Cover

Über dieses Buch:

Bo weiß, was Schmerz ist: Seine Mutter beging Selbstmord, sein Vater hat ihn geprügelt und die Gewissheit, im falschen Körper zu leben, quält ihn jeden Tag … Als Transvestit im Rotlichtmilieu von Nizza träumt er von einem Neuanfang, doch wieder wendet sich das Schicksal gegen ihn. Ein Frauenmörder versetzt die glamouröse Stadt an der Côte d’Azur in Angst und Schrecken, und Bo gerät ins Visier der Ermittler. Als ausgerechnet seine Freundin Maeva das Opfer des grausamen Mörders wird, schreibt sie Bos Namen mit ihrem Blut an die Wand – für die Kripo eine klare Identifizierung des Täters. Für Bo hingegen beginnt ein Kampf um seine Freiheit, seine Unschuld … und sein Leben!

Über die Autorin:

Brigitte Aubert gehört zu Frankreichs profiliertesten Spannungsautorinnen. Neben Kriminalromanen und Thrillern schreibt sie Drehbücher und war Fernsehproduzentin der erfolgreichen »Série noire«. 1996 erhielt sie den französischen Krimipreis. Heute lebt sie in Cannes und führt ein altes Kino, das sie von ihren Eltern übernommen hat.

Bei dotbooks erscheinen auch:

Die vier Söhne des Doktor March

Marthas Geheimnis

Sein anderes Gesicht

Schneewittchens Tod

Der Puppendoktor

Nachtlokal

Tod im Schnee

***

eBook-Neuausgabe April 2018

Copyright © der französischen Originalausgabe 1998 by Edition du Seuil

Die französische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel Transfixions bei Edition du Seuil, Paris.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2000 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/BOONCHUAY PROMJIAM

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-95824-993-6

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort Sein anderes Gesicht an: lesetipp@dotbooks.de

Gerne informieren wir Sie über unsere aktuellen Neuerscheinungen und attraktive Preisaktionen – melden Sie sich einfach für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter.html

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Brigitte Aubert

Sein anderes Gesicht

Roman

Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn und Barbara Reitz

dotbooks.

Letzte Schatten wirft die Sonne

auf die Erde, rot wie Blut.

Und ich geh in Strass und Federn,

verkauf mein Fleisch, mein einzig Gut.

BOS LIED

Fais-moi mal, Johnny, Johnny,

emmène-moi au ciel,

fais-moi mal, Johnny, Johnny,

j’aime l’amour qui fait boum!

BORIS VIAN

KAPITEL 1

»Johnny, kann ich mitkommen?«

»Hau ab.«

»Bitte, nimm mich mit!«

Er seufzt und sieht mich an, als wäre ich der letzte Dreck. Ich möchte über seine unrasierten Wangen streichen, aber ich weiß, wenn ich die Hand nach ihm ausstrecke, wird er mich schlagen.

»Johnny, nur eine Stunde oder zwei, dann setzt du mich ab, wo du willst.«

»Verflucht noch mal, Bo! Hast du nichts anderes zu tun?!«

Seufzend öffnet er die Wagentür. Ich schmiege mich in den Sitz, halte mich am Türgriff fest und stütze mich mit meinen Luftkissenturnschuhen am Armaturenbrett ab. Der Toyota fährt mit quietschenden Reifen an. Ich atme den Geruch seines Wagens ein – Johnnys Geruch: Aftershave, Zigaretten, Leder, Cheeseburger, Metall.

Johnny fährt schweigend. Aus den Augenwinkeln sehe ich ihn an. Gerne würde ich mit meinen rot lackierten Nägeln über seinen geraden Nasenrücken fahren, über die dunklen Ringe unter seinen hellen Augen, ich möchte die tiefen Falten um seinen vollen Mund auslöschen, durch sein blondes, kurz geschnittenes Haar streichen. Johnny. Im Geist flüstere ich seinen Namen: Johnny, Johnny …

Er streckt die Hand zum Radio aus, ein mit hellem Flaum überzogenes Handgelenk, lange, schlanke Pianistenfinger, die jetzt auf den Knopf drücken, dann dröhnt diese widerwärtige Musik von Metallica durch den Wagen. Er dreht den Ton lauter.

Ich hasse Hardrock. Ich hasse Lärm. Ich möchte am Meer entlangfahren und Erroll Garner hören. Er fährt über die Schnellstraße, die an der Bahnlinie entlang und mitten durchs Industriegebiet führt. Superromantisch. Er bremst, und wir kommen in der Nähe einer Bushaltestelle zum Stehen. Johnny kurbelt die Scheibe runter. Dieses Miststück Ida mit dem dicken Hintern kommt angewackelt. Ich bete, dass Johnny nur hergekommen ist, um Stoff zu besorgen. Er wedelt mit einem Geldschein herum. Sie beugt sich zu ihm hinunter, nimmt den Schein und reicht ihm einen Beutel. Er tätschelt ihr die Wange, vielleicht etwas zu fest. Wir fahren weiter.

Wir halten auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums. Er zieht seine Linie, während ich aufpasse. Mir bietet er nichts an. Er wartet, dass ich frage. Ich werde nicht fragen. Er schnieft mit einem widerwärtigen kleinen Lächeln und schiebt die Zunge zwischen die Lippen. Ich wende den Kopf ab. Er packt mich bei den Haaren, ich widersetze mich absichtlich, er zieht noch heftiger, ich widersetze mich noch mehr. Er legt die Lippen an mein Ohr, ich erschaudere.

»Weißt du was, Bo?«, sagt er. »Ich glaube, du wirst aussteigen.«

»Nein, bitte.«

»Ich glaube, du wirst aussteigen und zu den Typen da hinten gehen.«

Er drückt den ausgestreckten Zeigefinger an meine Wange und zwingt mich, den Kopf zu drehen. Neben einem blauweiß gestrichenen Lagerschuppen steht eine Gruppe Halbstarker, um sich herum haben sie ihre Mofas aufgebaut, hinter denen sie sich verschanzen wie einst die Pioniere hinter ihren Wagen. Der Widerhall ihrer großen Ghettoblaster und ihres albernen Gelächters dringt zu uns herüber.

»Du wirst sie für mich um eine Zigarette bitten.«

»Johnny! Die machen mich fertig.«

»Willst du den Abend mit mir verbringen? Willst du?«

Er öffnet die Tür und stößt mich hinaus. Ich falle auf die Knie. Die Jungen drehen sich um. Einer ruft mir zu:

»He, komm her, Kleine.«

Johnny zündet sich in aller Seelenruhe eine Zigarette an. Er hat eine Knarre im Handschuhfach, eine Pistole. Mit der Hand scheucht er mich in ihre Richtung. Ich stehe auf, zupfe mein ausgeschnittenes T-Shirt unter der Jeansjacke zurecht und bewege mich mit wiegenden Hüften auf sie zu. Die Jungs kichern. Das lange braune Haar fällt mir ins Gesicht, ich werfe es mit einer Bewegung zurück, die Johnny rasend macht.

