Matthias Sachau

Alicia verschwindet

Roman

Insel Verlag

Alicia verschwindet

Erster Teil

1

Die alten Ledersessel in der Bibliothek des Blander's Club wirkten so ausladend, dass kleinere Männer befürchten mussten, von ihnen verschluckt zu werden. Zum Glück waren Robert Arlington-Stockwell und ich stattlich genug, um uns sicher zu fühlen. Ob die Bücher in den mächtigen viktorianischen Regalen um uns herum jemals gelesen wurden oder nur verhindern sollten, dass jemand fragte, warum der Raum Bibliothek hieß, war schwer zu sagen. Ich dachte kurz an meine eigene, zum Bersten gefüllte Bücherwand zu Hause. Eine wilde Ansammlung unterschiedlichster Werke, halbwegs korrekt nach Autorennamen sortiert. Wahrscheinlich wäre eine andere Ordnung sinnvoller. Musste man überhaupt alle Bücher aufheben? Sollte man sich nicht lieber auf einige Lieblingswerke beschränken? Ich tröstete mich damit, dass wohl jeder, der gerne las, diese Entscheidung sein Leben lang vor sich herschob.

Wir warteten auf unsere Drinks und plauderten. Ich fragte mich, ob sich Roberts Gesichtszüge seit unserer letzten Begegnung verändert hatten, oder ob nur das weiße Pflaster, das Teile seiner linken Stirnhälfte verdeckte, die gewohnten Proportionen durcheinanderbrachte. Natürlich erkundigte ich mich nicht danach. Im fünftältesten Londoner Gentlemen's Club wäre so ein Verhalten unangemessen gewesen. Ich durfte ohnehin nur hier sein, weil ich Roberts Gast war und zur vereinbarten Zeit an einer geheimnisvollen großen blauen Tür in der St James's Street mit dem richtigen Codewort hatte glänzen können.

Auf dem blankpolierten Holztischlein vor uns standen eine Karaffe Wasser, zwei Gläser auf ledernen Untersetzern und eine Kristallschale mit einer Auswahl Salzgebäck. Davor drei Fotos, die Robert mit der Bildseite nach unten akkurat nebeneinandergelegt hatte.

»Entschuldigen Sie die Geheimniskrämerei, Doktor«, sagte er, während er uns Wasser einschenkte. »Aber was ich Ihnen erzählen möchte, erfordert, dass ich diese Fotos erst nach und nach aufdecke. Sie werden bald verstehen, warum.«

Ich kannte Robert nicht gut, aber gut genug, um ihn zu mögen. Obwohl ich Anfang fünfzig und damit fast zwanzig Jahre älter war als er, hatten wir das, was man »einen guten Draht zueinander« nennt. Als wir uns vor ein paar Jahren zum ersten Mal auf dem East Course des Wentworth Golf Clubs begegneten — genauer gesagt in dem vermaledeiten Waldstück zwischen dem fünften und neunten Loch, in dem wir beide nach unseren hoffnungslos verzogenen Bällen suchten und sie beinahe verwechselten —, brauchten wir nur wenige Sätze, um das festzustellen. Und auch wenn wir uns danach nur gelegentlich und zufällig trafen, unser Draht hatte Bestand. Sobald wir uns bei einer der zahlreichen langweiligen Zusammenkünfte der British Season von Weitem erkannten, zwinkerten wir uns über die Köpfe und Hutfedern hinweg zu, und ich genoss ab diesem Moment die angenehme Gewissheit, dass wenigstens eines der Gespräche an diesem Abend unterhaltsam sein würde.

Sicher, Robert war das Musterbild eines Sloane Rangers, eines jener jungen Briten, die gleich mit einem ganzen Dutzend goldener Löffel im Mund geboren wurden. Die Arlington-Stockwells waren eine vollendete Mischung aus Adel, altem Geld, neuem Geld, Firmenanteilen, Immobilien und Beziehungen bis hinauf zu den Grosvenors. Bemerkenswert war aber, dass er trotz intensiver Dauerverwöhnung keine nennenswerten charakterlichen Schäden davongetragen hatte. Er war sich — im Gegensatz zu den meisten anderen Söhnchen, die sich im Guards Polo Club, im Boujis und in den Logenplätzen der Royal Opera tummelten — der Absurdität seiner Lebensumstände vollauf bewusst. Und mein Bauchgefühl sagte mir, dass er tief im Inneren unzufrieden war, allerdings ohne genau zu wissen, womit. Vielleicht war nur diese Unsicherheit der Grund, warum er keinerlei Ambitionen zeigte, aus dem Klammergriff der Familie Arlington-Stockwell auszubrechen.

