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Vorwort

Dieses Buch gibt es aus einem einfachen Grund. Die Freundschaft zwischen dem Komponisten Johannes Brahms und dem Dichter Klaus Groth ist bedeutsam, weil aus ihr unsterbliche Meisterwerke der Musik hervorgingen: einige von Brahms’ besten Liedern und Sätze in zwei seiner drei Violinsonaten.

Von den fünfzehn Romanzen aus Ludwig Tiecks Bearbeitung der Schönen Magelone abgesehen, inspirierte nur die Dichtung von Georg Friedrich Daumer mehr Sololieder von Brahms als die Dichtung Groths (elf Sololieder, zwei Duette, ein Chorlied). Dies war auch Brahms’ einzige Freundschaft, die ungetrübt bis zu seinem Tode andauerte. Tief erschüttert von seinem Verlust, beklagte Groth, daß die Nachrufe zeigten, wie wenig man über Brahms, seine Persönlichkeit und sein inneres Wesen Bescheid wisse: „[…] es kommt mir so vor, als wäre ich selbst vielleicht einer der wenigen, denen er rücksichtslos sein Inneres aufgeschlossen haben mag.“ (S. 179)1 Brahms’ zurückhaltende Natur war legendär. Gerade weil Groth seinen Anspruch so bescheiden ausdrückt („es kommt mir so vor“, „als wäre“, „vielleicht“, „aufgeschlossen haben mag“), sollte man diesen ernstnehmen. Darüber hinaus vermitteln zahlreiche Briefe Groths den Eindruck, daß er recht hatte. Dennoch gehört Brahms’ Freundschaft mit Groth nicht zu den bekanntesten Beziehungen des Komponisten. Der Brahms-Forscher liest eher seine Briefwechsel mit Freunden wie Clara Schumann, Joseph Joachim, Theodor Billroth oder Elisabet von Herzogenberg. Obwohl Brahms behauptete, er schreibe nicht gern Briefe – „Ich schreibe keine Briefe, ich beantworte sie.“ – umfaßt seine gesamte veröffentlichte Korrespondenz mit diesen und anderen Bekannten viele Bände2 und birgt einen wahren Schatz an Informationen über ihn. Der Briefwechsel mit Klaus Groth ist in der Standardreihe jedoch nicht enthalten. Die Briefe beider (die in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel aufbewahrt werden), wurden 1956 von Volquart Pauls erstmals gesammelt und veröffentlicht, ein kleiner Band, der in der Westholsteinischen Verlagsanstalt Boyens & Co. in Heide erschien, der Heimatstadt Klaus Groths.3 1997 erschien im selben Verlag eine ausführlichere Neuausgabe mit ergänzendem dokumentarischem Material sowie detaillierten Anmerkungen von Dieter Lohmeier, ein Muster an Gelehrsamkeit.4 Nur wenige dieser Briefe sind außerhalb des deutschen Sprachraums bekannt. Als im gleichen Jahr von der Oxford University Press eine Auswahl von 564 Briefen von und an Brahms in englischer Übersetzung veröffentlicht wurde, enthielt diese nur zwei Briefe von Brahms an Groth und einen von Groth an Brahms.5 Doch insgesamt gibt es 89 Briefe. 87 sind in der Sammlung von 1997 veröffentlicht, und zwei weitere wurden seither außerdem noch entdeckt. Zusammen mit anderen dokumentarischen Quellen liefern sie den Beweis für eine faszinierende Beziehung, die unter Brahms’ Freundschaften einzigartig war.

Natürlich sind nicht alle Briefe interessant oder durchgängig interessant. Ihnen fehlen die persönliche Unmittelbarkeit und das emotionale Tempo der Briefe an Clara Schumann. Statt dessen spiegeln sie eine nüchterne, freundliche Beziehung. Auch weisen sie nicht den anregenden musikalischen Anspruch des Briefwechsels mit Freunden wie Theodor Billroth oder Elisabet von Herzogenberg auf. Die Briefe selbst geben außerdem frustrierenden Aufschluß darüber, daß Groth und Brahms am spontansten und ergiebigsten in ihren Gesprächen kommunizierten: Wiederholt beziehen sich die Briefe mit Begeisterung auf ihre gemeinsamen Unterhaltungen, Dialoge, die für die Nachwelt verloren sind.

Die beiden Männer hatten ihre Wurzeln in demselben Teil Deutschlands, Dithmarschen im westlichen Holstein. Obwohl Brahms in Hamburg geboren war, stammte sein Vater aus derselben kleinen Stadt wie Groth, und die Elternhäuser lagen in derselben Straße, nur wenige Häuser voneinander entfernt. Heutzutage kann der Besucher Heides in weniger als einer Minute vom ehemaligen Grothschen Elternhaus – dem heutigen Klaus-Groth-Museum – zum Brahms-Haus an der Ecke wandern. Obwohl Brahms’ Vater im Alter von 19 Jahren nach Hamburg gegangen war, um eine Laufbahn als Musiker zu beginnen, fühlte sich Brahms tief mit Dithmarschen verbunden und teilte mit Klaus Groth die Liebe zum Plattdeutschen, das die Landbevölkerung und die Ungebildeten in Norddeutschland sprachen. Sein Vater war einer von ihnen: Er behielt lebenslang seine norddeutschen Sprachgewohnheiten. Brahms liebte ihn sehr. Während Groth in Holstein blieb und der führende plattdeutsche Dichter seiner Zeit wurde, ging Brahms nach Wien – sprach aber bis zum Lebensende davon, daß er im Exil lebe.