Jetzt bin ich ganz in der Nähe der Gören: vierzehn bis sechzehn Jahre alt sind sie, ein Alter, in dem blinde Leidenschaft jegliches Mitgefühl auslöscht. Ich sehe ihre erheiterten Mienen, sie sind voll wie die Haubitzen, stockbesoffen. Ein Geruch nach Leim, Ausdünstungen von Bier.

Ein kleiner Kerl von ungefähr sechzehn Jahren, die Arme, die an Baseballschläger erinnern, in die Hüften gestemmt, kommt auf mich zu. Sicherlich ihr Anführer.

»Na, was will die Kleine? Hat sie sich verlaufen?«, bellt ein großer Dunkelhaariger mit aknevernarbtem Gesicht.

Dummes Gelächter. Ich wende mich an den Mini-Chef, der mir gegenübersteht:

»Könnte ich bitte eine Zigarette haben?«

Angesichts solcher Kühnheit sprachlos, sehen sie sich an. Der Anführer kommt einen Schritt auf mich zu und lässt seinen Bizeps spielen. Er hat O-Beine wie ein Kind, das zu früh mit dem Laufen angefangen hat.

Er zieht ein zerdrücktes Päckchen Zigaretten aus der Gesäßtasche seiner Jeans, klopft eine heraus und schiebt sie mir unter dem Gefeixe der anderen zwischen die Lippen. »Brauchst du auch Feuer?«

Dreckiges Gelächter.

»Ja, bitte …«, sage ich und befeuchte meine Lippen.

Das Gelächter erstirbt. Er fragt sich, ob das heute sein Glückstag ist. Unter den gespannten Blicken der ganzen Truppe zieht er sein Feuerzeug hervor und dreht mit dem Daumen das Rädchen. Verheißungsvoll schießt die Flamme empor. Er presst seinen Unterleib gegen meinen.

Ein leichter Stoß. Unsere Blicke begegnen sich. Ich sehe, wie sich seine Augen weiten, während er zurückspringt und schreit:

»Scheiße! Das gibt’s doch nicht!«

Die anderen sehen ihn verständnislos an.

»Aber das ist ein Kerl!«

Rufe werden laut. Eine Bierdose scheppert auf den Boden. Wütend, weil er auf mich hereingefallen ist, packt er mich beim Revers meiner Jacke, lässt aber sofort angewidert wieder los.

»Was glaubste denn?«, schreit er und benetzt mich mit Speicheltröpfchen. »Hältst uns wohl für Schwuchteln, was? Ist es das?«

Ich sehe die Schweißperlen auf seiner Oberlippe, die Nasenlöcher, die sich weiten. Eine gewisse Erregung in seinen glasigen Augen. Ich sehe ihn an und antworte:

»Danke für die Zigarette …«

Ich weiß, was jetzt geschehen wird. Sie wissen, was jetzt geschehen wird. Er amüsiert sich wahrscheinlich köstlich in seinem Auto. Weil ich jetzt bestraft werde. Dafür bestraft, dass ich ihn liebe.

Ein eiserner Griff umschließt meinen Arm: Einer der Jungen zwingt mich niederzuknien. Ein anderer reißt meinen Kopf an den Haaren nach hinten. Ich protestiere nicht. Ich wehre mich nicht. Ein Dritter öffnet den Reißverschluss meiner Jeans und zieht sie herunter. Der Anblick meines roten Stringtangas löst hämisches Gekicher aus, Getuschel und Beleidigungen. Ungeschickte, brutale Hände reißen ihn mir vom Körper.

Geruch nach Schweiß, schlecht kontrollierter Erregung und Turnschuhen. Ich zähle sechs Paar mit Luftkissensohlen. Sie drängen sich um mich herum wie die Schweine um einen wohlgefüllten Trog. Ich knie halb nackt auf dem Parkplatz, aus dem Radio dröhnt ein Gangsta-Rap.

Der Anführer packt mich bei den Haaren.

»Sag, dass du ein Dreckstück bist! Sag, dass du kein Mann bist«, brüllt er.

Es ist immer dasselbe. Die Leute schreien entsetzt auf, wenn sie merken, dass ich ein Mann bin, und werfen mir sogleich vor, keiner zu sein.

»Ja, ich bin ein Miststück. Nein, ich bin kein Mann«, wiederhole ich gefügig, den Blick starr auf die Ölflecken auf seiner Jeans gerichtet.

Durch meine Passivität aufgebracht, ohrfeigt er mich heftig und schreit:

»Du willst uns provozieren, was? Du willst uns provozieren!«

Aus den Augenwinkeln vergewissere ich mich, dass sie nur Bierdosen dabei haben und keine Glasflaschen, ehe ich mit anmutigem Lächeln sage:

»Ich ficke deinen Vater, mein Kleiner!«

Tiefes Schweigen.

Das verbessert natürlich nicht gerade die Stimmung. Aber ich tue es für Johnny, der mich beobachtet.

In eben diesem Augenblick schlägt eine Autotür zu, und der Motor springt an. Johnny. Nein! Ich habe gehorcht. Nein! Der Toyota verschwindet.

Sogleich bricht der Sturm los. Schneewittchen und die sechs Zwerge. Sie schlagen ungeschickt zu. Ich falle, werde wieder aufgehoben, man schleudert mich nach rechts, nach links, eine stumme Puppe. Fußtritte in den Rücken, in den Bauch, ich erbreche mich. Gott sei Dank sind es Amateure. Sie schlagen zu wie Kinder, und genau das sind sie auch. Ein letzter Fußtritt auf den Kopf, ich verliere das Bewusstsein.

Ich liege auf dem Zement in einer kalten Pfütze. Es stinkt nach Pisse, Öl und Bier. Langsam richte ich mich auf. Offenbar ist nichts gebrochen. Die Sonne geht auf, eine orangefarbene Scheibe hinter der Burgerking-Reklame. Ich rappele mich auf, schwanke, finde mein Gleichgewicht. Alles tut mir weh. Meine Jeans liegt zusammengeknüllt in einer Ecke, voller Kotze und anderem Zeug. Ich schüttele sie aus und ziehe sie an. Sie ist nass und kalt.

Als ich mit der Hand durch mein Haar fahre, wird sie klebrig. Meine rote Perlenkette ist zerrissen, die Perlen sind auf dem Boden verstreut. Ich habe nur noch einen Ohrclip, der andere hat sein Ende unter einem aufgeregten Nike-Turnschuh gefunden.

