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Gefördert durch

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Verbandssparkasse Meldorf
Sparkasse Westholstein
Sparkasse Hennstedt-Wesselburen

imageVerein für Dithmarscher Landeskunde e.V.

Umschlag: Heinrich Christian Boie. Pastell von Leopold Matthieu, 1773.

Frontispiz: Heinrich Christian Boie. Scherenschnitt aus dem Album Christian Hieronymus Esmarchs

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Reihe „zeit+geschichte“ der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein

© eBook: Boyens Buchverlag GmbH & Co. KG, Heide 2013

www.buecher-von-boyens.de

Vorwort

Heinrich Christian Boie (1744–1806) ist präsent in Dithmarschen. 1994 wurde sein 250. Geburtstag hier gefeiert. Lesungen, Stadtführungen durch Meldorf, Museumsausstellung und das Boie-Symposium wurden 2006 zu einer lebendigen Hommage im 200. Todesjahr Boies.

Boie hatte sich schon in Göttingen als Literaturmanager und Förderer junger Schriftsteller hervorgetan. Mit dem Göttinger Musenalmanach und dem „Deutschen Museum“ redigierte er zwei prominente literarische Periodica und wurde so zum Vermittler der Literatur der ersten Hälfte der Goethezeit. Mit vielen Schriftstellern, einem großen Freundes- und Bekanntenkreis – an erster Stelle mit Luise Mejer – stand Boie in regem Austausch. Dessen Medium waren das vertraute Gespräch und der persönliche Brief.

Als Landvogt von Süderdithmarschen (1781–1806) nahm Boie sein Amt wahr als Bürger und Vertreter der Aufklärung, der die Menschenfreundlichkeit zur Richtschnur seines Handelns machte. Er starb am 25. März 1806, wenige Monate, ehe das Heilige Römische Reich Geschichte wurde. In seiner Person und seinem Werk aber scheint eine in die Zukunft weisende Gesinnung auf, die gleiche Rechte für alle in einer Gesellschaft ohne Standesdenken und Hierarchien fordert und alle Menschen als Kinder Gottes sieht.

Das Boie-Symposion am 14. Oktober 2006 versammelte Fachleute und ein großes Publikum in Dithmarschen, in Meldorf. Die dort gehaltenen Vorträge bilden den Grundstock dieses Buches. Ihnen zur Seite stehen weitere Aufsätze, vor allem diejenigen aus der 1995 erschienenen Sonderausgabe der Zeitschrift „Dithmarschen“, und auch einige andere werden hier zum zweitenmal veröffentlicht. Der Nachweis der Erstveröffentlichung ist jeweils vor den Anmerkungen zu finden.

Der Verein für Dithmarscher Landeskunde dankt den Herausgebern und dem Boyens Buchverlag. Sie legen hier ein Kompendium vor, das Boies Anteil an der Literatur seiner Zeit deutlich macht, dazu auch einen hervorragenden Einblick ins bürgerliche Leben und die Gesellschaft damals gibt. Herzlichen Dank ebenso für die finanzielle Förderung des Boie-Projektes durch die Ernst Günter Albers GmbH, Meldorf, die Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein, die Verbandssparkasse Meldorf, die Sparkassen Westholstein und Hennstedt-Wesselburen.

Dr. Dietrich Stein

Vorsitzender des Vereins für Dithmarscher Landeskunde

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Johann Heinrich Schröder: Luise Mejer, Pastell, 1782 (Dithmarscher Landesmuseum, Meldorf)

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Leopold Matthieu: Heinrich Christian Boie, Pastell, 1773 (Dithmarscher Landesmuseum, Meldorf)

Klaus Gille

Heinrich Christian Boie
Ein Lebensbild

Wenn man sich einmal die Literatur ansieht, die es über Boie gibt, so drängt sich zuweilen der Eindruck auf, es gebe wenigstens drei Boies, die nur sehr lose etwas miteinander zu tun haben. Da ist einmal der Boie der Literaturgeschichte, ein junger Mann, der seine entscheidenden Taten in Göttingen vollbringt, was danach noch kommt, wird häufig nur mit einigen Halbsätzen abgetan. Dann gibt es den Privatmann Boie, den Gärtner und emsigen Briefeschreiber, den wir vor allem in der ersten Hälfte der 1780er Jahre in Meldorf kennenlernen.1 Der erstmals 1961 veröffentlichte Briefwechsel zwischen Boie und seiner ersten Frau Luise Mejer erlaubt tiefe Einblicke in die faszinierende und anrührende Liebes- und Ehestandsgeschichte und läßt ein detailliertes Bild bürgerlichen Lebens entstehen.2 Und dann gibt es noch Boie als Landvogt von Süderdithmarschen, über dessen 25jährige Tätigkeit wir bislang am wenigsten wissen. Ich möchte versuchen, soweit das in der Kürze möglich ist, wenigstens in groben Zügen einen Eindruck vom „ganzen“ Boie zu vermitteln.

Die Familie Boie wohnte von 1741 bis 1757 in Meldorf. Johann Friedrich Boie, seit 1742 mit Engel Katherine Haberkorn aus Segeberg verheiratet, war hier als Compastor tätig. Nach dem Umzug nach Flensburg wurde er später Hauptpastor und schließlich Propst des Amtes Flensburg und der Landschaft Bredstedt. Heinrich Christian wurde als zweites von insgesamt zwölf Kindern am 19. Juli 1744 in Meldorf im damaligen Compastorat an der Rosenstraße geboren.3 Für die erste Ausbildung wird vermutlich sein Vater gesorgt haben; in Flensburg besuchte er dann die Gelehrtenschule. 1764 ging er nach Jena, um hier – wie bereits sein Vater 30 Jahre zuvor – Theologie zu studieren. Heinrich Christian führte die Familientradition jedoch nicht weiter und wechselte sehr bald mit Billigung der Eltern zur Juristischen Fakultät. Nach drei Jahren verließ Boie Jena ohne einen Studienabschluß und kehrte für fast anderthalb Jahre in sein Elternhaus nach Flensburg zurück.