Ihre Freundschaft dauerte vierzig Jahre und war, wie schon bemerkt, die einzige von Brahms’ Freundschaften, die von Spannungen ungetrübt blieb. Im Gegenteil, sie wurde nur noch herzlicher. (Groth starb 1899, zwei Jahre nach Brahms, obwohl er vierzehn Jahre älter war.) Selbst wenn man berücksichtigt, daß einige von Brahms’ bedeutendsten Freunden wie Clara Schumann, Theodor Billroth und Elisabet von Herzogenberg vor ihm starben, ist es bezeichnend, daß dieser schwierige, leicht zu verärgernde Mann, dessen manchmal schroffe Ausdrucksweise so manche seiner engen Freunde befremdete, sich nie mit Klaus Groth zerstritt. Diesen Umstand könnte man als Hinweis darauf deuten, daß die ihre Freundschaft weniger eng, weniger intensiv war als andere Freundschaften von Brahms oder daß Groth eine Engelsgeduld hatte. Das ist nicht der Fall. Ihre Beziehung war vielmehr darin einzigartig unter Brahms’ engen Freundschaften, daß die beiden Männer durch ein gemeinsames Erbe und wegen dieses Erbes durch ein tiefes gegenseitiges Verständnis verbunden waren, das die Unterschiede in ihren Persönlichkeiten überwog und ihre Freundschaft bis zum Ende erhielt. Vor allem verstand Groth, daß Brahms’ schroffe Tiraden, die andere (und mehr als einmal auch ihn selbst) verletzten, aus dem Bestreben herrührten, die eigene emotionale Verwundbarkeit abzuschirmen. Die Stabilität ihrer Freundschaft lag in der gemeinsamen Liebe zur Heimat, in einer gegenseitigen Loyalität und einer von beiden akzeptierten Selbstbeherrschung. Der geographische Abstand voneinander muß ebenfalls seinen Teil dazu beigetragen haben.

Sie hatten bestimmte Charaktereigenschaften gemeinsam. Brahms-Autoren betrachten einige von ihnen als typisch norddeutsch: Selbstbeobachtung, eine Neigung zum Grübeln, einen philosophischen und methodischen Zugang zum Leben, Strenge, Ernsthaftigkeit, Skepsis, Stoizismus, emotionale Zurückhaltung.6 Genauer gesagt, die beiden teilten eine Melancholie des Charakters und einen Hang zur Sehnsucht nach vergangenem Glück, besonders nach dem verlorenen Idyll der Kindheit. Ihre Werke zeigen, daß beide sich ungewöhnlich intensiv mit den Themen Verlust, Vergänglichkeit und Tod auseinandersetzten. Der Schmerz unerwiderter Liebe spielt in beider Werken eine große Rolle, oft in Verbindung mit Melancholie, die manchmal zur Depression wurde. Für die Nachwelt von größter Bedeutung ist wahrscheinlich, daß beide in ihrer Kunst eine besondere Art von Subjektivität teilten, eine lyrische Nach-Innen-Gekehrtheit, die Brahms, den Liedkomponisten, zu Groths Dichtung hinzog.

Auch in anderer Hinsicht bestanden zwischen ihnen als Künstlern Gemeinsamkeiten. In ihrer Jugend waren beide Einzelgänger, die unermüdlich studierten und in ihren schöpferischen Bemühungen größtenteils Autodidakten waren. Beide wurden Künstler mit Leib und Seele, überzeugt von der absoluten Bedeutung der Kunst. Beide waren auch künstlerische Konservative in dem Sinn, daß jeder das erhalten wollte, was er als ein wertvolles Erbe betrachtete – Groth eine Sprache und Kultur und Brahms die Wiener Musiktradition –, indem er demonstrierte, welche großartigen neuen Dinge sich in ihr tun ließen. Daher kann man bei beiden von der schöpferischen Aufnahme der Tradition sprechen. Beide liebten das Volkslied, nicht auf eine sentimentale, sondern auf eine realitätsbezogene und praktische Weise. Die Volkslieder, die Groth während seiner Kindheit in Dithmarschen um sich herum gehört hatte, wie er in seinem Aufsatz Musikalische Erlebnisse berichtete (S. 157), inspirierten ihn zu eigener Dichtung. Brahms hingegen, ein passionierter Sammler von Volksliedern, erklärte bekanntermaßen in einem Brief an Clara Schumann, daß das Volkslied sein stilistisches Ideal sei und das Vorbild, dem das deutsche Lied allgemein nacheifern solle.7 Aber beide lasen auch mit Hingabe literarische Werke und erwarben sich als Autodidakten eine breitgefächerte Kenntnis verschiedener intellektueller und künstlerischer Sphären, über die sie gern mit anderen diskutierten. Beide hatten eine Begabung für die Freundschaft.

All dies erweckt den Anschein, daß zwischen den beiden Männern eine innere Verwandtschaft bestand, die sie zueinander hinzog und in Brahms’ Schaffen Früchte trug. Aber eben diese eine Behauptung „und in Brahms’ Schaffen Früchte trug“ weist auf den Aspekt ihrer Freundschaft hin, in dem sie sich am meisten unterschieden. Groth war, obwohl er zu Lebzeiten sehr gefeiert wurde, ein gewöhnlicherer Sterblicher als sein Freund. Er war fähig, die Beschäftigung mit seiner Kunst mit den Anforderungen des Ehelebens und der Kindererziehung zu vereinen. Brahms hingegen war, wie Groth selbst früh erkannte, kein gewöhnlicher Sterblicher. Mit der Zielstrebigkeit des Genies und einer beharrlichen Selbstdisziplin, die diejenige der meisten Genies übertraf, konzentrierte Brahms sein Leben auf die Musik und lenkte seine intellektuellen und emotionalen Kräfte schonungslos in das Komponieren. Der menschliche Preis waren ein innerer Konflikt und Aufruhr in seinen früheren Jahren und später eine Isolation, unter der er sehr litt. Die Beziehung des einsamen, alternden Junggesellen zur Familie Groth ist ergreifend. In seinen jungen und mittleren Jahren schrieb Brahms einige seiner leidenschaftlichsten und ausdrucksvollsten Lieder über das Thema der Treue, die Treue zwischen Mann und Frau: Liebestreu, Treue Liebe, Treue Liebe dauert lange, Von ewiger Liebe. Doch er heiratete nie. In Klaus und Doris Groth fand er Freunde, die sein unerreichbares Ideal verkörperten. Und dennoch wurde seine Freundschaft mit Klaus Groth erst nach Doris’ Tod am engsten.

