihundert Metern links abbiegen.« Pause. »Jetzt bitte links abbiegen.« Pause. »Dem Straßenverlauf bitte zwei Kilometer folgen.« Pause. »Sie haben Ihr echt geiles Ziel mit einem Wahnsinnsblick aufs Meer erreicht.« Pause. »Sie können sich jetzt abschnallen.« Pause. »Noch fünfhundert Meter bis zum Strand. Dann bitte rechts an den Nudisten vorbei, die ein Durchschnittsalter von geschätzt achtundsiebzig haben.«

Und Jan ergänzte – ebenfalls in Navi-Tonfall: »Und leider nie ihre hübschen Enkelinnen mitbringen.«

Alle vier hatten wir die Hosen bereits hochgekrempelt und spazierten an den braun verbrannten Nacktsenioren vorbei, dann am Hundestrand entlang, zu unseren Strandkörben, die wir uns reserviert hatten.

»Ist das geil oder ist das dekadent«, fragte Ina.

Und wir drei Männer antworteten im Chor: »Geilodent!«