Ich setzte mich in Bewegung, folge der gelben Linie auf dem Boden. Sie führt mich zu gläsernen Schiebetüren. Als ich mein Spiegelbild betrachte, stelle ich fest, dass ich Glück hatte: kein blaues Auge. Sie haben auf der Herzseite zugeschlagen – linke Augenbraue aufgeplatzt, großes Hämatom an der Schläfe, Unterlippe aufgesprungen. Der Boxer nach der Niederlage. Ich trete einen Schritt zurück, um mich ganz zu begutachten.

Ich bin achtundzwanzig Jahre alt. Ich heiße Bo. Mein volles dunkles Haar fällt in Locken bis zur Taille. Ich bin klein und schlank. Ich sehe aus wie ein Mädchen. Und ich liebe Johnny. Aber Johnny liebt mich nicht. Er liebt Mädchen, die nicht nur aussehen wie Mädchen.

Ich spucke mein Spiegelbild an und wende mich ab. Aus einer Mülltonne ragt ein Pizzakarton. Ich finde eine Serviette und wische mir das Blut vom Gesicht. Vielleicht ist Johnny zu Hause und schläft? Vielleicht hat er zu viel Stoff genommen und ist krank? Vielleicht darf ich ihm einen Kaffee kochen?

Ich gehe in Richtung Bushaltestelle, als neben mir ein Wagen bremst. Ich drehe mich nicht um. Quietschend gleitet die elektrisch betriebene Scheibe nach unten. Ohne zu laufen, beschleunige ich den Schritt. Eine Stimme ruft mir zu:

»He! Wohin gehst du, Bo?«

Mossa. Ich gehe weiter. Mossa lehnt sich aus dem Wagenfenster.

»Sag mal, Bo, bist du taub? Soll ich dir den Pfropf aus den Ohren holen?«

Seufzend bleibe ich stehen. Verfluchter Bulle! Er schaltet den Motor des GTI 205 aus, klettert aus dem Auto und klappt sein zwei Meter langes Gestell aus. Mit hoch gezogenen Augenbrauen mustert er mich von oben bis unten.

»Wohl unter die Frühaufsteher gegangen, was, Bo? Und in Topform, wie ich sehe. Ein richtiges Mädchen …«

Ich antworte nicht. Der baumlange Kerl in seinem Denis-Rodman-Look pflanzt sich vor mir auf. Er knackt mit den braunen Fingern, fährt sich durch das gebleichte Bürstenhaar und gähnt.

»Ich habe den Eindruck, du hattest eine schlechte Nacht. Willst du dem lieben Onkel Mossa nicht erzählen, was passiert ist?«

Ich brumme:

»Alles in Ordnung, Inspektor.«

»Kommissar«, verbessert er mich. »Du weißt doch, dass bei uns alles modernisiert wurde.«

»Fällt mir schwer, mich daran zu gewöhnen.«

»Na ja. Aber was ist dir denn passiert?«

»Ich war kaputt. Ich erinnere mich nicht. Muss gefallen sein und mich gestoßen haben.«

»Du meinst wohl, du bist auf Schwulenhasser gestoßen.« Er grinst. Ich zucke die Schultern.

»Du tust mir Leid, Bo. Wirklich Leid. Jedes Mal, wenn ich dich sehe, stelle ich mir vor, wie ich mich eines Tages im Rinnstein über deine Leiche beugen werde. Du wirst deinen dreißigsten Geburtstag nicht mehr erleben, Bo.«

Das ist mir scheißegal. Wenn du wüsstest, wie egal mir das ist. Alles, was ich will, ist Johnny. Nur eine Stunde. Johnny ganz für mich. Johnny in mir. Ich will seine Frau sein, seine Hure, seine Hündin.

Mossa mustert mich und trommelt dabei gereizt auf seinem Autodach, er scheint besorgt und nervös.

»Ich habe zwölf Stunden durchgearbeitet, jetzt fahre ich nach Hause«, erklärt er. »Kann ich dich auf einen Kaffee einladen?«

Ich schüttele den Kopf. Ich muss mich beeilen, wenn ich Johnny noch sehen will, bevor er zur Arbeit geht. Wieder knackt Mossa mit den Fingern und seufzt. Dann steigt er ein und fährt wortlos davon.

Für einen Bullen von der Sitte ist Mossa eigentlich ganz in Ordnung. Er versucht mit uns in Kontakt zu bleiben: mit den Huren, den Transvestiten, den Süchtigen … Er glaubt, wir lebten in derselben Welt. Er sieht nicht den Abgrund, der uns voneinander trennt, den Riss im Spiegel, der unser Bild zurückwirft.

Der Bus kommt, ich fange an zu rennen, das tut weh. Ich suche in meinen Taschen nach Geld, der Fahrer macht mir ein Zeichen, ich soll einsteigen, und ich setze mich in den hinteren Teil des Busses. Zu dieser frühen Stunde trifft man nur Leute, die von der Arbeit kommen oder dorthin fahren. Blasse, übernächtigte Gesichter, Gähnen. Man mustert mich aus den Augenwinkeln. Leise, vorsichtige Kommentare: »Ist das ein Mann oder eine Frau?«

»Er/Sie hat eine Abreibung bekommen.«

»Haben Sie den Transvestiten gesehen …?«

Transvestit. Ein Transit-Traveller im Transsexuellen-Express, Einwanderer und Auswanderer zugleich. Die Reise geht in einer Fleischkapsel vom Planeten Homo Erectus zum Planeten Bella Donna. Und ich spreche abwechselnd in den beiden Sprachen von Babel mit mir selbst. Manchmal habe ich den Eindruck, Beaudoin sei der Besitzer meines Körpers und Bo die Mieterin. Nach der Operation wird Bo endlich allein über die Örtlichkeiten herrschen. Ach, Scheiße!

Als ich bei Johnny ankomme, bin ich trotz der beißenden Kälte schweißgebadet. Er wohnt in der Altstadt, da, wo ich früher auch gewohnt habe. Ein altes, einst gelbes Gebäude mit verblassten grünen Fensterläden. Ich steige die Treppe hinauf, die nach Katzenpisse stinkt. Vierter Stock. An der Tür klebt ein Schild: Johnny Belmonte. Ich glaube nicht, dass das sein richtiger Name ist. Und ich glaube auch nicht, dass das seine richtige Wohnung ist. Meiner Ansicht nach ist das nur ein Ort für gewisse Stunden. Ich klopfe an. In der Wohnung höre ich Johnny »Herein!« brüllen. Er ist da!

Ich trete ein. Er sitzt auf einer durchgelegenen Matratze, neben ihm liegt ein nacktes Mädchen. Sie schnarcht mit offenem Mund. Neben ihrer Hand liegen eine leere Weinflasche und eine schmutzige Spritze. Johnny sieht durch mich hindurch.

In leeren Pizzakartons krabbeln Schaben. Er nimmt eine und lässt sie in den Mund des Mädchens fallen. Sie fährt hoch, verschluckt sich, spuckt, läuft bläulich an und richtet sich hustend und mit weit aufgerissenen Augen auf. Johnny lächelt.