Dank

Ich bin dankbar für die großzügige Hilfe, mit der mir die Mitarbeiter der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel bei der Vorbereitung dieses Buches zur Seite standen: Dr. Jürgen Zander, Dr. Kornelia Küchmeister und besonders der Direktor der Landesbibliothek, Dr. Dieter Lohmeier. Ich danke Dr. Lohmeier auch dafür, daß er mir gestattete, ausgiebigen Gebrauch von seiner exzellenten Ausgabe des Brahms-Groth-Briefwechsels als Quelle meiner Untersuchung und von seinen Illustrationen zu machen. Wie sich zeigen wird, wäre dieses Buch ohne Dr. Lohmeiers sorgfältige Recherche und Herausgeberarbeit nicht möglich gewesen. Dr. Inge van Rij und meiner Frau Pauline Russell danke ich für ihre vielen nützlichen Anmerkungen zum Manuskript.

Das Buch wurde für ein englischsprachiges Publikum geschrieben und erschien 2006 unter dem Titel Johannes Brahms and Klaus Groth. The Biography of a Friendship im Verlag Ashgate in Aldershot, Hampshire (England) und Burlington, Vermont (USA). Ich danke dem Boyens Buchverlag und seinem Leiter Bernd Rachuth für das Angebot, es auch in deutscher Sprache herauszubringen.

Ich danke folgenden Einrichtungen für ihre Erlaubnis, auch in der deutschen Ausgabe Fotos oder Manuskripte zu reproduzieren: Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck; Forschungsstelle der Johannes-Brahms-Gesamtausgabe am Musikwissenschaftlichen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Gesellschaft der Musikfreunde, Wien; Heider Heimatmuseum, Heide; Klaus-Groth-Museum, Heide; Musikwissenschaftliches Institut der Philipps-Universität Marburg; Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel; Bibliothek der Victoria-Universität Wellington.

Zugunsten der Lesbarkeit wurde in den vielen Zitaten aus Briefen und Erinnerungen der erläuternde Kommentar in eckige Klammern in den Text eingefügt. Die Zitate aus den Briefen selbst und aus den Brahms betreffenden autobiographischen Aufzeichnungen Groths werden nur durch die Angabe der Seitenzahl der zugrundgelegten Ausgabe im fortlaufenden Text nachgewiesen. Sonst dienen Anmerkungen der Quellenangabe. Die benutzte Forschungsliteratur wird in den Anmerkungen nur bei der ersten Erwähnung mit vollständigem Titel zitiert, ist in dieser Form aber auch in der Bibliographie aufzufinden.

 

Für die Ewigkeit brauchen Sie nicht zu sorgen. Solange man berühmte Musikernamen mit B anfängt, wird Ihrer mit dabei sein.

Klaus Groth an Brahms, 13. Februar 1872

1. Klaus Groth und der Quickborn

Die Einzelheiten von Brahms’ Leben und Werk sind wohlbekannt und dem Leser leicht zugänglich.1 Leben und Werk Klaus Groths hingegen sind außerhalb eines verhältnismäßig engen, mit der plattdeutschen Literatur vertrauten Kreises kaum bekannt.2 Das hat vor allem zwei Gründe. Erstens beschränkte sich Groths Leserschaft sogar zu seiner Zeit aufgrund seiner Vorreiterrolle als Verfasser plattdeutscher Literatur auf diejenigen, die Plattdeutsch lesen konnten – einen Dialekt, der sich so stark vom Hochdeutschen unterscheidet, daß er als eigene Sprache betrachtet werden kann. Zwar gab es zeitweise Liebhaber in ganz Deutschland und darüber hinaus in Skandinavien, Holland, Belgien und den Vereinigten Staaten, die sich der Mühe unterzogen, Groth im plattdeutschen Original zu lesen, obwohl das Plattdeutsche auch denen, die es sprachen, als Schriftsprache gänzlich unvertraut war, aber es gab keine Übersetzungen, die seine Gedichte in einer der anderen Schriftsprachen, einschließlich des Hochdeutschen, hätten wirkungsvoll machen können, denn mit jeder Übersetzung ging Wesentliches verloren. Zweitens erfreute sich Groth zwar zu seinen Lebzeiten einer ungeheuren Popularität und im Alter sogar eines ganz Deutschland umfassenden Ruhmes, doch überdauerte dieser Ruhm seinen Tod nicht lange. Seine hochdeutschen Gedichte (die Brahms vertonte) sind unbedeutend und werden in Seminaren über deutsche Literatur nicht behandelt. Sie verdanken ihr Überleben heute nur Brahms und einigen weniger bedeutenden Komponisten. Gleichzeitig behielt die niederdeutsche Bewegung, deren führender Repräsentant Groth war, unter den sich schnell verändernden sozialen und kulturellen Bedingungen des 20. Jahrhunderts nicht ihre ursprüngliche Kraft. In den Jahrzehnten nach Groths Tod 1899 verlor das Plattdeutsche die Vitalität und Bedeutung, die es zu seinen Lebzeiten erworben hatte.

Als Groth 1819 geboren wurde, hatte sich das Plattdeutsche seit der Reformation auf dem Rückzug vor dem Hochdeutschen befunden. Zu seinen Lebzeiten beschleunigten politische und ökonomische Entwicklungen diesen Prozeß: die revolutionäre Bewegung von 1848 mit der Flut an hochdeutschen Liedern, Reden und Zeitungsartikeln, die sie mit sich brachte; die Annexion Schleswig-Holsteins durch Preußen 1866, die Gründung des Deutschen Reiches 1871, eine zunehmende Bürokratisierung, die Industrialisierung, die Beschleunigung von Verkehr und Kommunikation und die Verstädterung. Obwohl zu Groths Zeiten neun Zehntel der Bevölkerung Norddeutschlands die Sprache zu Hause sprachen, war sie aus der Kirche, den Schulen und Gerichtssälen, Zeitungen und Büchern fast gänzlich verschwunden. Da es am stärksten in ländlichen Gegenden verbreitet war, wurde Niederdeutsch von vielen mit einem Mangel an Bildung assoziiert: eben als Plattdeutsch. Es gab sogar manche wie den in Altona geborenen Gelehrten Ludolf Wienbarg (1802–1872), die sich für seine Ausrottung aussprachen und das damit begründeten, daß eine Sprache, die seit dem 16. Jahrhundert stagniere, dem begrifflichen Denken und der modernen Zivilisation abträglich sei.3 Klaus Groth war Wienbargs größter Gegenspieler. Für Groth hatte das Plattdeutsche seine Bedeutung nicht als Medium des Denkens, sondern als Ausdruck der Heimat, der Gesellschaft und Kultur, in der er aufgewachsen war, die selbst bedroht war und die er sehr liebte und erhalten wissen wollte. Wenn Groth sich in einem seiner Gedichte zurück ins Land der Kindheit sehnt, drückt er auch seine sehnsuchtsvolle Liebe zu einer ländlichen Gegend und ihrer Sprache aus. Brahms verstand das – und machte aus dem Gedicht eines seiner bekanntesten Lieder.