1769 immatrikulierte Boie sich als Jurastudent an der Universität Göttingen, damals wohl eine der fortschrittlichsten Hochschulen im deutschen Sprachgebiet. Er ging jedoch nicht eigentlich als Student nach Göttingen, sondern vielmehr als Begleiter und Aufpasser eines jungen Adligen; Boie hatte den Beruf des Hofmeisters ergriffen. Er teilte damit das Schicksal vieler mittelloser Akademiker, die sich auf diese Weise ihren Unterhalt verdienten. Von seinen Eltern hatte Boie vermutlich keine finanzielle Unterstützung zu erwarten, da ein kinderreicher Pastorenhaushalt für derlei Ausgaben nur über sehr geringe Möglichkeiten verfügte.

Das Dasein als Hofmeister bot Chancen und Ärgernisse zugleich. Chancen vor allem deshalb, weil sich zuweilen aus der Protektion der Eltern des Zöglings manche Verbindung und Empfehlung für das eigene Fortkommen und die Karriere ergeben konnte. Zudem fielen meistens für den Hofmeister einige Reisen ab, auf denen er den jungen Mann begleiten durfte. Ärger gab es auf der anderen Seite auf jeden Fall. Dafür muß man sich nur vergegenwärtigen, daß die adeligen Studenten jener Zeit häufig in sehr jugendlichem Alter an die Universität kamen. Dem Hofmeister oblag es dann, diese junge Herren, die das erste Mal der elterlichen Aufsicht entkommen waren, im Zaum und deren Rechnungen in Ordnung zu halten.

Boies Erfahrungen mit seinen Zöglingen – der Junker von der Lühe, mit dem er 1769 nach Göttingen ging, war nur der erste einer langen Reihe, die noch folgen sollte – waren gemischt. Protektion im eigentlichen Sinne erfuhr er wohl nicht. Zwei größere Reisen immerhin gab es: die eine um die Jahreswende 1769/70 nach Berlin, die andere 1774 unter anderem in die Niederlande.

Insgesamt blieb Boie fast sieben Jahre lang, zumeist als Hofmeister, in Göttingen – sieben Jahre, in denen er sich immer wieder über die „Fußketten“ beklagte, die ihm auf diese Weise angelegt seien, und er es trotzdem immer wieder übernahm, neue Studenten zu beaufsichtigen. Seit 1770 betreute Boie vor allem junge Briten, die für einige Semester die Göttinger Universität besuchten. Die besonderen Verbindungen zu Großbritannien ergaben sich, da das Königreich Hannover seit 1714 in Personalunion vom englischen König regiert wurde. Göttingen entwickelte sich so zu einem beliebten Studienort vor allem für die Söhne wohlhabender Engländer. Für Boie brachte der enge Kontakt mit den Studenten es mit sich, daß er alsbald über hervorragende Kenntnisse der englischen Sprache verfügte – Kenntnisse, die zu diesem Zeitpunkt nur wenige besaßen und die sich für Boies literarische Arbeiten als außerordentlich hilfreich erweisen sollten, erfuhr doch das Englische damals eine immense Aufwertung und wurde zu einer Sprache, „die sich aneignen mußte, wer auf der Höhe der Zeit sein wollte.“4 Großbritannien wurde in vielerlei Beziehung zum Musterland der europäischen Aufklärung, die englische Literatur eroberte den Kontinent.

So weit besehen, bietet der Lebensweg Boies nichts Außergewöhnliches. Daß jedoch heute Boie als lexikonwürdig gilt, das hat mit Literatur zu tun. Boie war kein großer Dichter. Wohl schrieb er sein Leben lang zahlreiche Gedichte, Epigramme und Lieder, die in Sammlungen und Zeitschriften erschienen und durchaus auch den Beifall des Publikums und der Kritiker fanden. Diese „Gelegenheitsarbeiten“, wie er sie selber nannte, hätten jedoch wohl kaum für einen nennenswerten Nachruhm ausgereicht. Der Germanist Karl Weinhold, der 1868 die erste Biographie Boies veröffentlichte, schrieb, er sei ein Dichter gewesen, dem manch „anmutiges Lied, manch witziger Vers“ gelungen sei, große Originalität habe seine Dichtung jedoch nicht besessen.5

Was Boie dagegen einen bleibenden Platz in der deutschen Kultur- und Literaturgeschichte verschaffte, waren seine Fähigkeiten als Literatur-„Manager“, als Herausgeber und Redakteur. Diese Tätigkeiten erscheinen uns heute als nicht besonders außergewöhnlich, anders verhielt es sich jedoch in den Jahren um 1770, als diese Professionen entstanden. Es war die Zeit der sog. Leserrevolution. Die jährliche Zahl der deutschen Neuerscheinungen wuchs rasant, ebenso wie der Lektürehunger des Publikums. Vor dem Hintergrund dieser steigenden Nachfrage entstand ein Markt für Literatur mit allem, was dazu gehört und was wir auch heute noch kennen: mit Verlegern und Buchhändlern, mit Gelegenheitsschreibern, mit Modeautoren und Übersetzern, mit Intrigen, mit Werbekampagnen, mit Gerüchten und Klatsch. In dieser „Literaturszene“ bewegte sich der Hofmeister Boie mit Eleganz und steigendem Erfolg.