Mühsam stößt das Mädchen »Was ist …« hervor, als er sie mit einem Paar kräftigen Ohrfeigen unterbricht. Tränen schießen ihr in die Augen. Er wirft sie bäuchlings aufs Bett, versohlt ihr den Hintern und erhebt sich, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ein Machoman in all seiner Schönheit, äußerst zufrieden mit sich selbst. Er geht zur Dusche.

Das Mädchen spuckt auf den Boden, greift nach ihrem Kleid – einem schmutzigen, schwarzen Wollsack –, wobei sie mich von unten her ansieht, als fürchte sie, auch ich würde sie schlagen.

»Was für ein Scheißkerl!«, stößt sie zwischen ihren schlechten Zähnen hervor. »Der Typ ist ja total verrückt, ich mach ’ne Fliege …«

Die Tür geht auf.

»Ist jemand zu Hause?«, ruft Bull mit seiner lauten, unangenehmen Stimme.

Bull ist eine Abkürzung für Bulldozer, denn dieser Kerl hat das Aussehen und die Intelligenz eines Schaufelbaggers. Er wohnt im selben Stock gegenüber und ist Johnnys unterwürfiges Hündchen.

Er tritt ins Zimmer, sieht das Mädchen und bekommt gierige Augen. Blöd und geil. Johnny schiebt den Duschvorhang zur Seite. Blonder Flaum glänzt auf der nackten Brust.

»Bedien dich nur«, sagt er zu Bull.

Bull geht auf das Mädchen zu und bedient sich. Ich beobachte die Tauben vor dem Fenster. Als das Mädchen fertig gestöhnt hat, drehe ich mich um. Bull knöpft sich die Hose zu und ruft im Hinausgehen: »Ich kaufe Croissants!« Johnny ist noch immer unter der Dusche. Das Mädchen schnieft. Ich hebe ihr Kleid auf und reiche es ihr.

»Verschwinde lieber, schnell!«

Sie sieht mich an. Nicht sehr hübsch, sechzehn oder siebzehn Jahre alt, das Gesicht vom Weinen verquollen, Rotz in der Nase, bläulich verfärbte Lippen, dunkle Ringe unter den Augen, die Arme von Einstichen vernarbt. Wieder eine Kokainbraut, die bald im Leichenschauhaus landen wird. Sie streckt die Hand mit den abgebrochenen Nägeln nach meinem Gesicht aus.

»Hat man dich geschlagen?«

Ich zucke die Schultern. Ich empfinde es als schmerzlich, wie vertraut ihr diese Frage zu sein scheint. Nicht meinetwegen, sondern ihretwegen; wegen all der Schläge, die sie sicher schon einstecken musste. Wegen des Mitleids, das sie trotzdem noch empfindet. Projektion, würde der Psychiater sagen. Bei Ihrer Vergangenheit …

Sie streicht mir leicht über das Haar.

»Bist du ein Kerl oder ein Mädchen?«

»Ein Gartenzwerg. Verschwinde und komm nie wieder her. Er ist verrückt«, sage ich mit einer Kopfbewegung in Richtung Dusche.

Der Plastikvorhang wird zur Seite geschoben.

»Was erzählst du da wieder für Unsinn, Bo?«

»Nichts, Johnny.«

»Lügner!«

Johnny steigt aus der Dusche, nackt und tropfnass. Er baut sich vor mir auf, damit ich seinen perfekten Körper bewundern kann. Er schüttelt sich wie ein Hund, und einige Wassertropfen spritzen mir ins Gesicht. Ich lecke mir die Lippen, während das Mädchen, das Kleid an sich gedrückt, entsetzt rückwärts das Zimmer verlässt.

Ich höre die Tür zuschlagen, dann eilige Schritte auf der Treppe. Unter welchem Typen sie wohl heute Abend liegen wird und für welche Dosis alles, was man von ihr verlangt, erdulden?

Johnny trocknet sich ab und kleidet sich an, während ich ihm zusehe. Er zieht die Hugo-Boss-Jacke an und kämmt sorgfältig das gut geschnittene Haar. Ich betrachte die fleckige Matratze, den vergammelten Fußboden, die Schaben, die überall herumkrabbeln, das schmutzige Geschirr, den überquellenden Mülleimer. Und ich betrachte Johnny, der seine Krawatte aus Wildseide knotet und nach seiner ledernen Aktentasche greift. Er baut sich vor mir auf.

»Was sagt man, Bo?«

»Danke.«

»Danke was?«

»Danke, Johnny.«

Er ohrfeigt mich mit aller Kraft, so dass ich schwanke. »Danke, Jonathan, heißt das. Kapiert?«

»Danke, Jonathan. Entschuldigung.«

Er ohrfeigt mich erneut, diesmal kräftiger. Mein Kopf schlägt gegen die verblichene Tapete.

Er wirft einen Blick auf seine Uhr.

»Scheiße, ich muss los. Du hast kein Glück, Bo. Ich bin heute Morgen gut in Form, aber ich habe keine Zeit, mich um dich zu kümmern.«

Er schiebt mich hinaus, schließt die Tür ab und geht die Treppe hinunter. Ich drücke mich an der Wand entlang. Er weiß, dass ich ihm gehöre. Ja, ich bin sein Sklave. Er weiß, dass ich bereit wäre, für ihn zu sterben.

So ist das eben, es ist nicht meine Schuld. Ich bin ihm hörig. Das wusste ich sofort, als ich ihn zum ersten Mal vor der Disco sah und er mich ansah. Wir kamen gegen fünf Uhr morgens raus. Stéphanie war betrunken, und Maeva half mir, sie zu stützen. Sie stolperte, und wir fielen alle drei hin. Ich spürte eine Hand, die mich ergriff und unsanft hochzog. Ich sah auf. Da war er. Wie in dem Lied von Edith Piaf. Ich wusste es sofort. Er musterte mich aufmerksam, dann betrachtete er uns alle drei und schließlich das Namensschild der Disco, und ich las in seinen Augen, dass er verstanden hatte und dass ihn das nicht interessierte. Er ließ mich los, und ich fiel, schlaff wie ein nasser Sack, wieder zu Boden.

Er will nicht, dass ich ihn liebe.

Aber ich liebe ihn trotzdem.

Dieses Schwein Bull steigt mit seiner Croissant-Tüte in der Hand über mich hinweg. Hinterhältig rufe ich ihm nach: »Du hast Johnny knapp verpasst.«

»Schnauze!«, brummt er, ohne sich umzudrehen.

Ich gehe runter in die Kneipe an der Ecke, die Linda und Laszlo gehört. Drinnen ist es dämmerig. Alte Männer trinken schweigend, aus dem Radio tönt der Wetterbericht.