Groth war nicht der einzige, der das Plattdeutsche verteidigte, sondern repräsentierte allgemeinere kulturelle Strömungen. Die Entdeckung des „Volkes“ und der volkstümlichen Literatur eine Generation zuvor hatte zu einem starken öffentlichen Interesse an volkstümlichen und lokalen Formen von Sprache und Literatur geführt. Zugleich hatte ein zunehmender Internationalismus im politischen, ökonomischen und kulturellen Leben in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern ein beschützendes Interesse an regionalen Kulturen und ihren Besonderheiten geweckt. Groth berichtet, daß die Lektüre von Johann Peter Hebels Alemannischen Gedichten (Gedichten im alemannischen Dialekt des Schwarzwalds, 1803 erstmals veröffentlicht) in seiner Kindheit die entscheidende Erfahrung war, die seine Laufbahn bestimmte. Später gehörten Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten (vier Bände, 1843–1854) zu den beliebtesten Werken des Jahrhunderts. In Norddeutschland waren zwei plattdeutsche Autoren besonders populär und einflußreich: der Mecklenburger Fritz Reuter (1810–1874), dessen Meisterwerk, der Roman Ut mine Stromtid (drei Bände, 1862–1864), ein dichtes realistisches, lebendiges Bild der ländlichen Gesellschaft in Mecklenburg zeichnet, und Klaus Groth selbst, dessen Quickborn (1852) als erstes Werk bewies, daß das Plattdeutsche als literarische Sprache benutzt werden konnte. Die Gedichtsammlung machte ihn sogleich in seiner eigenen Region und in ganz Deutschland berühmt. Seitdem galt er als Wortführer in einer wichtigen Sache (Abb.1).

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Abb. 1 Klaus Groth. Zeichnung von Theodor Rehbenitz, um 1853

Aus historischer Sicht lassen sich Groths Leistungen wie folgt zusammenfassen. Erstens demonstrierte er im Alleingang, daß es möglich war, das Plattdeutsche als literarische Sprache zu benutzen und wies damit zahlreichen anderen Autoren den Weg, die plattdeutsche Gedichte, Erzählungen, Romane und Dramen von hoher Qualität verfaßten. Zweitens war er zu einem großen Teil verantwortlich für die Veröffentlichung des Neuen Testaments in plattdeutscher Sprache, die somit wieder in die Kirchen zurückkehren konnte, aus der sie seit der Reformation allmählich verdrängt worden war. Drittens wurden die Flamen in Belgien von Groths Beispiel dazu angeregt, ihre eigene nationale Sprache und mit ihr ihre nationale Identität gegen die ökonomische und kulturelle Überlegenheit der Wallonen und der französischen Sprache geltend zu machen und eine „aldietsche“ Schriftsprache zu propagieren, die das Niederländische (einschließlich seiner flämischen Mundarten) und das Plattdeutsche miteinander verbinden sollte. Groths Gedicht Min Modersprak in einer „aldietschen“ Übersetzung wurde von einem nationalistischen Komponisten vertont, erlebte seine Uraufführung bei einer Feier aus Anlaß von Groths siebzigstem Geburtstag in Antwerpen und wurde eine Hymne der flämischen Bewegung. Groth wurde auch in Skandinavien bewundert – wo dänische Ansprüche auf die Herzogtümer Schleswig und Holstein ein Besitzinteresse an deren Kultur förderten, und er erfreute sich einer großen Zahl von Anhängern unter den norddeutschen Auswanderern, die in den USA lebten.4

Groth wurde 1819 in Heide geboren, dem zentralen Marktflecken Norderdithmarschens, der zu jener Zeit etwa fünf- oder sechstausend Einwohner hatte. Heide liegt an der Schnittstelle der zwei beherrschenden Landschaftsarten des westlichen Holstein, in Nord-Süd-Richtung betrachtet: auf der östlichen Seite die Geest, eine relativ hohe, sandige und unfruchtbare Landschaft mit Wäldern, und auf der westlichen Seite flaches Marschland, fruchtbar und intensiv landwirtschaftlich genutzt. Über Jahrhunderte hin war dieses etwa zehn Kilometer breite Marschland von Fluten angeschwemmt und durch Deiche gesichert worden. Heide hatte eine einzigartige demokratische Geschichte. Gegründet durch eine freiwillige Versammlung ortsansässiger Bauern, war der Ort das Zentrum einer Bauernrepublik, deren größter Moment 1500 mit ihrem Sieg in der Schlacht bei Hemmingstedt über König Hans von Dänemark, der zugleich Herzog von Schleswig und Holstein war, gekommen war. Das Gebiet hatte keinen Adel, die Stadt keinen Palast. Obwohl der König und seine beiden Brüder, mit denen er die Herzogtümer geteilt hatte, Dithmarschen 1559 eroberten, blieb der Stolz auf die örtliche demokratische Tradition in Heide stark: „Wi sünd hier in en frie Land“ hörte der Junge seinen Vater, der mehrere öffentliche Ämter bekleidete, oft zu anderen Menschen sagen (S. 165).

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Abb. 2 Groths Elternhaus in Lüttenheid. Foto aus dem Besitz Carl Groths. Auf dem Brettergiebel die Beschriftung „Klaus Groths Geburtshaus“. Das Haus links stand in Groths Kinderzeit noch nicht.