Lediglich eine einzige Fluchttür nutzte er gerne und oft. Sie führte in die relative Freiheit einer zwar streng umzäunten, aber in ihren Ausmaßen doch sehr annehmbaren Spielwiese: Gespräche. Ich muss voller Neid zugeben, dass Robert ein Meister darin war. Jeder noch so langweiligen Runde konnte er mühelos mit ein paar Sätzen Leben einhauchen. Er beachtete dabei penibel die Grenzen der Konventionen, tänzelte aber bisweilen so dicht an ihnen entlang, dass man den Atem anhielt. Gleichzeitig hatte er die wunderbare Angewohnheit, sein eigenes Leben nicht zum Thema zu machen. Und wenn andere dafür sorgten, gelang es ihm schnell, das Gespräch wieder in neue Bahnen zu lenken. Wahrscheinlich hatte es weniger mit gutem Stil zu tun als mit seinem Bewusstsein dafür, dass seine Vita tatsächlich nichts hergab, was einer Vertiefung wert gewesen wäre.

Dass Letzteres so nicht mehr stimmte, sollte mir im Verlauf des Abends klar werden. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich allerdings noch nichts. Im Gegenteil, nachdem Robert seine Fotos ausgebreitet hatte, fürchtete ich im Stillen, dass die wohlige Spannung, die er aufgebaut hatte, nicht annähernd das einlösen würde, was sie im Moment versprach. Gleichzeitig schämte ich mich über meinen primitiven Anspruch, gut amüsiert zu werden. Kaum angemessen für diese Verabredung, immerhin unsere erste nach jahrelangen Zufallsbegegnungen.

Ein Diener mit Tablett trat an den Tisch. Roberts geheimnisvolle Fotoreihe bekam Gesellschaft von einer Cocktailschale und einem Tumbler. Die Cocktailschale war seine Bestellung. Ein Gin Basil Smash, das Rezept eines deutschen Bartenders, für das ich mich bislang nicht erwärmen konnte. Robert hatte eine Vorliebe für alles Deutsche. Er beherrschte die Sprache fließend, zitierte Goethe, Mann und Kafka und zog oft provozierende, bewusst unfaire Vergleiche zwischen deutscher und britischer Kultur. Ein Teil seiner offen gelebten Germanophilie war sicher echter Faszination geschuldet, aber ich bin überzeugt, ein anderer Teil rührte von einem tiefen, uneingestandenen Wunsch nach Auflehnung her.

Ich selbst begnügte mich mit einem schlichten Whisky Sour. Ich ließ die großen Eiswürfel ein paarmal kreisen, dann stießen wir an. Der erste Schluck war, wie immer, ein Fest. Ich ließ mir Zeit und genoss die nie ganz, aber in diesem Fall doch nahezu perfekte Balance zwischen Säure und Süße. Robert hingegen schien es fast gleichgültig, was er in sich hineinkippte. Ungewöhnlich für ihn. Einer Ahnung folgend, fragte ich, ob er nun mit seiner Geschichte anfangen wolle. Und er wollte.

»Wenn Sie erlauben, beginne ich mit einer Frage, Doktor: Kennen Sie Alicia Jensen?«

»Nein«, antwortete ich. »Ich kenne überhaupt keine Jensens.«

Robert winkte ab. »Es hätte mich auch gewundert. Um es kurz zu machen, Alicia Jensen ist mein bester Freund. Ja, Sie haben richtig gehört: bester Freund. Ich wüsste nämlich keinen Mann, mit dem ich mich auch nur ansatzweise so gut verstehe. Einen besseren besten Freund als sie kann ich mir nicht wünschen.«

Roberts Tonfall war anders als sonst. Mir wurde langsam klar, dass er diese Geschichte nicht erzählte, weil er sie für unterhaltsam hielt. Sie lag ihm auf der Seele. Ich konnte mir allerdings nicht erklären, warum er sich damit ausgerechnet an mich wandte, einen Mann, mit dem er — trotz beiderseitiger Sympathie — bisher nur lose verbunden war. Nicht dass ich etwas dagegen hatte. Im Gegenteil, wenn es eine Schwäche gibt, derer ich mich bezichtigen müsste, dann ist es Neugier. Dennoch, warum tat er es? Hoffte er auf meinen Rat? Mir schien diese Option am wahrscheinlichsten und ich fühlte mich geschmeichelt. Wie gründlich ich mich täuschte, sollte ich erst etliche Drinks später erfahren.

