Rainer Maria Rilke
Erika Mitterer

Besitzlose Liebe

Der poetische Briefwechsel

Herausgegeben von Katrin Kohl

Insel Verlag

Rainer Maria Rilke
Erika Mitterer

Besitzlose Liebe

Der poetische Briefwechsel

Gewidmet ist dieses Buch
Martha Fabian und Loni Lorscheidt,
stellvertretend für all die Lehrerinnen und Lehrer,
die junge Menschen für Literatur begeistern

Inhalt

Einführung

Briefwechsel mit Gedichten und Prosa aus dem Umkreis

Erika Mitterer Besuche in Muzot, 1925 und 1926/1927

Nachwort

Der Dialog zwischen Erika Mitterer und Rainer Maria Rilke

Kommentar

Zur Edition

Briefwechsel mit Gedichten und Prosa aus dem Umkreis

Stellenkommentar

Erika Mitterer: Besuche in Muzot, 1925 und 1926/1927

Anmerkungen

Dank

Abbildungen

Bildnachweis

Zeittafel

Siglen und Literaturverzeichnis

Titel und Anfänge der Gedichte und Prosatexte

Personenregister

Einführung

Der Dialog zwischen Erika Mitterer und Rainer Maria Rilke nahm seinen Anfang in den frühen 1920er Jahren. Die 1906 geborene Wiener Schülerin und angehende Sozialfürsorgerin wurde von ihrer Deutschlehrerin Martha Fabian an die Lyrik des 1875 in Prag geborenen Kult-Dichters herangeführt und verarbeitete das begeistert auch mit Freundinnen Gelesene in eigener Dichtung. Dem ersten Brief, den sie am 25. ‌5. ‌1924 an Rilke schickte, gehen Widmungsgedichte an den Dichter sowie Briefentwürfe in Lyrik und Prosa voraus. Diese sind im Folgenden als Vorspiel wiedergegeben.

  Mitterer wählt für ihren ersten Brief die reine Versform, ohne namentliche Nennung Rilkes, und stellt einem der zwei übersandten Gedichte ein Zitat aus den Ende März 1923 erschienenen Sonetten an Orpheus voran; unter dem Gedicht stehen ihr Name, das Datum und der Ort. Auf der Rückseite des Blattes befindet sich ein weiteres, mit der Anrede »Du« an Rilke gerichtetes Gedicht, das sie drei Monate vorher zunächst als Prosa-Brief verfasst und dann umgearbeitet hat. Sie schickt den Brief an den Insel-Verlag, der ihn weiterleitet.

  Rilke fühlt sich unmittelbar angesprochen. Er verfasst zunächst im Rahmen seines Taschenbuches zwei Gedichte, in denen er dem unverhofft in sein Leben eingetretenen Mädchen imaginative Gestalt verleiht, und entgegnet am 3. ‌6. ‌1924 mit einem Briefgedicht in der von Mitterer vorgegebenen Form: Sein Brief besteht aus einem Gedicht, dem ein Zitat aus ihrem Brief vorangestellt ist, und es folgen Name, Datum und Ort — Château de Muzot im Schweizer Wallis. Vor seinen Namen setzt er jedoch eine Widmung: »für Erika Mitterer«. Damit gestaltet sich der Austausch von Anfang an als ein Werk, das am Ende seines Lebens eine Schlüsselstellung in seinem Schaffen einnehmen wird. Denn es verkörpert eine einzigartige Verbindung zwischen seinem reichhaltigen epistolarischen Werk — er schrieb etwa 10 ‌000 Briefe — und seiner Dichtung mit deren bedeutendem Anteil von Widmungslyrik. Der Briefwechsel in Gedichten wird damit auch zu einem hochrangigen Medium für die dichterisch ertragreiche Zusammenführung von Lebensstoff und künstlerischem Werk.