Klaus war der Sohn des Müllers Hartwig Groth, das erste von fünf Kindern. Die Familie wohnte in einer Straße am Stadtrand von Heide, gegenüber einem Gemeindeplatz, der Lüttenheid genannt wurde und wo die Kinder spielten (Abb. 2). Die Handmühle stand im Hause selbst, und in Nebengebäuden wurden Tiere gehalten, darunter vier Milchkühe. Sein Vater kaufte dann später eine Windmühle, die in der Nähe des Hauses stand. Sie sprachen plattdeutsch. Da er sich in der Schule als intelligent erwies, besuchte Klaus ein Lehrerseminar in Tondern, nördlich der heutigen Grenze zu Dänemark, und erhielt 1841 eine Stelle an der Mädchenschule in Heide. Doch er fuhr eifrig fort, Mathematik, Naturwissenschaften, Philosophie und Literatur zu studieren, brachte sich aus Büchern das Klavierspielen bei (S. 166 f.) und wurde zunehmend von höherem Ehrgeiz getrieben: Dichter zu werden, Schriftsteller, gar in Berlin zu studieren und Professor zu werden. Infolgedessen verlor er das Interesse an seiner Lehrertätigkeit und bekam Schwierigkeiten mit seinen Vorgesetzten. Zudem verliebte er sich hoffnungslos in die 19jährige Tochter eines städtischen Beamten, Mathilde Ottens, schrieb (hochdeutsche) Gedichte und schickte sie ihr. Daß sie von höherem sozialen Rang war, bedeutete allerdings, daß er keine Aussichten hatte.

1847 zwang ihn ein ernster seelischer und körperlicher Zusammenbruch, seine Stellung aufzugeben. Seinen eigenen Worten zufolge war er ein Wrack. Nachdem seine Vorgesetzten ihm einen sechsmonatigen Urlaub gewährt hatten, nahm er die Einladung eines Freundes aus Lehrerseminartagen, Leonhard Selle, an, ihn in Landkirchen auf der Insel Fehmarn zu besuchen. Selle arbeitete dort seit 1843 als Organist und Lehrer. Der Aufenthalt war nur für ein paar Wochen geplant, dauerte am Ende aber fast sechs Jahre. Groth kündigte seiner Schule, und mit Hilfe von Freunden erreichte er, daß er bis Ostern 1853 eine kleine Pension von 300 Mark erhalten sollte. Während er seine akademischen Studien fortsetzte, begann er im Frühjahr 1849 auch, Gedichte in plattdeutscher Sprache zu schreiben, die Leben und Menschen in Dithmarschen heraufbeschworen. Diese Verse wurden 1852 unter dem Titel Quickborn veröffentlicht, was „lebendige, erfrischende Quelle“ bedeutet, mit dem Untertitel: Volksleben in plattdeutschen Gedichten Dithmarscher Mundart. Das Buch machte ihn über Nacht berühmt (Abb. 3).

Nach außen hin erschien der Quickborn als eine Gedichtsammlung. Aber er war mehr: Er war die poetische Gestaltung einer Landschaft und ihrer Menschen in ihrer eigenen Sprache. Längere Verserzählungen wechseln sich hier mit kürzeren lyrischen Gedichten und Balladen ab. Die längeren Erzählungen handeln von menschlichen Schicksalen der Art, wie sie im Volk verbreitet waren: Hanne ut Frankrik; Peter Kunrad; Rumpelkamer. In den lyrischen Gedichten und Balladen, die manchmal in Gruppen angeordnet sind, werden verschiedene Themen behandelt: Es gibt Liebesgedichte, Kinderlieder, Tiergedichte, Balladen aus Sagenmaterial, historische Lieder, Gedichte über örtliche „Originale“ und Gedichte im Stil prägnanter volkstümlicher Sprichwörter. Auf diese Weise entsteht ein vollständiges und realistisches Bild Dithmarschens. Zugleich ist in den heiteren Beschreibungen von Dorfleben und lokalen Charakteren unterschwellig ein starkes Element von Melancholie und Nostalgie vorhanden, denn ihrem Schöpfer war bewußt, daß das Leben, das er beschrieb, im Verschwinden begriffen war. Wie Heinrich Detering unlängst treffend formuliert hat: der Mikrokosmos Dithmarschen wurde von einem Meisterphotographen in dem Augenblick festgehalten, als er in der neuen, modernen Welt aufging.5 Detering macht auch darauf aufmerksam, wie oft in diesen Gedichten, die wegen ihres Humors geliebt werden, Menschen weinen. Der Dichter selbst weint ebenfalls oft. Wie er in Min Jehann Tränen um seine unwiederbringliche Kindheit vergießt, so bringt ihn auch in dem Gedicht Min Modersprak, das den Band wie eine Art Motto eröffnet, der bloße Klang seiner Muttersprache, des Plattdeutschen, zum Weinen:

So herrli klingt mi keen Musik

Un singt keen Nachdigal;

Mi lopt je glik in Ogenblick

De hellen Thran hendal.6

Obwohl Groth seine Gedichte auf volkstümlichen Formen wie dem Volkslied und dem Volksmärchen aufbaute, zeigte er doch auch seine eigene formale Meisterschaft. Er war sehr gut mit deutscher und ausländischer Literatur vertraut, und zu seinen Vorbildern gehörte der im Schwarzwälder Dialekt dichtende Johann Peter Hebel ebenso wie der schottische Dichter Robert Burns: Eines seiner erzählenden Gedichte, Hans Schander, ist seine plattdeutsche Version von Burns’ Tam O’Shanter. Obwohl Groths eigene Persönlichkeit nie in seinen Gedichten hervortritt, ist seine Stimme dennoch ebenso allgegenwärtig wie die von Burns in seiner Dichtung und hat eine einheitstiftende Wirkung. Tatsächlich wurde der Quickborn als eindrucksvolles poetisches Meisterwerk anerkannt. Hier waren die poetischen Möglichkeiten des Plattdeutschen erstmals bewiesen.