Der Wetterbericht. Mir ist immer kalt oder heiß. Ich erinnere mich nicht mehr, wann es mir je gut ging. Ich möchte rauchen, aber ich habe kein Geld. Diese Idioten haben mir heute Nacht alles geklaut. Die Brille auf der Nasenspitze, liest Laszlo Zeitung, wobei er sich mit der Hand durch das graue Haar fährt. Mit seinen siebzig Jahren misst er sich noch im Armdrücken.

Linda kommt aus der Küche. Das rote Haar ist zu einem Knoten zusammengefasst. Als sie mich sieht, zieht sie die Augenbrauen hoch.

»Bist du unter einen Laster gekommen?«

»Nein, ich hatte Ärger mit ein paar Idioten.«

»Eines Tages, mein Mädchen, wirst du an eine Bande von Kranken geraten, die dir die Haut abziehen. Glaube mir, Bo, das Geschäft hat sich verändert. Du musst aufhören.«

»Ich warte, dass man mir wieder eine Show anbietet«, brumme ich.

Sie beugt sich zu mir. Alles an ihr ist rund, die üppigen Brüste, die rosigen Wangen, der volle rote Mund, die schwarzen Augen, die mich in- und auswendig kennen.

»Sie nehmen dich nicht mehr, Bo. Nicht in diesem Zustand. Du musst dich pflegen. Du musst wieder zunehmen, dich ausruhen. In den Revues wollen sie keine Reklame für Aids machen.«

»Ich bin nicht krank. Sie haben dort schon einen Bluttest gemacht.«

Dort, das war in der weiß-grauen Krankenstation des Gefängnisses. Während meiner dreijährigen Haft hatte ich Gelegenheit, sie alle besser kennen zu lernen. Seit sechs Monaten bin ich wieder draußen. Kein Job mehr. Kein Geld. Johnny ist wie Krebs. Ich strenge mich an, Linda zuzuhören, die fortfährt: »Vielleicht bist du nicht krank, aber du siehst so aus als ob. Die Leute bezahlen, um Transvestiten zu sehen, die im Paillettenstring auf der Bühne tanzen. Glaubst du, dich möchte man noch im Tanga sehen? Seit du dich mit diesem Verrückten abgibst, spinnst du total.«

»Ich gebe mich nicht mit ihm ab, zwischen uns läuft nichts.«

Ich trinke meinen Kaffee aus und versuche mich selbst davon zu überzeugen, dass ich die Wahrheit sage.

»Der Kerl ist gefährlich, Bo. Hör auf deine alte Linda. Findest du es normal, dass man Armani- oder Boss-Klamotten trägt und in einem solchen Loch wohnt?«

»Ja. Das bedeutet nur, dass er einen Job hat, bei dem er gut gekleidet sein muss, dass ihm aber ansonsten materielle Dinge gleichgültig sind.«

Sie bricht in schallendes Gelächter aus, ein gezwungenes Gelächter, das ihren üppigen Busen erbeben lässt, dann tätschelt sie mir den Kopf.

»Dich hat’s wirklich erwischt, was, mein Häschen? Komm, ich lade dich zu einem Doppelten ein.«

Sie serviert uns zwei ordentliche Whiskys. Ich schiele auf ihre Zigaretten, sie bemerkt es und bietet mir eine an. Ich inhaliere den Rauch tief. Das tut gut.

»Mossa war vorhin hier«, fährt sie fort. »Er hat mir Fragen über dich gestellt.«

»Welcher Art?«

»Ob du im Haus wohnst, mit wem du Kontakt hast, solche Sachen …«

»Und?«

»Und nichts.«

Schweigend leeren wir unsere Gläser. Ich kann mir gut vorstellen, wie sich Mossa und Linda vor einem dampfenden Espresso Sorgen um mich machen. Ich habe Linda gern, aber sie ist anstrengend. Wenn ich mir eine Mutter vorstellen müsste, wenn man mir sagen würde: Los, Bo, such dir eine Mutter aus, natürlich nicht in der Luxusabteilung, aber eine starke, vernünftige Person … ich glaube, dann würde ich jemanden wie sie wählen.

Neue Gäste kommen herein, und sie geht hinter ihre Theke zurück. Als ich aus meinem Appartement musste, hat sie mir angeboten, meine Sachen über der Bar in einer Mansarde im fünften Stock unterzustellen. Sie weiß, was es bedeutet, auf der Straße zu stehen. Im Alter von zehn Jahren hat sie ihre Eltern und ihren Bruder zum letzten Mal gesehen – als sie in den Wagen der Gestapo stiegen. Sie kam vom Brotholen zurück und war hinter einer Hoftür versteckt, als sie abfuhren. Den Rest des Krieges verbrachte sie in einem benachbarten Pensionat, wo ihr die Nonnen eine Taufbescheinigung ausgestellt haben.

Ich wäre gerne von Nonnen erzogen worden, mit dem Geruch von Bohnerwachs und frisch gebügelten Laken groß geworden; im dunkelblauen Rock, mit meinen Freundinnen tuschelnd, zur Kapelle gegangen. Wir hätten albern gekichert und die Augen beim Anblick der Jungen niedergeschlagen. Vor allem hätte ich gerne beobachtet, wie mein Vater in einen Gestapowagen steigt.

»Sind Sie auch ganz sicher, dass Sie direkt nach Auschwitz fahren?«, hätte ich den schönen Nazioffizier gefragt.

»Natürlich, mach dir keine Sorgen, kleines Gretchen«, hätte er mir geantwortet und mich an das raue Tuch seiner Uniform gezogen …

Träumen wird man ja wohl noch dürfen.

Die Mansarde ist einfach. Es gibt ein kleines Waschbecken, ein Bett und eine Dachluke. Mir gefällt das. Ich wasche mir die Hände, das Gesicht, den Mund. Kein ausgeschlagener Zahn. Das Zahnfleisch blutet, aber, gut, das geht schnell vorbei. Ich betupfe meine Wunden mit Desinfektionsmittel. Ich bürste mein Haar und verberge meine blau geschwollene Schläfe unter den Locken. Es stimmt, ich bin zu mager. Der hässliche Adamsapfel hüpft an meinem Hals. Das schmutzige, zerrissene T-Shirt ist viel zu weit und schlottert um meine hervorstehenden Rippen. Das liegt daran, dass ich keinen Hunger mehr habe. Bei der Vorstellung, zu essen, überkommt mich Übelkeit. Es ist, als wäre meine ganze Energie, mein ganzes Verlangen auf ein einziges Ziel gerichtet: Johnny. Linda hat Recht, ich muss zur Ruhe kommen. Ich brauche Arbeit in einer Show. Ich will nicht länger an der Tankstelle anschaffen gehen. Ich will tanzen, mich schön und begehrenswert fühlen. Ich will eine Frau sein. Eine Frau für Johnny.