Boie war seit seiner Jugend ein Literaturenthusiast. Es existieren noch heute mehrere handgeschriebene Bände, in denen er zahlreiche Exzerpte aus der deutschen, englischen und französischen Literatur gesammelt hatte.6 Bereits früh erschienen in der Hamburger Zeitschrift „Unterhaltungen“ Gedichte von ihm. Die Leidenschaft Boies galt jedoch dem persönlichen Kontakt mit den Dichtern, dem Aufspüren neuer Talente, der literarischen Kritik und Diskussion. Er suchte immer Gelegenheit, neue Bekanntschaften zu machen oder alte zu festigen. So nutzte er die Rückreise von der Universität Jena nach Flensburg 1767 für Aufenthalte in Halle, in Halberstadt und in Hamburg und besuchte dabei u. a. Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Gotthold Ephraim Lessing. Auf seiner Reise nach Berlin Ende 1769, die für Boie zeitweise einer Reise ins Paradies gleichkam, denn hier befand er sich endlich in einer Metropole mit allen ihren kulturellen und gesellschaftlichen Möglichkeiten, traf Boie u. a. mit dem Verleger Friedrich Nicolai, der Dichterin Anna Louise Karsch und dem Philosophen Moses Mendelssohn zusammen.7

Boie muß auf seine Gesprächspartner – ob nun im mündlichen oder im brieflichen „Gespräch“ – einen ausgesprochen charmanten Eindruck gemacht haben. Vergegenwärtigt man sich all die Namen seiner Freunde, Bekannten und Briefpartner – ja schon derjenigen, die sich in das Stammbuch des jungen Boie eintrugen –, so liest sich das heute wie das Register einer Literaturgeschichte.8 Boie kannte alle und stand bald mit allen in regem Kontakt. Das galt für das Heer der jetzt vergessenen Schriftsteller ebenso wie für die heute noch geläufigen Größen der Literatur wie Goethe, Schiller, Wieland, Lichtenberg, Klopstock oder Herder.

Seine Stellung innerhalb der literarischen Welt verdankte Boie nicht zuletzt auch seiner großen Hilfsbereitschaft. Er bewährte sich als unermüdlicher Sammler von Subskribenten, schrieb Empfehlungen und versorgte seine Bekannten mit Exemplaren rarer Bücher, die er auf Auktionen erwarb, oder im Falle englischer Titel, indem er seine Verbindungen nach Großbritannien nutzte und sie von dort direkt bezog.9

Der „Intendant auf dem Parnaß“

Der Hofmeister Boie war während seiner Zeit in Göttingen maßgeblich an drei literarischen „Projekten“ beteiligt, die jeweils auf ihre Art ein Stück Literaturgeschichte darstellen. Da ist zum einen der „Göttinger Musenalmanach“, erstmals Anfang 1770 ausgeliefert.10 Boie war auf die folgenreiche Idee gekommen, nach dem Vorbild des seit 1765 in Frankreich erscheinenden „Almanach des Muses“ auch für den deutschsprachigen Raum eine solche Anthologie herauszugeben. Den ersten Jahrgang bereitete er gemeinsam mit seinem Freund Friedrich Wilhelm Gotter vor, für die folgenden zeichnete Boie dann allein verantwortlich. Die jährliche Sammlung enthielt ab 1771 vor allem neue, noch ungedruckte Gedichte. Der Musenalmanach wurde zu einem großen Erfolg – und das nicht zuletzt dank Boies Fähigkeiten im Umgang mit Menschen und seines Gespürs für literarische Qualitäten und Neuentdeckungen. Es gelang ihm, renommierte Dichter auf Zeit für eine Mitarbeit zu gewinnen, aber auch neue „Talente“ aufzuspüren und sie einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. So suchte er beispielsweise, den Dorfschullehrer Johann Hinrich Thomsen aus Kius in Angeln zu fördern, veröffentlichte Gedichte von ihm und bemühte sich, das Interesse auf ihn zu lenken.11

Für seine Herausgebertätigkeit erntete Boie fast einhelliges Lob. Herder nannte ihn anerkennend einen „Musenaccoucheur“, einen Geburtshelfer der Musen.12 Gleim schlug vor, man möge Boie doch künftig zum „Intendanten auf dem Parnaß“ ernennen.13 Viel Ehre also für den noch nicht 30jährigen Hofmeister, der auf diesem Wege mit noch mehr Dichtern Kontakt aufzunehmen und seine Stellung in der literarischen Welt weiter zu festigen vermochte. Boie gab den Göttinger Almanach bis 1774 heraus. Mit ihm hatte er den Grundstein zu einer ganz neuen und bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein sehr erfolgreichen Publikationsform vor allem für Lyrik gelegt.