Ein paar Anmerkungen zum Plattdeutschen sind vielleicht für diejenigen, die mit der Sprache nicht vertraut sind, nützlich. Das Plattdeutsche unterscheidet sich vom Hochdeutschen vor allem darin, daß es wie das Niederländische nicht die hochdeutschen Lautverschiebungen durchlaufen hat, die das Deutsche vom Englischen unterscheiden. Somit hat es wie Niederländisch eine Position zwischen Standarddeutsch und Englisch inne. Dies zeigt sich an den ersten beiden Strophen des einzigen plattdeutschen Gedichtes von Groth, von dem es eine dokumentierte Vertonung von Brahms gibt (obwohl Brahms das Lied mit einem anderen hochdeutschen Text veröffentlichte). Dazu eine Übersetzung ins Hochdeutsche, die die plattdeutschen Wörter so weit wie möglich mit ihren urverwandten Wörtern in der anderen Sprache übersetzt:

Plattdeutsch (Groth)Hochdeutsch
Dar geit en Bek de Wisch hentlank, Da geht ein Bach die Wiese entlang,
De hett dat rein so hild, der hat es gar so eilig,
So geit min Hart de ganze DagSo geht mein Herz den ganzen Tag
Un steit ni eenmal still, und steht nicht einmal still.
  
Dat steit ni still as bi de Mœl, Das steht nicht still wie bei der Mühle
Dat Rad dat geit un mahlt.das Rad, das geht und mahlt.
Dar steit mi dat op eenmal still, Da steht es mir auf einmal still,
As schull dat mit hendal.als solle es mit hinab.

Das Buch hatte einen überwältigenden Erfolg bei ungebildeten wie gebildeten Lesern, einschließlich der Gelehrten. Die erste Auflage verkaufte sich schnell. Das Buch wurde so populär, daß der künftige Illustrator Otto Speckter, als er Dithmarschen besuchte, um selbst Land und Leute zu sehen, die Menschen von Groths Werk nur als „dat Bok“, „dem Buch“, reden hörte. Groth hatte außerdem das Glück, in dem Germanisten Karl Müllenhoff einen Mentor zu finden, der sich für die Volkskultur Schleswig-Holsteins begeisterte, ihn nach Kiel einlud und in einen Kreis von Bewunderern an der Universität einführte. (Kiel war damals eine Stadt von etwa 15.000 Einwohnern. Obwohl sie seit etwa 200 Jahren eine Universität hatte, war diese Institution klein geblieben und hatte damals weniger als 160 Studenten.)

Müllenhoff unterstützte Groth bei der Vorbereitung weiterer Auflagen des Quickborn. Bis 1857 waren es sieben. Er beriet Groth professionell bei der Erweiterung des Quickborn, arbeitete mit Groth an der Schaffung einer systematischen Rechtschreibung, fungierte als sein Herausgeber, stellte eine Fülle von Verbindungen für ihn her und erlangte für ihn auch ein Reisestipendium vom dänischen König, der auch Herzog von Holstein war. Gleichzeitig mit der dritten Auflage des Quickborn erschien 1854 eine von Müllenhoff getroffene Auswahl von Groths hochdeutschen Gedichten unter dem Titel Hundert Blätter. Paralipomena zum Quickborn. (Das Wort Paralipomena bezeichnet in der Philologie Textteile, die bei der Arbeit an einem Werk ausgelassen und in der Ausgabe im Anhang angefügt werden.) Diese Gedichte, unter denen Brahms diejenigen fand, die er später vertonte, wurden von der Kritik nicht positiv aufgenommen. Besonders erregte sich Groth über die Kritik seines berühmten norddeutschen Zeitgenossen, Theodor Storm, der zuvor seine plattdeutsche Dichtung gelobt hatte. Das Problem bestand darin, daß Hochdeutsch für Groth eine Sprache war, die er sich mehr über literarische Vorbilder angeeignet hatte als durch Erfahrung, so daß seine hochdeutsche Lyrik sich wie eine blasse Imitation deutscher Romantiker liest. Groth ärgerte sich, als 1856 drei unautorisierte hochdeutsche Übersetzungen des Quickborn erschienen. Zusammen mit Müllenhoff erarbeitete er dann eine Ausgabe mit Lesehilfen für den hochdeutschen Leser. In seinen Briefen über Hochdeutsch und Plattdeutsch von 1858 beschrieb Groth die Beziehung der Sprachen zueinander.

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Abb. 3 Titelseite der Erstausgabe von Groths plattdeutscher Gedichtsammlung Quickborn, 1852 (auf 1853 vordatiert)

1855 reiste Groth nach Süden. Sein Ziel war Rom, doch kam er nicht über die Schweiz hinaus. Während eines längeren Aufenthalts in Bonn begegnete er einer Reihe bedeutender Persönlichkeiten, darunter Gelehrten, die den Quickborn bewunderten. Am 27. Januar 1856 verlieh ihm die Universität Bonn die Ehrendoktorwürde. Groth war sein Leben lang ungeheuer stolz auf diese Ehre, die ihm gestattete, sich Dr. Groth zu nennen. Sie bestärkte ihn jedoch auch in seiner Überzeugung, daß er Universitätsprofessor werden könne und werden solle, einem Glauben, der ihm Enttäuschungen und Unzufriedenheit bescheren sollte. Im April jenes Jahres, 1856, begegnete Groth in Bonn zum ersten Male Brahms.

2. Ehe und Kinder

Im Jahre 1858 begegnete Groth der 28jährigen Doris Finke und warb um sie. Sie war die Tochter eines reichen Weinhändlers Albert Finke aus Bremen, dem nicht daran gelegen war, seine Tochter an einen Müllerssohn zu verheiraten, dem es an einer Stellung und einem gesicherten Einkommen mangelte. Groth mußte seine Überredungskünste einsetzen. Hatte er sich ein Jahr zuvor auch erfolglos um die Stelle an der Kieler Universität beworben, die durch Müllenhoffs Weggang nach Berlin frei geworden war, so durfte er doch zumindest Vorlesungen an der Universität halten. 600 Taler verdiente er jährlich am Verkauf des Quickborn, und er argumentierte, daß seine akademischen und dichterischen Schriften sein Einkommen auf die 1200 Taler im Jahr verdoppeln würden, die Albert Finke als Minimum für seine Tochter ansetzte. Doris würde auch ein eigenes Einkommen aus dem Erbe ihrer Mutter haben. Es gelang Groth, seinen zukünftigen Schwiegervater davon zu überzeugen, daß seine Aussichten für die Ehe vielversprechend genug waren. Sie heirateten im August 1859 und mieteten eine „etwas feuchte“ Wohnung in Kiel, in der die ersten drei von vier Söhnen geboren wurden: Detmar 1860, Albert 1863 und Carl 1865.