Nein, Bo, eine andere Platte! Sieh dir die blauen Flecke an: Hier, da, überall. Und die schmerzenden Rippen. Sieh dir die aufgeplatzte Haut am Schienbein an. Gefällt dir das, du dumme Pute?

Ehrlich gesagt, es ist mir völlig gleichgültig.

Plötzlich fällt mir ein, dass Dienstag ist und ich zur Polizeiwache muss. Schon Dienstag? Ich schminke mich nicht und tausche mein T-Shirt gegen einen giftgrünen Pullover von Kookai, wechsle die Jeans, ziehe meine Dockers an und gehe nach unten.

Dort trinke ich meinen Whisky aus und sehe auf die alte Schlaguhr über der Theke: 8.45 Uhr am Faschingsdienstag.

»Welcher Tag ist heute, Linda?«

»Dienstag«, bestätigt sie, während sie ein Bier für den Schlosser von nebenan zapft. »Musst du nicht deinen Besuch machen?«

»Ja, ich gehe schon. Tschüs.«

»Ciao, mein Liebes«, ruft sie mir unter dem erstaunten Blick des Schlossers mit dem schaumgekrönten Schnauzer nach.

KAPITEL 2

Draußen nieselt es. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke zu. Letzte Woche hatte ich noch einen superschönen Mohairpullover, aber ich weiß nicht, wo er ist. Alle zwei Wochen muss ich mich bei meinem Bewährungshelfer melden. Er überzeugt sich davon, dass ich nicht an der Nadel hänge. Er fragt mich, ob ich noch Arbeit suche, ob ich auch schön meine Papiere ans Arbeitsamt schicke, ob ich zufrieden bin, aus dem Knast zu sein, ob ich mich um mich kümmere … Mein Bewährungshelfer ist ein Spaßvogel. Höflich tische ich ihm immer ein paar Märchen auf. Ich bin vorzeitig entlassen worden, zwei Jahre früher.

Manchmal denke ich an den Kerl, den ich umgebracht habe. An sein Gesicht, als er spürte, wie das Messer in sein Fleisch drang. Ich wollte es nicht tun. Er sagte, er würde mich mit einem abgebrochenen Flaschenhals entstellen. Er war viel stärker als ich und zerquetschte mich förmlich. Ich habe nach dem Messer auf dem Tisch gegriffen, ein ganz gewöhnliches Messer, ich hätte nie gedacht, dass man damit jemanden umbringen kann, aber … Sie haben gesagt, ich hätte die Leber verletzt. Der Wirt der Kneipe hat zu meinen Gunsten ausgesagt.

Es war das erste Mal, dass ich jemanden umgebracht habe. Während die Bullen hereinstürmten und rumbrüllten, sah ich, wie seine Augen glasig wurden. In meiner Zelle habe ich oft an diesen Augenblick denken müssen. Ich hätte gerne diesen Blick mit meinen Händen gegriffen und den Mann ins Leben zurückgeholt, so wie man jemanden aus dem Wasser zieht. Das habe ich auch dem Psychiater gesagt, aber ich vermute, er hat mir nicht geglaubt.

Das Polizeirevier. Die französische Flagge hängt schlaff im Nieselregen. Ich öffne die Tür und grüße den wachhabenden Beamten, der mir nicht antwortet. Dann gehe ich an einigen Polizisten vorbei, die übernächtigt und griesgrämig scheinen. Auf einer Bank warten schlecht rasierte Typen. Ich nehme den Aufzug, dessen Aschenbecher überquillt. Vierter Stock. Schreibmaschinengeklapper. Polizisten in Zivil rennen hektisch über den Gang. Ich gehe zu meiner Tür, Zimmer 38, und frage mich, was hier los ist. Ich klopfe an, keine Antwort. Ich klopfe noch mal. Nichts. Dann drücke ich die Klinke hinunter, aber die Tür ist abgeschlossen. Verblüfft sehe ich mich um. Die Wanduhr zeigt 9.15 Uhr an. Schließlich erblicke ich Mossa, der am Wasserspender trinkt. Er hebt den Kopf und sieht mich.

»Du bist umsonst gekommen!«, ruft er mir zu, während er sich mit dem Ärmel seines senfgelben Sweatshirts den Mund abwischt.

»Ich hatte drei Kilometer Fußweg!«

Eine böswillige Übertreibung, es waren höchstens achthundert Meter.

»Du kannst einem direkt Leid tun«, höhnt Mossa.

Mürrisch deute ich mit dem Daumen auf die Tür und erkläre:

»Er könnte wenigstens Bescheid sagen!«

»Das dürfte ihm einigermaßen schwer fallen. Er liegt im Krankenhaus, und man versucht, ihn wieder zu beleben.«

Ich betrachte Mossa, um herauszufinden, ob das ein Scherz sein soll. Er lacht übertrieben und entblößt seine weißen Zähne.

»Er ist halb tot, verstehst du? Man hat ihn vor zwei Stunden zu Hause gefunden. Genauer gesagt, seine Exfrau, die heimlich den Fernseher abtransportieren wollte. Sie hatte einen Schlüssel behalten und dachte, er sei bei der Arbeit … Vorsorglich hat sie geklingelt, keine Antwort, also geht sie rein und … welche Überraschung! Der gute Derek lag mit verdrehten Augen auf dem Küchenboden. Er hat versucht, sich umzubringen, indem er am Gasschlauch genuckelt hat«, schließt er seufzend.

»Verdammte Scheiße«, sage ich automatisch.

»Du sagst es. Da er zu viel Umgang mit Leuten wie dir hatte, muss er sich gesagt haben, dass das Leben letztlich nichts anderes ist als ein Riesenhaufen Scheiße.«

Ich zucke die Schultern. Mossa ebenfalls. Ende der Grabrede. Als ich mich an unser morgendliches Treffen erinnere, füge ich hinzu:

»Ich dachte, Sie wollten nach Hause und schlafen.«

»Ich wollte, aber dann hat man mich zu einer Identifikation gerufen. Man hat wieder eine gefunden …«, entgegnet er, während er in seinen roten Lederblouson schlüpft.

»Wieder was?«

»Eine Hure. Tot.«

Ich verstehe nicht.

»Mit Derek zusammen hat sich eine Hure umgebracht?«

»Du solltest bisweilen mal eine Gehirnspülung machen, meine Kleine! Man hat wieder eine Frau gefunden. Ermordet, verstümmelt!«

Ich fröstele. Das gefällt mir gar nicht. Die Erste, das war vor ungefähr zwei Monaten. Eine Frau von etwa vierzig Jahren, eine Russin, zerstückelt auf dem Parkplatz des Supermarktes Intermarché. Eine abartige Geschichte. Da sie anschaffen ging, hatten wir alle zwei Wochen lang Angst, na ja, und dann … Mossa hielt es für das Werk eines Wahnsinnigen, aber die Bullen dachten auf Grund von Marianas Herkunft eher an die Russenmafia. Durch die Nachforschungen war der hiesige Ring zwar zerschlagen worden, aber das hatte letztlich hinsichtlich des Verbrechens selbst zu keinem Ergebnis geführt. Die Zeit verging, und niemand hatte mehr an die arme Frau gedacht, ermordet und verstümmelt, wie jedes Jahr Dutzende anderer Prostituierter, ohne dass das die Öffentlichkeit groß kümmert.