Er nahm einen weiteren Schluck, atmete hörbar ein und fuhr fort: »Ich mache mir große Sorgen um Alicia.«

Sein gewohnt wacher, stets leicht verschmitzter Gesichtsausdruck war vollends gewichen. Ich sah einen Mann, der mühsam Haltung bewahrte. Was auch immer er mit »Sorgen um Alicia« gemeint hatte, es schien ernst zu sein. Ich sagte die beiden Sätze, die in meinem Beruf als Psychiater zu den Formalien gehören, die ich jedoch kaum jemals dringlicher ausgesprochen hatte als an jenem Tag: »Erzählen Sie die Geschichte von Anfang an. Wir haben alle Zeit der Welt.« Sein kurzes Zögern entging mir nicht, und ich fügte hinzu: »Sie haben mein Wort, dass alles, was Sie mir heute berichten, so sicher bei mir aufgehoben ist, als hätten Sie es mir in meiner Praxis anvertraut.«

Er versuchte sich kurz in dem unmöglichen Kunststück, sich unbemerkt umzusehen, nahm einen letzten Schluck und fing an:

»Alicia ist verschwunden, Doktor. Ich habe sie vor gut einer Woche zum letzten Mal gesehen. Wir hatten einen wunderbaren Abend zusammen verbracht, und am nächsten Tag war sie wie vom Erdboden verschluckt. Keine Reaktion mehr auf Anrufe und Nachrichten, niemand zu Hause und die Nachbarn wussten auch nicht, wo sie steckte. Ich wollte schon zur Polizei, doch dann habe ich einen Brief von ihr auf meinem Schreibtisch gefunden. Er war bereits zwei Tage alt, das konnte ich aus der Reihenfolge schließen, in der Samuel die Post hingelegt hatte. Seit ich Zuflucht bei meiner Lebensgefährtin Rovena suchen kann, verkehre ich nicht mehr so oft in meinem ›Sarg‹, wie ich meine Wohnung aus vielerlei Gründen nenne. Sie erinnern sich an Miss Rovena, nicht wahr?«

»Aber sicher, Sie hatten sie mir vergangenen Winter in der Oper vorgestellt. Und halb London spekuliert, ob Sie ihr bald einen Antrag machen.«

»Nun, ich habe inzwischen immerhin schon die Ringe gekauft. Doch zurück zu Ali. Dass sie mir einen Brief schickte, war wirklich merkwürdig. Gewöhnlich haben wir telefoniert und SMS geschrieben. Und sie ist, wie bereits angedeutet, keine Angehörige unserer Schnöselkaste. Sie verdient ihren Lebensunterhalt als freie Fotografin und kümmert sich um alle Belange ihres Lebens selber. Sie muss ihren Freunden nicht regelmäßig teure, handgeprägte Briefbögen um die Ohren hauen, um ihr Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten.«

Dass Robert mitten in den heiligen Hallen des Blander's das Wort »Schnöselkaste« benutzte, gefiel mir. Es gab mir das aufregende Gefühl, wir wären Mitglieder einer Verschwörung.

»Wirklich, Sie sollten Alicia einmal bei ihrer Arbeit erleben.« Er kam in Fahrt. »Sobald sie fotografiert, ist sie nicht mehr ansprechbar. Sie wird eins mit ihrer Kamera. Keine Verrenkung ist ihr zu abenteuerlich, um die Linse in die richtige Position zu bringen. Und wenn man sie dabei beobachtet, könnte man glauben, sie wäre bereit, für ein gutes Bild zu töten. Nein, das ist natürlich Unsinn. Aber — und das meine ich wirklich so — manchmal beschleicht mich das Gefühl, sie wäre zumindest bereit, für ein gutes Bild zu sterben.« Er hielt kurz inne. »Sie müssen wissen, sie hortet eine geheime Sammlung von Fotos, zu denen sie … eine besondere Beziehung aufgebaut hat. Ich finde, es sind ihre besten. Aber sie lässt sie fast niemanden sehen. Manche schaut sie selbst kaum an. Sie machen ihr Angst, sagt sie. Doch ich schweife ab. Hier, ihr Brief. Würde es Ihnen etwas ausmachen, ihn sich anzusehen?«

Damit zog er einen geöffneten Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts und überreichte ihn mir. Gewöhnliche Qualität, wie man sie in jedem Schreibwarenladen bekommt.