In Bremen war Doris Groth ein Leben in Behaglichkeit, Muße und regem gesellschaftlichen Verkehr gewohnt gewesen: Ihr Vater liebte das gute Leben. Er legte großen Wert auf den sozialen Lebensstil der Familie und wollte, daß seine Kinder ähnlich lebten. Wie die meisten Töchter ihres Standes hatte Doris Sticken, Fremdsprachen (Englisch, Französisch und Spanisch), Klavier und Gesang gelernt. Sie hatte sogar Gesangsstunden bei der berühmtesten Sopranistin des Jahrhunderts, Jenny Lind, der „schwedischen Nachtigall“, genossen. Als sie Klaus Groth heiratete, tat sie einen mutigen Schritt. Obwohl er mit dem Quickborn berühmt geworden war und einige gesellschaftliche Umgangsformen gelernt hatte, indem er sich in führenden intellektuellen Kreisen bewegte, gab es doch einen nicht zu überbrückenden Unterschied zwischen ihren Familienverhältnissen. Kein Mitglied von Groths Familie aus Heide nahm an der Hochzeit teil. Noch ernster war ihre wirtschaftliche Situation: trotz seiner Hoffnungen gelang es ihrem Ehemann nicht, den Lebensunterhalt für sie beide und die Kinder aufzubringen.

Denn es sollte nie wieder so einen Erfolg geben wie den Quickborn. Obwohl Groth seine Bemühungen, Prosa und Gedichte zu veröffentlichen, verstärkte, nahm nach 1859 das Interesse an Groths Arbeit ab, während die plattdeutschen Schriften Fritz Reuters immer beliebter wurden. Es half auch nichts, daß Groth in seinen Briefen über Hochdeutsch und Plattdeutsch (1858) Reuters Werk angriff, indem er ihm vorwarf, plattdeutsch sprechende Menschen als ungebildete, komische und lächerliche Figuren darzustellen (eine Tradition, die auf das Mittelalter zurückging). Denn sein Angriff wurde von vielen dem Neid zugeschrieben und verursachte ihm später viele Schwierigkeiten. Ganz anders als Reuter hatte Groth den Ehrgeiz, das Plattdeutsche als literarische Sprache mit ihrer eigenen Würde zu fördern und zu retten. Dennoch trug Reuter und nicht Groth den Sieg davon. Zugleich war Groths Buch in einem Stil geschrieben, der zu populär war, um ihn für eine akademische Position zu qualifizieren. Er versuchte immer wieder, in Kiel eine Professur zu bekommen, doch es gelang ihm nicht. Dadurch entfremdete er sich auch von vielen, einschließlich seines Mentors Müllenhoff, der diesen Gedanken vermessen fand.

Doris’ Tagebucheinträge 1859 und 1860, vor und nach der Heirat, zeigen, unter welchem Druck sie damals lebte. Ihr Mann litt an Krankheiten, war frustriert in seinen Bemühungen, eine Professur zu erlangen, und stand in Konflikt mit ehemaligen Freunden an der Universität, die ihn, wie sie glaubte, herablassend behandelten. Außerdem nahm das Ehepaar eine beträchtliche Hypothek auf, um sich den Wunsch nach einem Haus für sich und ihre Kinder zu erfüllen. Nachdem sie eingezogen waren, klagte sie in ihrem Tagebuch darüber, daß das Haus trotz der Unterstützung durch ihren Vater zu teuer sei und ein Loch in ihre Ersparnisse gerissen habe. Später wurden die wirtschaftlichen Umstände so kritisch, daß sie Kostgänger aufnehmen mußten. Die Sorgen und Lasten, die Doris daher zu tragen hatte, trugen zweifellos zu ihrem frühen Tod bei.

Ihr Haus, das Doris selbst entwarf, wurde 1865 für sie auf einem Grundstück gebaut, das sie an einem Feldweg, dem Schwanenweg, damals nicht weit nördlich von Kiel, heute mitten in der Stadt, erworben hatten (Abb. 4 u. 5). Mittlerweile steht das Haus nicht mehr. Es war stattlich, viel größer als die Häuser, die Groth in Heide gekannt hatte. Am 5. Juni 1866 zogen sie ein. Doch was ein freudiges Ereignis hätte sein sollen, wurde von dem Tod ihres ältesten und intelligentesten Sohnes Detmar überschattet, der am 26. März, erst fünfeinhalb Jahre alt, gestorben war. Doris erholte sich kaum trotz eines zweimonatigen Aufenthaltes bei ihrer Familie in Bremen. Vier Wochen nach dem Umzug zeigt sich in ihrem Tagebuch eine unglückliche und kummervolle Frau, zudem noch bedrückt von dem Leid, das der österreichisch-preußische Krieg auslöste.

Inzwischen hatte es eine gute Nachricht für sie gegeben – wenn sie auch von Detmars tödlicher Krankheit überschattet wurde. Am 10. März 1866 wurde Groth zum Professor mit einem Gehalt von 800 Talern ernannt. Die Stellung war von sehr niedrigem Rang, „mit dem Range in der sechsten Classe der Rangfolge No. 13“. Eine Serie von Photographien des Kieler Universitätspersonals, nach Rang geordnet, zeigt Groth nicht weit über dem Pedell und dem Universitätsbarbier. Ironischerweise erhielt er den Titel nur durch die Intervention des österreichischen Statthalters in Holstein, Freiherrn von Gablenz, nachdem Schleswig und Holstein, sehr zum Mißfallen Groths, durch Österreich und Preußen im Auftrag des Deutschen Bundes von Dänemark erobert worden waren und für kurze Zeit von Österreich und Preußen gemeinsam verwaltet wurden.