Aus dieser Zeit der ersten Anerkennung stammt auch das eindrucksvolle Portrait Boies, das der Göttinger Leopold Matthieu anfertigte und das heute im Dithmarscher Landesmuseum hängt (Abb. S. 9). Boie selbst war offenbar mit seinem Bildnis zufrieden, denn er schrieb an seinen Bruder Reinhold, bezugnehmend auf dieses Bild, im November 1773 nach Flensburg: „daß mein Bild euch Vergnügen gemacht, ist mir sehr, sehr angenehm. Es ist schön gemalt und soll, aus dem rechten Gesichtspunkt gesehen, auch sehr ähnlich seyn.“14

Eine sehr enthusiastische Beschreibung der Person Boies lieferte Johann Heinrich Voß, der 1772 an Ernst Theodor Brückner schrieb: „Gewiß erwarten Sie eine kleine Beschreibung von diesem vortrefflichen Manne. Stellen Sie sich also ein kleines und dabei jedoch proportioniert etwas dickes Männchen mit einer gleich einnehmenden, freundlichen Miene vor. Seine Blicke verkündigen seinen Witz, und wenn er spricht, so wird man bezaubert. Alles ist Geist, alles ist Enthusiasmus an ihm.“15

Mit Gewichtsproblemen hatte Boie übrigens sein Leben lang zu tun. Er blieb der „fette Mann“ (Lichtenberg) und „der kleine dicke Boie“ (Stolberg) und legte später als Landvogt in Meldorf noch ein wenig an Umfang zu. Er habe sein zweites Schwein geschlachtet, berichtete er 1785 Luise Mejer. „Ich habe mich bei der Gelegenheit gewogen und nicht ohne einen kleinen Schrecken gefunden, daß ich 20 Pfund schwerer geworden bin, als ich vor fünf Jahren in Brahe Trolleburg wog.“16

Verschweigt das Porträt von 1773 auch die Leibesfülle, so läßt es doch deutlich erkennen, daß der noch nicht 30jährige Boie nicht mehr mit einer größeren Haarpracht versehen war. Dieser Umstand stellte für Boie, dem Eitelkeit nicht fremd war, offenbar ein Problem dar, denn noch 25 Jahre später, im Jahr 1799, erhielt er von seiner Schwester Ernestine aus Eutin einen keineswegs ironischen Brief, in dem dieses Thema zur Sprache kam: „Etwas sehr tröstliches muß ich dir doch mittheilen, du brauchst dich nun nicht mehr um deine dünnen Haare grämen, man trägt jetzt Perüken, die gar nicht das Aussehen der Perüken haben. Jacobi seine hat mich so getäuscht daß ich sie gar nicht für eine halten wolte.“17

Bevor Boie Ende 1774 die Redaktion seines Almanachs endgültig aufgab, hatte er Monate zuvor die Herausgabe seinem zukünftigen Schwager Johann Heinrich Voß, der 1777 die Schwester Ernestine heiratete, anvertraut.

Mit Johann Heinrich Voß kommen wir zum zweiten „Projekt“, an dem Boie in Göttingen maßgeblich beteiligt war, dem sog. Göttinger Hain.18 Unter diesem Namen wurde eine Gruppe junger Dichter bekannt, die zunächst nur einen eher lockeren Kreis bildeten und sich dann 1772 – sehr pathetisch bei Vollmond unter Eichen – zu einem ewigen „Freundschaftsbund“ zusammenschlossen. Boie war von Anfang an der Mittelpunkt dieses studentischen Zirkels, zu dem neben Voß u. a. auch Ludwig Christoph Heinrich Hölty, Johann Martin Miller und die beiden Grafen von Stolberg gehörten. Man diskutierte untereinander die eigenen Gedichte, besprach Neuerscheinungen und verbrachte gemeinsam die Freizeit. Literarisch standen die jungen Dichter in strikter Opposition zur damals vorherrschenden, von Frankreich beeinflußten Literatur, wie sie etwa von Wieland verkörpert wurde.

Im Gegensatz dazu gab man sich „deutsch“, war patriotisch und schwärmte für eine Art von teutonischer Mythologie aus grauer Vorzeit. Die Mitglieder des Bundes, der nur etwas länger als ein Jahr bestand, gaben sich untereinander Bardennamen. Boie, der den Ehrenvorsitz des Bundes innehatte – den eigentlichen Vorsitz führte Voß –, erhielt dabei den Namen Werdomar, nach dem Anführer des Bardenchores in Friedrich Gottlieb Klopstocks Stück „Die Hermannsschlacht“. Überhaupt war Klopstock die literarische Bezugsperson und der Held des Bundes, aus seinen Oden speiste sich zu einem nicht geringen Teil die Vorstellungswelt der „Hainbündler“. Boie, der um einige Jahre älter war als die anderen Mitglieder, übernahm vor allem die Rolle des Förderers und Kritikers. Mit seinem Musenalmanach bot er den jungen Dichtern ein willkommenes Publikationsorgan. Vor allem die Jahrgänge von 1773 und 1774 wurden literaturgeschichtlich bedeutsam. Neben den Beiträgen der „Hainbündler“ finden sich darin Stücke von Goethe, Klopstock und Balladen von Gottfried August Bürger.

Ein Jahr nach der Aufgabe des Musenalmanachs engagierte sich Boie im September 1775 in einem neuen Vorhaben. Gemeinsam mit Christian Wilhelm Dohm forderte er in einem Rundschreiben zur Mitarbeit an einer neuen Monatsschrift auf.19 Sie sollte unter dem Titel „Deutsches Museum“ erscheinen und, wie es in der Ankündigung hieß, „die Deutschen mit sich selbst bekannter und auf ihre eignen Nationalangelegenheiten aufmerksamer“ machen.20