»Darf ich?«

»Bitte.«

Ich holte den Briefbogen heraus. Er war dünn und nicht sehr stabil, vermutlich ein Blatt aus einem Stapel Druckerpapier. Ich las mit leicht gedämpfter Stimme vor:

Lieber Robert,

ich muss verschwinden. Würde es Dir etwas ausmachen, nach meiner Wohnung zu sehen?

Grüße, Ali

Die Buchstaben waren sorgfältig ausgeschrieben, vermutlich mit einem Kugelschreiber. Ich ließ die Worte kurz auf mich wirken. Dann sah ich Robert an, und er sprach weiter: »Dass dieser Text äußerst merkwürdig ist, brauche ich Ihnen wohl kaum zu sagen, Doktor. Zunächst einmal: ›Ich muss verschwinden.‹ Das klingt, als wäre Ali ein Mafiakiller, der in Schwierigkeiten geraten ist. Völlig absurd. Hätte sie geschrieben: ›Ich muss einfach mal für eine Weile verschwinden‹, wäre das anders. Ich weiß von dem Haus auf der Isle of Portland, das ihrem verstorbenen Großvater gehört hat. Eine Bruchbude, die man meines Erachtens besser heute als morgen verkaufen sollte, aber Alicia nutzt sie gern als Rückzugsort. Wenn sie ihren Text auch nur andeutungsweise in Richtung Erholen, Ausspannen und Ruhe suchen ausgeschmückt hätte, wäre für mich klar gewesen, dass sie auf Portland ist. Selbst bei einem schlichten ›ich muss mal verschwinden‹ hätte ich sie dort vermutet. Doch das fehlende ›mal‹ macht einen großen Unterschied, finden Sie nicht auch, Doktor? Oder halten Sie mich für überspannt?«

»Ich vermute, wir sind immer noch ganz am Anfang Ihrer Geschichte«, antwortete ich. »Im jetzigen Stadium würde ich Ihnen lediglich ein gutes Gespür für Details attestieren. Mich selbst hätte dieser Brief sicher ähnlich ratlos gemacht wie Sie.«

»Das beruhigt mich. Ganz ehrlich. Ich war in den letzten Tagen schon mehr als einmal an dem Punkt, an dem ich mich fragte, ob ich Hirngespinsten hinterherlaufe. Doch zurück zum Brief. Fast genauso merkwürdig wie Alicias Verschwinden fand ich die Frage: ›Würde es Dir etwas ausmachen, nach meiner Wohnung zu sehen?‹ Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass ich ihr jeden Gefallen der Welt tun würde, auch wenn sie mich bisher so gut wie nie um etwas gebeten hat. Und nach der Wohnung zu sehen ist auch keine ungewöhnliche Bitte unter Freunden, wenn einer verreist. Aber ausgerechnet ich? Wenn jemandem das Wohl seiner Wohnung am Herzen liegt, bin ich ganz bestimmt der Letzte, dem er diese Aufgabe anvertrauen sollte. Ich habe keine Ahnung, wie man nach einer Wohnung sieht, ich muss mich ja noch nicht einmal um meine eigene kümmern. Ich hätte natürlich Samuel die Aufgabe übergeben können, aber das hat sie nicht gemeint. Ihr Verhältnis zu Samuel war speziell. Wenn sie bei mir war, behandelte sie ihn demonstrativ so, als sei er ein Freund und nicht der Butler. Sie forderte ihn auf, sich zu uns zu setzen und mit uns zu trinken und solche Sachen. Immer eine ziemlich unangenehme Situation für Samuel, aber weiß der Teufel, irgendwie haben es die beiden geschafft, sich über dieses Einladen-und-Ablehnen-Spiel anzufreunden. Wenn sie mich also fragt, ob ich nach ihrer Wohnung sehen kann, dann meint sie auch mich. Punkt.«

»Und wie sollten Sie in Miss Alicias Wohnung hineinkommen, Robert? Hatte sie die Wohnungsschlüssel für Sie hinterlegt?«

»Nein, sie hatte mir ihre Wohnungsschlüssel schon vor langer Zeit anvertraut. Für den Fall, dass sie ihre verliert oder was auch immer. Ich fand das sehr schön. Nicht nur eine Geste des Vertrauens, das ist Vertrauen. Aber als Arlington-Stockwell hat man so etwas nicht nötig. Was auch immer mit dem Schlüssel für meinen Sarg — der natürlich schon lange kein Schlüssel mehr, sondern eine Schlüsselkarte ist — passieren sollte, ein Anruf bei Samuel oder bei unserer Sicherheitsfirma genügt. Trotzdem habe ich auch Alicia eine Karte für meine Wohnung gegeben. Es hat zwar keinen praktischen Sinn, aber ich wollte es einfach. Es fühlt sich gut an.