Leicht beklommen frage ich ihn:

»Kenne ich sie?«

»Weiß ich nicht. Man nannte sie Natty … Natty die Belgierin.«

Das sagt mir zwar nichts, aber die Mädchen aus dem Norden der Stadt kenne ich ohnehin nicht.

»Man hat sie auf dem Parkplatz eines Supermarktes gefunden, diesmal war’s Auchan«, fährt er fort. »Auf dieselbe Art zerstückelt wie die Erste. Zerstückelt und ausgenommen.«

Ich muss an ein Hähnchen im Supermarkt denken. Ich hebe den Kopf zu Mossa.

»Glauben Sie, es war derselbe?«

»Na, wenn es nicht derselbe war, dann gibt es zwei Fanatiker mit einer Vorliebe für Hackbeile.«

Fassungslos sehe ich ihn an. Ein Hackbeil? Soll das ein Witz sein oder was hat das zu bedeuten? Mossas große Hand malt eine Art kleines Beil in die Luft.

»Weißt du, so ein Ding, wie es die Großmütter in der Küche hatten, um damit den Hühnern den Hals abzuhacken.«

Ich sehe meine Großmutter, die in ihrer ordentlich aufgeräumten Küche sitzt und trinkt, um zu vergessen, dass mein Vater ein Schwein ist. Ich sehe das glänzende Hackbeil, das auf dem sauberen Schneidebrett liegt. Die gut geschärfte Klinge … Mossa fährt fort:

»Wir gehen nicht davon aus, dass es viele Typen gibt, die mit so einem Ding rumrennen. Normalerweise ist es eher ein Messer, eine Knarre oder notfalls ein Schraubenzieher, aber ein Hackbeil, das deutet auf jemanden hin, der vorsätzlich handelt.«

»Sie glauben also nicht mehr an die Russenmafia?«

»Nachdem wir dort erst kürzlich aufgeräumt haben, scheint mir das wenig wahrscheinlich.«

Ich überlege kurz.

»Vielleicht ist es ein Metzger … Vielleicht hat er sein Hackbeil in seinem Verkaufswagen dabei.«

»Daran hat der Pastor auch schon gedacht. Sag auf alle Fälle den anderen, sie sollen aufpassen. Also, ich muss gehen. Komm morgen wieder vorbei, dann ist Dereks Vertreter da.«

»Ist er nett?«

»Jaaa …«

Schon gut, ich habe verstanden. Mossa eilt die Treppe hinunter. Ich warte auf den Aufzug. Der Pastor, das ist Luther, ein Kumpel von Mossa. Er arbeitet bei der Kripo. Man nennt ihn Pastor wegen seines Namens und auch wegen seines strengen Auftretens. Meist ist er schwarz gekleidet und trägt eine runde Metallbrille. Wenn ich ihm begegne, habe ich jedes Mal das Gefühl, einen rosafarbenen Stern auf der Stirn zu tragen.

Auf der Straße nieselt es noch immer. Die Reifen schmatzen in den Pfützen, Wasser spritzt auf. Die Leute gehen schnell, mit gesenktem Kopf und aufgespanntem Regenschirm. Einige werfen mir verstohlene Blicke zu. Daran bin ich gewöhnt. Ich öffne den Mund, um die Regentropfen auf meinen Lippen zu spüren. Sie sind frisch und sanft.

Ich kaufe einen Hamburger und schaffe es, die Hälfte zu verspeisen. Die andere Hälfte lege ich neben eine Pennerin, die sich mit Pappkartons zugedeckt hat.

»Ich bin doch kein Mülleimer«, brüllt sie mir nach.

Ich mache Anstalten, den halben Hamburger zu zertreten. »Dreckskerl!«, protestiert sie und stürzt sich darauf, um ihn zu essen.

Bo, sage ich mir, du hättest Psychiater werden sollen!

Als ich in unserem Viertel ankomme, nehme ich die Straße, in der die Mädchen stehen. Anscheinend hat sich der Mord schon rumgesprochen. Jemand klopft mir auf die Schulter. Es ist Miranda, sie ist sechzig Jahre alt und hat schon alles erlebt, alles mitgemacht.

»Hast du das mit Natty gehört?«, fragt sie in ihrem harten spanischen Akzent, der untrennbar mit ihren rot geschminkten Lippen und ihren Augen verbunden ist, die schwärzer sind als die einer Operetten-Carmen.

Ich nicke, und sie schreit plötzlich: »Rauch, das ist belgischer!«, was mich ernsthaft an ihrem Geisteszustand zweifeln lässt. Dann fügt sie hinzu:

»Das haben wir immer gesagt, sobald Natty, die Belgierin auftauchte, dann war sie stocksauer, die Ärmste.«

»Hat sie auf diesem Parkplatz gearbeitet?«

»Nein. An der Autobahnbrücke. Nein, nun stell dir das doch nur vor! Mit einem Hackbeil! Mir macht das Angst.«

»Keine Sorge, er nimmt nur Junge!«, ruft ihr Elvira zu, eine falsche, ganz in Leder gekleidete Sado-Maso-Mieze.

»Du bist blöd … wenn du erst mal in Scheibchen zerschnitten bist, wirst du das weniger lustig finden«, entgegnet Miranda.

»Einmal müssen wir schließlich alle sterben …«, philosophiert Elvira und zündet sich eine Zigarette an.

Sie bietet mir auch eine an. Ich nehme sie. Dann lächelt sie mir zu, sie lächelt die ganze Zeit, sie hat sich erst letzten Monat die Zähne richten lassen. Ich zwinge mich ebenfalls zu einem Lächeln. Ich mag sie nicht. Sie ist ganz und gar der Typ blöde Blondine, der Johnny gefällt. Ich frage mich immer, ob er nicht zu ihren Kunden gehört. Ob sie ihn in ihrem armseligen Appartement zum Stöhnen bringt.

Ob sie sieht, wie er die Augen verdreht.

Wie sich seine Haut mit Schweißperlen überzieht. Einmal habe ich einen Schweißtropfen von seiner Lippe gewischt, er hat mich so heftig geohrfeigt, dass ich hingefallen bin. Ich habe meinen Zeigefinger in den Mund gesteckt und ihn abgelutscht.