Was schließlich dabei herauskam, ging weit über diese Ziele hinaus. Die dreizehn Jahrgänge des „Deutschen Museum“, die zwischen 1776 und 1788 erschienen, sowie das später von Boie allein besorgte „Neue Deutsche Museum“ (1789–1791) dokumentieren ein überaus breites Spektrum der Interessen. Neben Berichten über die deutschen Zustände wurde eine Vielzahl anderer Themen berührt. So führten beispielsweise Lichtenbergs „Briefe aus England“ den deutschen Leser in die Weltstadt London, und Carsten Niebuhr berichtete über seine Orientexpedition. Die politischen Umwälzungen in Nordamerika und Frankreich wurden ebenso behandelt wie neue Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschungen. Hier im „Deutschen Museum“ wurden die wichtigen Diskussionen der Zeit geführt: über die Abschaffung der Todesstrafe, über die Reformen in Justiz und Bildungswesen und über den Fortgang der Aufklärung im allgemeinen. Aber es wurden auch, vor allem von Voß, philologische Streitigkeiten ausgekämpft, oder Herder schrieb über die ältere deutsche Literatur – insgesamt ein faszinierendes Panorama der intellektuellen Debatte des späten 18. Jahrhunderts von einer ganz erstaunlichen Breite und Vielfalt.

Man kann den Briefen Boies dieser Zeit entnehmen, mit wieviel Mühe, Ärger und Anstrengungen die Herausgabe einer solchen Zeitschrift verbunden war. Mit großer Sorgfalt widmete Boie sich der Bearbeitung der Manuskripte, feilte an Formulierungen. Dabei zeigten sich auch die Vor- und Nachteile in Boies Naturell. Er sah sich selbst als unparteiisch an, er bemühte sich mit den verschiedenen Richtungen unter seinen Autoren auszukommen. Gleichzeitig geriet er nicht selten in eine schiefe Lage, da er es manchmal wohl allzu vielen gleichzeitig recht machen wollte. Mit manchen entschiedeneren Persönlichkeiten unter den Autoren gab es deshalb nicht selten Probleme.

Zudem gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem für sein rüdes Geschäftsgebaren und seinen Geiz berüchtigten Leipziger Verleger Johann Friedrich Weygand schwierig, und auch mit dem Mitherausgeber Dohm gab es Zwistigkeiten. Dohm, der vor allem an statistischen, politischen und wirtschaftlichen Abhandlungen interessiert war, harmonierte nicht immer mit dem mehr auf schöngeistige Themen erpichten Boie.

Dennoch erwies sich diese Zeitschrift als ein Erfolg. Ähnlich wie mit dem Musenalmanach wurde auch mit dem „Deutschen Museum“ deutsche Literatur- und Pressegeschichte geschrieben.

Auf der Suche nach einem Amt

Der erfolgreiche Gründer und Herausgeber Boie saß derweil 1775 immer noch als ein geplagter Hofmeister in Göttingen – geplagt vor allem deshalb, weil der Ärger mit seinen englischen Schützlingen immer größer wurde. Unbezahlte Rechnungen und Auseinandersetzungen mit den Eltern seiner Studenten machten ihm das Leben schwer.

Boie war deshalb entschlossen, das Hofmeisterleben an den Nagel zu hängen und seinen Lebensunterhalt auf andere Weise zu verdienen. Es hätte natürlich nahegelegen, im Literaturgeschäft zu bleiben, doch war Boie mit diesem Vorhaben seiner Zeit mindestens um eine Generation voraus. Literarische Arbeiten brachten damals in der Regel noch weniger als später genügend Einkommen, um davon leben zu können – doch es mangelte ihm, bei allem Fleiß, auch ein wenig an der dafür nötigen Disziplin. Der Zeitdruck, der mit den Übersetzungsarbeiten häufig einherging, war nichts für ihn.21

Der Gedanke, die bisherige freiberufliche Existenz aufzugeben, lag deshalb nicht fern. Nachdem sich verschiedene andere Aussichten zerschlagen hatten – so war Boie u. a. offenbar als Nachfolger für den wegen Unterschlagung flüchtigen Kasseler Bibliothekar Rudolf Erich Raspe im Gespräch – finden wir Boie schließlich 1776 in Hannover – als Sekretär im Stab des hannoverschen Feldmarschalls Friedrich August von Spörken. Boie war hier – neben einem weiteren Sekretär und zwei Adjutanten – für die Verwaltung des hannoverschen Heeres zuständig.

Über seine eigentliche Tätigkeit in diesem Amte ist wenig bekannt. Doch wir wissen aus seinen Briefen, daß Boie offenbar keine Probleme im Umgang mit den Offizieren hatte, die zumeist mehr Ursache hatten, seine Freundschaft zu suchen als umgekehrt. Auch mit seinen Vorgesetzten stand er bald auf vertrautem Fuß. Neben seinen Dienstgeschäften fand Boie in Hannover genügend Zeit, sich der Geselligkeit zu widmen, so daß der Dichter Hölty allen Grund sah, sich zu beschweren: „Boje flattert bey allen Männlein und Weiblein herum; und man trifft ihn nie zu Hause.“22

Der Stabssekretär Boie fand in Hannover Zutritt zu einer Reihe von einflußreichen Familien. So gehörte u. a. auch Charlotte Kestner, Vorbild der Lotte aus Goethes „Werther“, zu seinen Bekannten.

Man darf sich Boies Stellung sicher nicht allzu sehr militärisch geregelt vorstellen – es blieb viel Raum für gesellige Aktivitäten, vor allem dann, wenn der Feldmarschall abwesend war. Darüber hinaus wurde Boie auch zu verschiedenen „Sonderaufgaben“ herangezogen. So übernahm er – auf höchsten Befehl – wiederum die Aufsicht über einen jungen Engländer, oder er richtete ein anderes Mal, wieder auf Wunsch seiner Vorgesetzten, eine Lesegesellschaft ein. Boie blieb in Hannover insgesamt fünf Jahre.