Verzeihen Sie, wenn ich noch ein wenig bei dem Thema Schlüssel bleibe, aber Alicias Schlüssel spielten in unserer Freundschaft eine noch weitaus größere Rolle, als man als Außenstehender vermuten könnte. Ich glaube, man nennt es Fanal oder so ähnlich. Ich trage ihre Schlüssel jedenfalls stets mit mir herum. Mein Schlüsselbund ist jämmerlich zusammengeschrumpft, seit die Schlüsselkarten über uns hereingebrochen sind. Richtige Schlüssel habe ich nur noch für meinen 65er E-Type und Alicias Wohnung. Wenn wir uns gestritten haben — und das taten wir weiß Gott oft, sie kann das wunderbar, sie ist der einzige Mensch, mit dem ich mich gerne streite —, lief das Ende meist so ab: Wir erreichten irgendwann das Stadium der unversöhnlichen Gesprächspause, ich wartete genau zwei Sekunden, dann löste ich ihre Schlüssel von meinem Bund, schob sie ihr hin und sagte: ›War's das jetzt zwischen uns?‹ Mal setzte ich dazu einen Hundeblick auf, mal grinste ich unverschämt, auf jeden Fall brachte ich sie immer zum Lachen. Sie stieß dann einen üblen Hafenarbeiterfluch aus und warf mir ihre Schlüssel an den Kopf. Manchmal auch in die Weichteile. Ich wusste es nie vorher, und Gnade mir Gott, wenn meine Reflexe eines Tages nachlassen sollten. Doch nun genug zum Thema Schlüssel.

Nach ein paar vergeblichen Versuchen, Alicia telefonisch zu erreichen, machte ich mich selbstverständlich sofort — da fällt mir gerade ein, die Deutschen haben ein großartiges Wort dafür: ›schnurstracks‹. Kennen Sie es? Nein? — Also, ich begab mich, wenn Sie erlauben, schnurstracks nach Highbury zu Alicias Wohnung, um nach ihr zu sehen. Und ich hoffte natürlich, dass sie zu Hause sein würde. Und dass es irgendeine harmlose Erklärung für ihren Brief und das Schweigen der letzten Tage gäbe, vielleicht sogar eine lustige.«

Robert nahm einen großen Schluck Gin Basil Smash. Ob es am Durst lag oder ob er hoffte, dass es ihn beruhigte, war schwer zu sagen. Ich gab mir Mühe, nicht das rätselhafte Pflaster auf seiner Stirn anzustarren. Als er endlich weitererzählte, war ich froh, mich wieder auf seine Augen konzentrieren zu können.

2

»Kaum eine Stunde nachdem ich den Brief gelesen hatte, stieg ich also mit zunehmend klopfendem Herzen die Treppe zu Alicias Apartment hoch. Ich kannte es von unzähligen Besuchen. Es hat keinen Balkon, aber man kann aus dem Fenster klettern und auf einem Vordach sitzen. Von da sieht man den Sonnenuntergang, und wenn Arsenal spielt, hört man das Stadion. Fragen Sie mich nicht, wie viele Abende wir dort zusammen verbracht haben. Ich fühle mich dort viel wohler als bei mir. Mein Sarg liegt in unserem Stadthaus in der Lyall Street. Eine Prachtimmobilie, ohne Zweifel. Aber leider bis unter das Dach von meiner Sippe durchsetzt. Und was das Recht auf Privatsphäre betrifft, gelten bei uns sehr eigentümliche Regeln. Die elenden Schlüsselkarten sind so programmiert, dass jeder Arlington-Stockwell jederzeit jede beliebige Wohnung jedes anderen Arlington-Stockwells betreten kann. Die Dauerbesuche meines Vater, meiner Mutter und meiner Tante Merlind bringen mich um. Dass ich gerade sehr beschäftigt bin, nimmt mir keiner ab, denn es gibt weiß Gott niemanden in meiner Familie, der ernsthaft etwas zu tun hätte. Und den Einwand, ich sei gerade im Begriff, ein Bad zu nehmen, kann ich auch höchstens zweimal am Tag vorbringen. Malen Sie sich das so schlimm aus, wie Sie wollen, Doktor. Aber glauben Sie mir, es ist noch schlimmer.