»Und was ist dir passiert?«, fragt Miranda und mustert mich prüfend. »Bist du aus dem Bus gefallen oder war das dieser Dreckskerl, in den du verknallt bist?«

»Ich bin aus dem Bus gefallen.«

Ich habe keine Lust, ständig darüber zu reden. Sie zuckt die Schultern und gibt ein missbilligendes »tsst-tsst« von sich. Ich frage mich, warum die ganze Stadt darüber informiert ist, dass ich mich zu Johnny hingezogen fühle. Ich kann mich nicht erinnern, diesbezüglich eine Kleinanzeige aufgegeben zu haben.

Elvira fragt mich, ob ich ihr einen ausgebe. Unter Freundinnen. Ich erkläre ihr, dass meine einzige Freundin in meinem Slip ist. Sie lacht, und ich verschwinde.

Ich mache mir Sorgen. Gerunzelte Stirn und vorzeitige Falten. In einer Schaufensterscheibe betrachte ich mein Spiegelbild. Stimmt, das Abbild eines genervten Menschen. Ich versuche, mich zu entspannen. Vergeblich. Ich bin nervös. Ich habe unglaubliche Kopfschmerzen, eine Folge meiner äußerst angenehmen Nacht, und Lust zu kotzen. Und es ist nicht eben hilfreich, mir den alten Derek vorzustellen, wie er in seiner Küche liegt, einen dreckigen Gummischlauch im Mund.

Auf der Suche nach einem kleinen Happymacher laufe ich durch das Viertel. Ich treffe Axelle, ihre Pupillen sind klein wie Stecknadelköpfe. Sie zeigt mir ihr neues Implantat: ein Nylonarmband, das sie sich unter die Haut des Unterarms hat nähen lassen. Touristen wechseln bei unserem Anblick die Straßenseite. Ich habe sie im Internet-Café kennen gelernt, wir surften beide auf BME (Body Modifikation E-Zine). Wir haben lange über den Schmerz und die körperliche Veränderung gesprochen.

»Für mich ist die körperliche Veränderung eine Art, meinen Körper erneut in Besitz zu nehmen«, sagte sie und strich sich mit der Hand über den kahl geschorenen Kopf.

»Und für mich ein Weg, ihm zu entfliehen«, erklärte ich ihr und dachte daran, was es mich kosten würde, meine Brüste etwas stärker wachsen zu lassen.

Axelle hat immer das Neueste. Zuerst waren es Unmengen von Piercings und ein Metallstab durch die Nasenscheidewand. Dann entschied sie sich für einen jener Halsreifen, die den Hals in die Länge ziehen wie bei den »Giraffen-Frauen« und für in die Ohren eingenähte 500-Lire-Stücke.

Dann ging’s weiter mit Relief-Tätowierungen – ein Alpha unter dem rechten Auge, ein Omega unter dem linken und am Kinn ein Branding, ein mit dem glühenden Eisen eingebranntes @ der e-Mail-Adresse. Und nun sind also Implantate an der Reihe: diverser Modeschmuck, den sie sich unter die Haut schieben lässt, »unter ärztlicher Aufsicht, versteht sich«. Axelle liebt alles, was medizinisch ist. Sie nimmt nur synthetische Drogen. Einmal hat sie mir gestanden, dass sie keine sexuellen Beziehungen haben kann, weil der Geruch menschlicher Haut sie anwidert. Wenn man eines Tages vakuumverpackte Typen anbieten würde, wäre das eine echte Befreiung für sie.

»Das Kabel«, meint sie plötzlich.

»Was, das Kabel?«

»Im Kabelkanal. Gestern Abend. Eine Reportage. Unglaublich, das Höchste. Nächstes Mal lasse ich mir Hörner machen.«

»Hörner?«, frage ich und komme mir plötzlich alt vor. »Hörner aus Inox, ja, an jeder Schläfe, wie ein Stier.«

»Ja, mit einem Schild um den Hals ›im Tele-Shop gesehen‹.«

»Du bist blöd! Hörner, das ist super. Los Angeles. Die Typen sind das Super-Delirium.«

Ich nicke höflich. Sie zeigt mir ihren Unterarm, die ovale Form des Armbands ist deutlich unter der Haut zu erkennen. »Absolut genial, was?«

Ich streiche über die durch das Armband erhöhte Haut. Ein eigenartiges Gefühl. So muss es sein, wenn man einen Humanoiden berührt.

»Wir sollten unser Gespräch von neulich fortsetzen.«

»Welches?«

»Transsexualität als Body-Art.«

»Ah, genau. Sag mal, hast du nicht ein bisschen Stoff für mich?«

»Tut mir Leid, aber ich bin blank.«

Das glaube ich ihr. Ich gebe ihr einen Kuss und verziehe mich.

Zoran, dem der rund um die Uhr geöffnete Gemischtwarenladen gehört, ist bereit, mir auszuhelfen. Ich will ihm auf meine Art danken, aber er lehnt lachend ab: Das ist nicht sein Ding.

Anschließend gehe ich am Hafen spazieren, ich beobachte die Fähre, die nach Korsika ablegt. Ich beobachte gerne, wie die Schiffe auslaufen. Die weiße Schaumspur, die majestätischen Wellen, die Sirene, die den Aufbruch verkündet. Ich möchte in der Reede schwimmen und die riesige Fähre auf mich zukommen sehen, die große weiße Masse, der spitze Bug, der genau auf meinen Kopf zuhält. Ich würde mich nicht von der Stelle rühren, mich ganz klein fühlen, winzig wie Fliegendreck. Von einer Masse zu Tode gequetscht zu werden, die tausendmal größer ist als man selbst, so wie wenn eine Ameise von einem Menschen zertreten wird. Genial.

Ich setze mich mit dem Rücken an einen Betonpfeiler, betrachte das Wasser und schlafe ein.

Als ich wieder aufwache, ist es später Nachmittag, und ich habe noch immer Kopfschmerzen. Ich recke mich. Dann pinkele ich in Form eines J an den Betonpfeiler. Ich habe es satt, mich rumzuschleppen. Ich habe dieses Leben satt.

Zurück zu Johnnys Junggesellenbude. Ich verstecke mich hinter der Eingangstür des Nachbarhauses. Plötzlich fällt mir auf, dass ich friere. Ich reibe mir die Arme. Was machst du, Johnny? Komm, komm schnell.

Ich warte eine Stunde, ich habe aufgehört, mir die Arme zu reiben, ich bin halb erfroren. Frösteln. Vielleicht ist es nicht die Kälte, sondern Hunger? Habe ich heute schon etwas gegessen? Ich vermag meine Empfindungen nicht mehr auseinander zu halten.

Der Psychiater im Knast hat gesagt, das sei wegen dieses Zimmers, in das ich mich flüchtete, wenn mein Vater lostobte. Kein richtiges Zimmer, vielmehr ein Zimmer in meinem Kopf, ein schwarzes Loch, in dem man nichts spürt. Na ja, vielleicht. Was der Psychiater meint, ist mir egal.