Die Literatur trat in dieser Zeit – mit Ausnahme der Arbeiten für das „Deutsche Museum“ – ganz in den Hintergrund. Gegenüber dem Verleger Nicolai in Berlin äußerte Boie sich im Juni 1776: „Die Literatur wird, wie immer, das Glück und Vergnügen meiner Nebenstunden seyn. Aber selbst was darin zu seyn, dazu hab’ ich auch izt den Gedanken verloren.“23 Boie bemühte sich sogar zeitweise darum, in Hannover ja nicht zu sehr den Eindruck eines Literaten zu erwecken, da dieses leicht einen Ruf von Unzuverlässigkeit und Leichtlebigkeit eingebracht hätte.

Seit wann Boie sich um eine Anstellung in seinem „Vaterlande“ bemühte, ist nicht mehr genau auszumachen. Die letzten und entscheidenden Gespräche wurden wohl auf einer Reise geführt, die ihn 1780 durch Schleswig-Holstein und Seeland bis nach Kopenhagen führte. Protektion erhielt Boie bei seiner Bewerbung um ein Amt u. a. vom dänischen Minister Andreas Peter Graf von Bernstorff. Durch dessen Freundschaft mit den Grafen Stolberg und der Familie Reventlow hatte Boie Zugang zu diesen Adelskreisen, wo er sich, im Gegensatz zu hannöverschen Verhältnissen, auch durchaus angenommen fühlte, wie er am 13. Juli 1780 an Luise Mejer schrieb: „Wie ganz was andres ist der dänische Adel als der unsrige! Ich muß mich ordentlich selbst daran erinnern, daß ich kein vornehmer Mann bin, so ganz auf dem Fuße der Gleichheit nimmt mich alles.“24

Unter dem Datum vom 21. November 1780 richtete Boie dann eine formelle Bewerbung um die Anstellung als Landvogt an den dänischen König. Von Literatur ist in diesem Schreiben nicht die Rede: „Zufällige Ursachen“, so Boie, hätten ihn weit länger in Göttingen gehalten, als es seine Absicht gewesen sei.25

Landvogt in Meldorf

Im März 1781 war es dann soweit – begleitet von seinem Diener Johann und dem Hund Alekto verließ der designierte Landvogt von Süderdithmarschen Hannover, um nach Meldorf überzusiedeln, damals einem Ort mit weniger als 2000 Einwohnern, dessen 400 zumeist mit Stroh gedeckten Häuser sich um die mächtige, aber damals recht baufällige Kirche gruppierten. Der noch nicht ganz 37jährige Boie war auserkoren, die Nachfolge des 75jährigen Christian Siegfried Eggers anzutreten, der das Amt seit 1744 verwaltete – dem Geburtsjahr Boies.

Die Ausgangssituation unter diesen Umständen kann man sich gut vorstellen: ein Amtsvorgänger, der seit fast vier Jahrzehnten die Geschäfte betrieb – der innig verwoben war mit der Materie – und der vor allem vielfach verbunden war mit den entscheidenden Persönlichkeiten und Familien, die letztlich über die Geschicke des Landes bestimmten. Demgegenüber Boie: Er war zweifelsohne bekannt in Süderdithmarschen – nämlich als Sohn eines früheren Meldorfer Pastors und als Angehöriger einer alten Familie mit zahlreicher Verwandtschaft, nur wenige dürften dagegen etwas über seine literarische Karriere und Verdienste gewußt haben. Boie war weltgewandt und kultiviert – diese Eigenschaften jedoch waren erprobt in einer urbanen Gesellschaft, wie er sie in Göttingen und Hannover erfahren hatte. Der Umgang mit Dithmarschen war erst noch zu erlernen.

In vielen Briefen suchte Boie 1781 seinen zahlreichen Bekannten eine Vorstellung davon zu vermitteln, in welchen „Winkel“ es ihn verschlagen hatte. Bei diesen Gelegenheiten fielen auch manche Charakterisierungen der Dithmarscher ab. So schrieb er der Schriftstellerin Sophie La Roche im Oktober 1781, seine Landsleute seien „wie sie aus der Hand der lieben Natur kommen, roh, rauh, ein wenig streitsüchtig, aber ehrlich, und wenn man sie nur recht nimt, läßt sich schon mit ihnen auskommen.“26

Abgesehen davon, daß Boie ein wenig damit kokettierte, jetzt in eine Art Verbannung geraten zu sein, enthüllen diese und ähnliche Bemerkungen auch etwas über den sozialen und kulturellen Abstand des „Gebildeten“ von der Mehrheit seines „Volkes“.

Und auch die Verständigung dürfte nicht so einfach gewesen sein, denn mit dem Plattdeutschen des neuen Landvogtes war es nicht weit her. Noch vier Jahre später, als sein Bruder Reinhold die wohlhabende Bauerntochter Anna Vollmar aus Barlt heiratete, vereinbarte er mit seiner Schwägerin, daß sie plattdeutsch und er weiterhin lieber hochdeutsch reden sollte.