Manchmal war Ali zu Besuch und bekam diese Zustände mit. Ich weiß nicht, ob sie sich jemals bei mir wohlgefühlt hat. Manchmal glaube ich, sie hat sich nur ironisch in der Lyall Street aufgehalten. Mein Verhältnis zu ihrer Wohnung hingegen war das perfekte Gegenteil. Bevor ich Rovena kennengelernt habe, war die Bude in Highbury mein wichtigster Rückzugsort und der Platz, an dem ich mich lebendig fühlte. Sie ahnen nicht, wie gut mir die Gegenwart eines normalen Menschen tat, der arbeitet, kocht und mit einer Bohrmaschine umzugehen weiß. Darüber hinaus hatte Ali eine große Leidenschaft für das, was wir altväterlich ›die schönen Dinge des Lebens‹ nennen. Unser Geschmack unterschied sich zwar auf manchen Gebieten ganz erheblich, aber gerade das machte alles so wunderbar. Ein Abend, an dem man abwechselnd Heavy Metal und Klaviermusik von Robert Schumann hört, dazu Enten-Trüffelpastete und Bier aus der Flasche. Ich weiß, wie plakativ sich das anhört, aber genau so war es bei uns auf den Gebieten Musik und Ernährung. Bei Filmen hatten wir dagegen einen sehr ähnlichen Geschmack, und wenn es um Bücher ging, war es sogar umgekehrt: Dort war Alicia die Konservative. Sie hatte eine ausgeprägte Vorliebe für altes, hyperromantisches Zeug — Jane Austen, Gothic Novels, diese Richtung, Sie wissen schon —, während ich Benn, Trakl und Robert Walser las. Weil wir uns beide beharrlich weigerten, die Bücher des anderen zu lesen, konnten wir uns nie vernünftig darüber unterhalten, nur sticheln, was allerdings sehr amüsant war.«

Er hielt kurz inne. Ich versuchte, mir Miss Alicia vorzustellen, aber es gelang nicht. Stattdessen hatte ich ständig Roberts Verlobte in spe vor Augen: Miss Rovena Lenoir, eine sehr attraktive Mittzwanzigerin, schlank, glänzende hellbraune Haare, blaue Augen und durch und durch britisch. »So britisch, dass sie sogar einen französischen Nachnamen hat«, wie Robert manchmal treffend anmerkte. Sie war eine zurückhaltende Person. Aber auf eine besondere Art: Sie hatte nichts Abweisendes. Im Gegenteil, sie forderte einen geradezu heraus. Unbewusst hatte ich mir Miss Alicia zu Beginn von Roberts Erzählung wie ihre Zwillingsschwester vorgestellt. Erst als er erwähnte, dass sie bisweilen fluchte, war dieses Bild erloschen. Mein Blick blieb einmal mehr an den verdeckten Fotos hängen. Ich mutmaßte, dass Miss Alicia auf einem von ihnen zu sehen sein würde. Damit lag ich richtig, wie sich später zeigen würde. Allerdings hatte ich noch keine Ahnung, welch tiefen Schreck mir dieses Bild einjagen würde.

Roberts wohlklingende Stimme setzte wieder ein. »Gestatten Sie mir kurz noch ein paar Worte zu Alicias Wohnung: Ich habe jedes Mal ein eigenartiges Gefühl, wenn ich hineinkomme. Stellen Sie sich einen Schauspieler vor, der sein Theater durch den Diensteingang betritt und sich sofort mitten auf der Bühne wiederfindet. Genauso ist es bei Ali: kein Entree, keine Garderobe, kein Flur. Ohne jede Vorwarnung steht man plötzlich in einem großen Raum. Und dieser Raum ist alles: Küche, Salon, Wohnzimmer, Abstellkammer, Arbeitsplatz, Fernsehzimmer, Bar, Fitnessraum, Bibliothek, Weinkeller, Privatmuseum. Darüber hinaus gibt es nur noch ein winziges Schlafzimmer und ein Bad, das war's.