  Der Briefwechsel intensivierte sich rasch von beiden Seiten. Der Austausch erfolgte häufig mit Überschneidungen auf dem Postweg, woraus sich ein hochkomplexes Gefüge von textuellen Bezügen ergibt. Seinen Höhepunkt erreichte der Dialog im Juli/August, bis Rilke ihn am 18. ‌8. ‌1924 unvermittelt mit einem Brief abbrach, in dem er beiden Liebenden das Schweigen auferlegte. Vermutlich ließen eine von ihm initiierte Einladung und ein von Mitterer gesandtes Foto die Beziehung zur fernen Geliebten bedrohlich real werden. Eine für seine Liebesbeziehungen charakteristische Ambivalenz hatte Rilke bereits am 7. ‌8. ‌1924 vermittelt: »Halb ruf ich dich, halb halt ich dich von mir, | dass ich den schönen Zauber nicht verstöre«. Auf Mitterers Versuche neuerlicher Kontaktaufnahme antwortete Rilke Anfang Januar 1925 und dann erst wieder am 30. ‌10. ‌1925, nachdem sie ihn gebeten hatte, ihr eine etwaige Krankheit mitzuteilen. Ihr einfühlsamer Zugang bewog ihn zu einer emotional wie formal so vielschichtigen wie dichterisch virtuosen Antwort, die Mitterer zu einem viertägigen Besuch in Muzot veranlasste.

  Mitterer dokumentierte die im November 1925 erfolgte Begegnung in einem ausführlichen, erst 1926/1927 über viele Monate hin sporadisch verfassten Bericht. Sie wohnte in einem Hotel in Sierre, besuchte Rilke mehrfach in seinem Turm, und abends aß man gemeinsam in einem Hotel. Das Treffen war eher von freundschaftlicher Nähe als von Erotik geprägt. Rilke war der führende Gesprächspartner, und er zeigte sich aufgeschlossen für den Dialog mit der neunzehnjährigen Freundin. Er erzählte aus seiner Jugendzeit, sie — wohl zurückhaltender — von ihrer Erlebniswelt; sie sprachen über literarische Themen, und es wurden Gedichte ausgetauscht. Mitterers lyrischen Mitteilungen im Zeitraum des Treffens lässt sich entnehmen, dass sie sich eine Fortsetzung und Erfüllung der Liebesbeziehung erhofft hatte.

  Insgesamt überwiegen nach dem August 1924 Mitterers Briefe bei weitem. Während Rilke durchgängig im Laufe des Briefwechsels streng an der Versform festhielt — wiewohl zuweilen in prosaischerem Ton —, drängte es Mitterer ab Weihnachten 1924 auch zur Kommunikation in Prosa, besonders unter dem Druck seines Schweigens. Ihre Briefe fanden nach dem Treffen in Muzot nur noch einmal Resonanz, als Rilke ihr im August 1926 die formvollendete, in seinem Werk einzigartige Ode »Taube, die draußen blieb« sandte, in der er ihre Genesung von einer lebensbedrohlichen Operation feiert. Es war eines der letzten Gedichte vor seinem Tod am 29. ‌12. ‌1926.

  Die aus dem schriftlichen Medium heraus entstehende Beziehung endete für Mitterer nicht mit Rilkes Tod. Nachdem sie die Nachricht über die Presse erhalten hatte, fuhr sie — nun in Begleitung ihrer Mutter — in die Schweiz und besuchte die Kapelle mit seinem Sarg. Sie sprach mit dem Arzt, der ihn in seiner Krankheit betreut hatte, besuchte noch einmal Muzot, begegnete Rilkes Freundin, Mäzenin und Nachlassverwalterin Nanny Wunderly-Volkart und nahm an der Beerdigung teil. Auch diesen Besuch hielt sie im Tagebuch fest, und ihre fortdauernde Auseinandersetzung mit dem Verlust findet sich in Gedichten der folgenden Monate und Jahre. Sie bilden in der vorliegenden Ausgabe ein Nachspiel des Briefwechsels.

  Auch während der Zeit des Briefverkehrs verfassten beide Dichter — und insbesondere Rilke — Gedichte, die dem ›Umkreis‹ des Briefwechsels zuzurechnen sind. Sie begleiten und ergänzen den dialogischen Austausch mit einer jeweils privaten Perspektive auf die Beziehung und verdeutlichen, dass sich auch Rilke in den Zeiten des unterbrochenen Dialogs weiter mit der Beziehung befasste. Diese Gedichte sind unter Hinzuziehung von Rilkes Taschenbüchern und Mitterers Gedichtheften in die chronologische Folge integriert. Ebenfalls wiedergegeben sind einige Tagebucheinträge von Mitterer, in denen sie sich zu Rilke äußert; von Rilke dagegen sind offenbar keine Texte erhalten, die in prosaischer Form die Beziehung kommentieren. In der Abfolge der Texte sind die Briefe der beiden Gesprächspartner immer als Ganzheit wiedergegeben; Gedichte und Tagebuchtexte aus dem Umkreis des Briefwechsels, die im Zeitraum der Entstehung eines längeren Briefes mit mehreren Gedichten verfasst wurden, sind dem jeweiligen Brief nachgeordnet.