Von den konkreten Aufgaben, die ihn in seinem neuen Amte erwarteten, besaß Boie, abgesehen von seiner juristischen Grundausbildung, keine Kenntnisse. Woran es ihm aber nicht mangelte, war der Elan, jetzt tätig zu werden und das Los der Bevölkerung zu verbessern – getreu den Maximen der Aufklärung, die ja nicht nur eine literarisch-philosophische Bewegung sein wollte, sondern auch eine praktische Reformbewegung für alle Lebensbereiche. Möglichkeiten etwas zu ändern gab es für Boie theoretisch viele. Als Landvogt war er bekanntermaßen für zahlreiche Sachbereiche verantwortlich.27 Seine Zuständigkeit reichte dabei vom Deichbau über das Schul- und Armenwesen bis hin zur Justiz und Polizeiverwaltung, um nur einiges zu nennen. Wie groß die Reformmöglichkeiten tatsächlich waren, wäre im Einzelnen zu untersuchen. Die eingefahrenen Gleise der Verwaltung waren auch in Dithmarschen zweifellos tief und schwer zu verlassen. Zunächst einmal galt es, sich mit den vielseitigen Gegebenheiten vertraut zu machen. „Geschäfte habe ich – fast mehr als ich tragen kann“, schilderte Boie im November 1781 einer Bekannten seine neue Situation, „wenigstens hindert mich die Vielheit allenthalben so klar durchzuschauen, wie ich gern mögte. Ich habe zwei, oder eigentlich drei Sekretäre und doch alle Hände voll zu thun. Wenn Sie sich denken, dass das Ländchen, dem ich vorgesetzt bin, 10 000 Menschen fasst, können Sie das begreifen. Noch mehr tragen dazu unsre vielen Verfügungen und Verordnungen bei, die man kaum zu übersehen im Stande ist. Ich thue, was ich kan, die Geschäfte zu simplifizieren und hoffe sie dadurch nicht allein mit der Zeit zu vermindern, sondern sie auch im lebhafteren Gang zu erhalten.“28

Vor allem den Deich- und Wassersachen, in denen er bald nach Amtsantritt wichtige Entscheidungen zu treffen hatte und die für Dithmarschen von existentieller Bedeutung waren, dürfte Boie recht hilflos gegenübergestanden haben. Doch konnte er hier, wie auch in anderen Angelegenheiten, auf seinen weiten Bekanntenkreis zurückgreifen. So holte er sich für die Deichsachen Rat bei dem Hamburger Professor Johann Georg Büsch und dem Harburger Oberdeichgrafen Beckmann. Abgesehen von den Schulverhältnissen, an deren Verbesserung dank der Initiative des Propstes Jochims bereits kräftig gearbeitet wurde, als Boie nach Meldorf kam, bot die Justiz- und Polizeiverwaltung vielleicht die besten Möglichkeiten zur Veränderung. Die Reform der Strafpraxis und der Rechtsprechung im allgemeinen gehörte zu den zentralen Anliegen der Aufklärung – was sich nicht zuletzt in den Artikeln widerspiegelte, die im „Deutschen Museum“ erschienen. Boie bemühte sich – soweit wir bislang einzelne Fälle kennen und es für ihn im Rahmen der Gesetze möglich war – um Verständnis und um Milde für die Täter. „Fürchte Dich nicht, daß ich Diebe hängen lassen muß“, beruhigte er 1781 Luise Mejer, „Wir hängen überhaupt keine Diebe mehr.“29 Der Umstand, 1796 die (letzte) Hinrichtung, die in Meldorf durchgeführt wurde, vollstrecken lassen zu müssen, sollte Boie schwer belasten.

In seinen landvogteilichen Stellungnahmen für die vorgesetzten Behörden in Glückstadt und Schleswig suchte Boie die sozialen Verhältnisse der Täter zu berücksichtigen und plädierte so beispielsweise 1791 im Zusammenhang mit einem Fall von Kindesmord in Barlt für die vorzeitige Entlassung der Täterin aus dem Zuchthaus nach einigen Jahren. Der Abschreckung sei so bereits Genüge getan.30 Die Prävention durch eine bessere Ausbildung und durch Fürsorge zur rechten Zeit sollte die Bestrafung überflüssig machen. Das galt vor allem für die Jugend: „Warum hat der Staat“, schrieb Boie an anderer Stelle, „oder warum macht er keine Anstalten zu diesem seinen ersten Bedürfnis, das künftige Geschlecht zu bilden, was bei dem gegenwärtigen schon zu spät ist? Man wird betrübt, wie wenig der Staat für die Menschen sorgt. Ihre Ruhe und Sicherheit ist doch nicht der einzige Zweck der Regierung.“31

Wie weit die Auffassungen über eine Modernisierung der Lebensverhältnisse auseinanderklaffen konnten, zeigt das Problem der medizinischen Versorgung.32 Während der Staat in bester Absicht auf die zunehmende Zahl der ausgebildeten Ärzte, Chirurgen und Apotheker setzte, blieben die Vorbehalte der Bevölkerung diesen gegenüber doch groß. Man suchte vielfach lieber Hilfe bei jenen, die aus der Sicht der Obrigkeit als „Quacksalber“ abqualifiziert wurden, weil ihnen die formale Ausbildung und Anerkennung fehlte. Die Schwellenangst und auch die Kosten waren bei solch einem „Bauernarzt“ einfach geringer. Boie setzte bei den entstehenden Konflikten, wenn die akademischen Ärzte darauf drangen, ihren unliebsamen Konkurrenten das Handwerk zu legen, so weit wie möglich auf ein geduldiges Vorgehen. Natürlich suchte auch er, die Gefahren durch falsche Therapien und giftige oder unwirksame Medikamente einzudämmen. Dennoch gab es für Boie eine Reihe von Grenzfällen, in denen die Heilkundigen allein durch ihre lange Tätigkeit über ein gewisses Maß an Erfahrung verfügten, so daß Boie es vorzog, sie unter entsprechender Kontrolle praktizieren zu lassen.