Ich stand also vor der Tür, klingelte, klopfte und rief, und nachdem es still blieb, schloss ich auf und trat ein. Der Raum kam mir fremd vor ohne sie. Es dauerte, bis ich merkte, dass ihre Abwesenheit nicht der einzige Grund für diese Fremdheit war: Alles war penibel aufgeräumt. So kannte ich ihre Wohnung nicht. Alicia hatte sicher keine Vorliebe für Chaos, aber es lagen immer ein paar Dinge herum, mit denen sie sich gerade beschäftigte, meist ihre Kamera auf dem Couchtisch, dazu ein bisschen benutztes Geschirr in der Spüle, ein Pullover über einer Stuhllehne, solche Dinge. Diese Aufgeräumtheit hatte hier nichts verloren, sie machte mich traurig.

Dann erst zog ein Detail meine ganze Aufmerksamkeit auf sich: In der Mitte des perfekt aufgeräumten Zimmers — wirklich exakt in der Mitte, so dass es einem geradezu ins Auge springen musste — lag ein Buch. Ich erkannte es sofort. Wuthering Heights von Emily Brontë. Alicias erklärtes Lieblingsbuch. Kennen Sie es, Doktor?«

»Wuthering Heights? Nun, wir haben es seinerzeit in der Schule gelesen. Möglicherweise kein schlechter Roman, aber ich war damals noch zu jung dafür. Außerdem hieß eine der Hauptfiguren durch einen unglücklichen Zufall Heathcliff, genau wie ich. Sie können sich vorstellen, wie dankbar sich meine Mitschüler darauf gestürzt und Scherze auf meine Kosten gemacht haben. Also, kennen wäre übertrieben. In unangenehmer Erinnerung trifft es eher.«

Robert lachte kurz auf. »Ich kann Sie beruhigen, lieber Doktor, ich kenne es noch weniger. Allein der Titel reicht aus, um mich für alle Zeiten davon fernzuhalten. Abgesehen davon steht eine wertvolle Erstausgabe dieses Werks in unserer Familienbibliothek, und ich habe gewissen Widerwillen gegen alle Bücher, die dort gehortet werden. Aber Ali ließ nichts auf diesen Roman kommen. Als ich ihr von unserer Erstausgabe erzählte, hat sie mich angefleht, sie ihr zu zeigen. Sie hat ernsthaft den Buchrücken geküsst. Und ich konnte sie immer wunderbar ärgern, wenn ich die Hacken zusammenschlug und den deutschen Titel wie ein Feldwebel aussprach: ›Sturrrmhöhe!‹

Aber ich schweife ab. Die Frage ist: Warum lag Alicias verdammtes Lieblingsbuch dermaßen auffällig inszeniert auf dem Fußboden? Haben Sie eine Erklärung dafür?«

Verdammtes Lieblingsbuch. Robert fluchte nur äußerst selten, aber wenn, dann kam es ihm ohne jedes Zögern über die Lippen.

»Nun, Robert, ich denke, man muss nicht Sherlock Holmes sein, um zu erkennen, dass jemand — vermutlich Miss Alicia — wollte, dass jemand anderes — vermutlich Sie — das Buch dort findet. Miss Alicias Bitte, Sie mögen nach ihrer Wohnung sehen, bekäme damit gewissermaßen einen poetischen Doppelsinn, finden Sie nicht?«

»Ich gebe Ihnen in allen Punkten recht, Doktor. Und großartig, dass Sie ausgerechnet Sherlock Holmes erwähnen. Auf ihn wollte ich als Nächstes zu sprechen kommen. Haben Sie die Serie Sherlock gesehen?«

»Nein, tut mir leid.«

»Ein Meisterwerk. Alicia und ich haben viel Zeit damit verbracht. Also: Für einen Sherlock-Kenner ist ein Gegenstand, der einsam in der Mitte eines Raums liegt, ein klarer Verweis auf Staffel eins, Folge drei: Das große Spiel. Moriaty stellt Holmes dort — quasi zum Aufwärmen — kriminalistische Rätsel und wenn Sherlock sie nicht rechtzeitig löst, tötet er Geiseln. Das erste Rätsel besteht aus einem Paar Turnschuhe, das mitten in einem verlassenen Zimmer auf dem Boden steht. Alicia und ich haben diese Folge fast ein Dutzend Mal gesehen. Am Ende löst Sherlock nur durch Untersuchung dieser Treter einen zwanzig Jahre alten Mordfall.«

»Ich verstehe. Und Sie glauben, dass Miss Alicia Ihnen ebenfalls ein Rätsel aufgeben wollte, nur mit einem hoffentlich weniger tragischen Hintergrund?«

»Für eine Weile glaubte ich an ein Rätsel, Doktor. Inzwischen weiß ich allerdings überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll.«

Roberts angespannte Stimmung, die er im Eifer des Erzählens für kurze Zeit verloren hatte, kehrte spürbar zurück.