  Für Erika Mitterer ist Rilke der so beseligend wie schmerzvoll Geliebte und zugleich der große Meister, an dem sie sich dichterisch schult und dem sie auch anderweitig verfasste Gedichte schickt. Er nimmt diese zum Anlass für den über drei Briefe hin entwickelten, neunteiligen Zyklus Die Liebenden, der aus zwei frühen Widmungsgedichten Mitterers an ihre Freundin Melitta hervorgeht. Er beschränkt sich jedoch insgesamt auf die Mitteilung von Gedichten, die direkt aus der Reaktion auf das von ihr Gesandte entstehen, wobei die poetische Präsenz der fernen Geliebten für ihn auch zu jenen Zeiten eine Quelle dichterischer Inspiration bleibt, in denen er Mitterer gegenüber schweigt. Noch im Herbst 1926, in seiner vorletzten poetisch verdichteten Äußerung überhaupt, antwortet er auf eine Briefstelle vom 18. ‌12. ‌1924, in der Mitterer in Prosa Folgendes schreibt: »Es gehört alles dir, alles Niegeschriebene.« Rilkes späte, ihr nicht mitgeteilte Entgegnung ist getragen von der Spannung einer schon im früheren Leben und Werk immer wieder erprobten ›besitzlosen Liebe‹, die in diesem lyrischen Dialog so lebendige wie spannungsreiche Form angenommen hatte: »und alles Nie-gehörende sei Dein!«.

  Wenn das Titelblatt der vorliegenden Ausgabe Rilke zuerst nennt, so ist dies der weltliterarischen Bedeutung seines dichterischen Werkes geschuldet. Es ist jedoch festzuhalten, dass Mitterer die Form des Briefwechsels vorgab und dass sie die treibende Kraft blieb, die dem Druck von Rilkes selbstbezogen wechselhaftem Kommunikationsverhalten standhielt und immer wieder von Neuem an ihn herantrat, um ihn zur Entgegnung zu bewegen. Es liegt in der Natur dieses Austausches zwischen der zu Beginn des Briefwechsels achtzehnjährigen jungen Frau und dem fünfzigjährigen, berühmten Dichter, dass die in der Ausgabe enthaltenen Gedichte qualitativ in hohem Maße differieren. Der Dialog lebt aus der Spontaneität der dichterischen Erwiderung auf soeben empfangene Anregungen und erhält seine kommunikative Kraft aus der Verwendung zumeist einfacher Formen, die überwiegend mit Reim und leichten Metren Gefühlen und Bildern sprachlich lebendige Gestalt verleihen. Die Ausgabe enthält Nachlassmaterial aus Mitterers Jugendzeit und aus ihren fortlaufenden Tagebüchern, das der privaten Sphäre eines heranwachsenden Mädchens angehört und deshalb hier erscheint, weil es den Kontext für einen dichterischen Prozess bildet, der seine Vitalität aus dem vielschichtigen Umgang nicht nur mit dichterischen, sondern auch mit lebensbezogenen Möglichkeiten und Impulsen gewinnt. Der Briefwechsel entsteht aus einer beiderseitig rückhaltlosen Bereitwilligkeit, ohne moralisches oder ästhetisches Urteilen mittels der bildlichen Sprache auf die Welt des anderen einzugehen.

  Die von Mitterer so wirkungsvoll für den Austausch etablierte Form des Briefgedichtes schafft den Rahmen für eine Dichtung, die als frei sich entfaltender Prozess Gestalt gewinnt. Als Gattung ist das Briefgedicht offen und aufnahmefähig für Prosa und Vers, für Lebensinhalte und deren künsterische Sublimierung, für Gelegenheits- und Gebrauchslyrik sowie für Lyrik ohne einen unmittelbaren Bezug zur Person oder Situation. Fließend ist auch die Verbindung zum jeweils eigenen Werk. In der vorliegenden Ausgabe lässt sich dies bei Mitterer an der Beziehung zwischen Gedichten und Tagebucheinträgen verfolgen und bei Rilke an den unterschiedlichen Versionen von Gedichten, die vom Dialog mit Mitterer inspiriert sind, um dann in weitere dichterische Räume seines Werkes zu führen. Aus dem lyrischen Wechselspiel zwischen den beiden Dichtern entwickelt sich auf diese Weise eine einzigartige, von Liebe getragene sprachliche Bewegung zwischen Leben und Kunst.

Briefwechsel mit Gedichten und Prosa aus dem Umkreis