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Abb. 4 Karte von Kiel und dem westlichen Ufer der Kieler Förde 1868 mit Groths Haus am Schwanenweg und einigen im Briefwechsel mit Brahms erwähnten Gebäuden, darunter Haus Forsteck. Zeichnung von Erwin Raeth, Kiel

Es gab einen weiteren Grund zur Freude, als am 2. Oktober 1866 ihr vierter Sohn August auf die Welt kam. Danach spiegelt Doris’ Tagebuch das Glück mit ihren drei Söhnen im neuen Heim wider. Im Zentrum dieses Glücks stand das Musizieren, denn Gesang und Klavier spielten in Doris’ Leben eine bedeutende Rolle, und sie hatte das Haus so entworfen, daß es in seiner Mitte im Obergeschoß ein großes Musikzimmer gab, in dem ein Blüthner-Flügel stand, den ihr Vater dem Ehepaar geschenkt hatte. Doris war eine ebenso begabte wie ausdauernde Klavierspielerin; Groth berichtet, er habe sie oft ein und dasselbe Lied von Brahms zehn-, zwanzig-, ja sogar fünfzigmal üben hören (S. 173). Er berichtet auch, daß er und seine Frau jeden Abend vierhändige Stücke zu spielen pflegten und sich so durch einen Großteil des deutschen musikalischen Repertoires durchmusizierten – einschließlich beispielsweise der späten Streichquartette Beethovens in Klavierarrangements (ebd.). Mag es uns heute auch seltsam erscheinen, war es das damals doch nicht, denn wie wir später sehen werden, wurde in diesem Jahrhundert fast die gesamte Instrumentalmusik – Symphonien, Konzerte, Kammermusik – begeistert zu Hause in Klavierarrangements gespielt.

Das Musizieren bildete auch eine Brücke zu vielen Freunden des Hauses, die zu Musikabenden kamen. So wurde das Haus der Groths ein musikalischer Mittelpunkt in Kiel. Auf dem Blüthner-Flügel spielten später berühmte Gäste – Clara Schumann, Hans von Bülow, Johannes Brahms – und begleiteten auch Sänger mit berühmten Namen, vor allem Julius Stockhausen. Auch ein anderes Zimmer wird in dieser Erzählung eine Rolle spielen. Rechts im Erdgeschoß lag zum Vorgarten hin ein Raum mit gewölbter niedriger Decke und eigener Tür zum Garten. Aufgrund seiner Ähnlichkeit mit einer Schiffskabine tauften die Kinder ihn die Kajüte. Groth benutzte ihn als Arbeitszimmer (Abb. 5 u. 32).

Groth hielt weiterhin Vorlesungen und schrieb, aber er konnte nie seinen frühen Triumph wiederholen. Sein Versuch, Ende 1870 Kapital aus dem vertrauten Titel seines ersten Buches zu schlagen, indem er einen Quickborn, 2. Theil veröffentlichte, war kein Erfolg beim Publikum – obwohl die darin enthaltene Erzählung in Blankversen De Heisterkrog von Kritikern gelobt wurde und heute noch von manchen als sein Meisterwerk betrachtet wird. Um Geld zu verdienen, schrieb Groth für Zeitschriften. Auch spielte er eine zunehmend aktive Rolle im kulturellen Leben Kiels. Durch die Fürsprache Müllenhoffs war er in die Kreise um einige führende Persönlichkeiten des kulturellen Lebens jener Zeit eingeführt worden, darunter Ernst Moritz Arndt, den Dramatiker Friedrich Hebbel, die Schriftsteller Gottfried Keller und Theodor Storm und den Maler und Illustrator Ludwig Richter. Im Nachhinein erwies sich jedoch die Bekanntschaft – die eine sich vertiefende, lebenslange Freundschaft werden sollte – mit einem Mann, der später als einer der größten deutschen Komponisten seiner Zeit galt, als die bedeutendste. Als sie einander im April 1856 zum ersten Mal begegneten, war Groth 37 und Brahms noch keine 23 Jahre alt. Aber sie wußten schon Jahre zuvor voneinander.

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Abb. 5 Groths Haus am Schwanenweg in Kiel. Foto, um 1890. Vor dem Haus mit dem Eingang zur „Kajüte“ (rechts) Groth und sein ältester Sohn Albert

3. Die Familie Brahms in Heide

Wie bereits bemerkt, lebten die Großväter von Groth und Brahms in derselben Straße, und Klaus war mit einem Vetter von Johannes zur Schule gegangen. In einer Erinnerung schreibt Groth, wie er zum ersten Mal den Namen von Johannes Brahms hörte. An einem Morgen im Sommer 1847 in Heide – Klaus Groth war 28 Jahre alt – las sein Vater am Kaffeetisch aus der Zeitung einen Artikel „von dem plötzlich aufgetauchten jungen Musiker Johannes Brahms in Hamburg“ vor:

Mein Vater ahnte nicht, welche Gedanken und Empfindungen diese kurze Nachricht in mir aufregte. Er wußte nicht, wie es in mir gärte, wußte nicht, was ich heimlich erstrebte – in einer anderen Kunst, mir selber noch völlig unklar. Es sollten noch Jahre vergehen, ehe ich die ersten sicheren Schritte dem dann klar erkannten Ziele entgegen tun konnte, und wiederum Jahre, bis ich es vorläufig erreicht hatte. […] Da sagte mein Vater mit Erstaunen in Mienen und Stimme über die Nachricht von dem plötzlich aufgetauchten musikalischen Genie: „Das muß der Sohn sein von meinem Schulkameraden Johann Brahms, gewiß, das ist er, der Sohn vom Ältesten des alten Peter Brahms hier. Der entlief sozusagen dem Alten aus Leidenschaft für die Musik. Er ging nach Hamburg und ließ sich dort, wie man sagte, beim Militär als Trompeter anwerben. Das muß er sein!“ (S. 163 f.)