»Zunächst wagte ich es kaum, mich dem Buch zu nähern. Ich ignorierte es und bemühte mich, stattdessen nach der Wohnung zu sehen. Ich hatte keine Ahnung, was zu tun war, aber Durchlüften schien mir eine gute Idee. Eine denkbar einfache Aufgabe, aber mit meinen jeder Arbeit entwöhnten Schnöselhänden machte ich selbst daraus eine Slapsticknummer. Bis ich den Schließmechanismus ihrer alten Fenstergriffe verstanden hatte, klemmte ich mir mehrfach die Finger, und beim anschließenden Versuch, die Pflanzen zu gießen, sorgte ich für beträchtliche Überschwemmungen. Das Buch schien mich dabei die ganze Zeit zu beobachten — lächeln Sie ruhig. Nachdem alles getan war, was mir sinnvoll erschien, und ich alle dabei von mir angerichteten Verwüstungen beseitigt hatte, schaute ich bei den Nachbarn vorbei. Vergeblich, niemand wusste, wo Alicia war. Also kehrte ich in die Wohnung zurück und hob endlich das Buch auf. Ich habe es dabei. Wenn Sie gestatten, würde ich es Ihnen gerne zeigen.«

Mit einer schwungvollen Bewegung fasste Robert in seine elegante schwarze Ledermappe und überreichte mir einen schlichten Hardcoverband von Wuthering Heights. Der Schutzumschlag fehlte, sonst konnte ich nichts Besonderes erkennen. Auf dem Buchrücken waren Autorin und Titel in kleinen Goldbuchstaben eingeprägt. Ich strich über den mit grauweißem Stoff überzogenen Buchdeckel und schlug das Werk auf.

»Nun, was soll ich sagen? Die Seiten lassen sich leicht umblättern, es ist offenbar mehrmals gelesen worden. Und es sieht so aus, als hätte Miss Alicia es manchmal in einer Tasche herumgetragen, die Ecken sind leicht abgestoßen. Dennoch ist es in einem gepflegten Zustand. Typisch für ein Lieblingsbuch, würde ich sagen. Mehr kann ich aber beim besten Willen nicht herauslesen, wenn Sie mir dieses ärmliche Wortspiel verzeihen.«

»Trösten Sie sich, Doktor, mir ging es genauso. Und das, obwohl ich mir wesentlich mehr Zeit nehmen konnte als Sie. Ich habe jede einzelne der über vierhundert Seiten angesehen. Es gab keine unterstrichenen Wörter oder Buchstaben, keine Lesezeichen, keine Eselsohren und keine Notizen. Und ich nehme vorweg, dass nicht einmal ein Experte von Scotland Yard etwas entdeckt hat, den ich später in meiner Ratlosigkeit dank Verbindungen meiner Familie hinzuziehen konnte.«

»Was ist mit dem Schutzumschlag?«

»Alicia hat ihn sofort weggeworfen, nachdem sie das Buch gekauft hatte. Sie hasste ihn. Ich erinnere mich, dass darauf eine Frau auf einer Anhöhe zu sehen war. Mit geschlossenen Augen reckte sie ihr Gesicht dem Sturmwind entgegen, der ihr Haar zerzaust. Und den Klappentext hasste Ali noch mehr. Sie hatte mir verboten, ihn zu lesen; er sei noch schlimmer als das Bild.«

»Also kannte Miss Alicia das Buch schon, bevor sie diese Ausgabe kaufte?«

»Aber ja. Sie hatte davor eine völlig zerfledderte Taschenbuchausgabe. Ich wollte ihr unsere Erstausgabe schenken, aber noch bevor ich mit meinem Vater darüber verhandeln konnte, hatte sie sich schon das neue Buch gekauft, und der richtige Zeitpunkt schien mir verpasst. Zumindest vorerst.«