Charakteristisch für Boies Amtsführung insgesamt ist die Mischung aus aufklärerischen Idealen, die immer wieder hinter den offiziellen Stellungnahmen sichtbar werden, und seinem Pragmatismus. Er vertraute auf seine Menschenkenntnis und wählte, soweit möglich, nicht den einfachsten Weg, sich auf eine juristisch gefestigte Position zurückzuziehen. Wie früher, als er es noch mit Literaten zu tun hatte, setzte Boie auch als Landvogt auf den Kompromiß und auf die Überzeugung. Und das war sicherlich auch der klügste Weg, ging es bei vielen Vorhaben doch auch um Fragen der Mentalität und deren allmähliche Veränderung. Deutlich wird das beispielsweise bei so heiklen Dingen wie der Einführung eines neuen Gesangbuches 1784 oder der Änderung der Gottesdienstordnung 1797, die unter Boies Regie ohne größere Konflikte durchgeführt wurden.

Der Privatmann

Der Landvogt Boie stand als oberster Beamter33 im Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Gleiches gilt zweifelsohne auch für den Privatmann Boie. Eine Trennung zwischen Privatleben und Amt war schwer zu ziehen. Das eine durchdrang noch immer das andere, und der Privatmann Boie war – zumal in Meldorf – auch immer der Landvogt. Das hatte sich schon gleich nach der Ankunft in Meldorf erwiesen, denn Boie war mit knapp 37 Jahren noch unverheiratet – ein Umstand, der die Meldorfer Gesellschaft in eine rege Betriebsamkeit versetzte und die Gerüchteküche anheizte. Es sollte noch vier Jahre dauern, bis Boies langjährige Freundin Luise Mejer, die er bereits in Hannover kennengelernt hatte, als Frau Landvögtin ihren Einzug hielt.

Die Liebes- und Leidensgeschichte der beiden mit ihrem schnellen und tragischen Ende – Luise starb nach einem Jahr Ehe im ersten Kindbett – soll hier nicht noch einmal nachgezeichnet werden. Der veröffentlichte Briefwechsel gibt darüber eine umfassende Auskunft.34 Vielleicht nur einige Anmerkungen dazu, was mir für den Privatmann Boie interessant erscheint:

Die Briefe erweisen Boie als Partner seiner Frau. Für ihn ist Luise die gleichberechtigte Lebensgefährtin, mit der er die Einrichtung des Hauses ebenso detailliert diskutiert wie den Inhalt neuer Bücher oder seine Arbeit an den Manuskripten für das „Deutsche Museum“. Anders als später im 19. Jahrhundert, als der Handlungsspielraum der bürgerlichen Gattin immer mehr auf Kinder und Küche beschränkt wurde, derweil der Mann seinen Geschäften außerhalb des Hauses nachging, gab es am Ende des 18. Jahrhunderts einen gemeinsamen Bereich von Haushalt und Familie.

Letzteres wird deutlich in Boies zweiter Ehe mit Sara von Hugo, die er 1788 heiratete. In rascher Folge wurden sechs Kinder geboren, von denen zwei früh verstarben. Die Briefe, die Boie mit seiner Mutter, seinen Geschwistern oder seinem Schwager Voß in diesen Jahren wechselte, sind angefüllt mit Erziehungsfragen und den minutiösen Schilderungen der Fortschritte, die die Kinder machten, oder auch den Ängsten, die beispielsweise mit der Frage verbunden waren, ob und wann und bei welchem Arzt man denn eine Impfung gegen die Blattern vornehmen lassen sollte. Der stolze und besorgte Vater, der hier das Wort ergriff, war damals beileibe keine Selbstverständlichkeit. Die Briefe zeigen eine durch und durch „moderne“ bürgerliche Familie, wie sie damals im Entstehen begriffen war.

Boie war den „schönen Dingen“ zeit seines Lebens sehr zugetan. Er besaß Geschmack, er kannte sich aus mit Moden und den neuen Trends des Alltags und war dem Luxus im allgemeinen keineswegs abgeneigt. Das Problem war nur, daß sein Geldbeutel mit diesen Vorlieben keineswegs Schritt zu halten vermochte – das Geld reichte eigentlich nie. Die Folge war: Boie befand sich sein Leben lang in Geldverlegenheiten. Dies galt für den Studenten und Hofmeister ebenso wie Jahrzehnte später für den Landvogt Boie: „Warum bin ich nicht ein wenig reicher?“, klagte er noch 1796 seiner Mutter. „Es drückt mich allenthalben, Sie glauben nicht wie.“35 Sie wird es ihm sicherlich geglaubt haben, denn sie kannte die finanzielle Leichtlebigkeit ihres Sohnes zur Genüge. Das mangelnde Geld hielt ihn keineswegs davon ab, den kostspieligen Angewohnheiten seiner vielfach adeligen und großbürgerlichen Bekanntschaft nachzueifern und deren Lebensstandard zum Vorbild zu nehmen. Boie sammelte Bücher und Kupferstiche, er kleidete sich der letzten Mode entsprechend und trieb in Meldorf eine Haushaltsführung, die auf großem Fuße stand. Anläßlich der Erhebung einer außerordentlichen Kriegssteuer 1789 schrieb er nach Kopenhagen, er habe für Haus und Möblierung in Meldorf mehr als 10 000 Reichstaler bezahlt – Ausgaben, die er zwar nicht von seinem Gehalte habe bestreiten können, die aber nichtsdestoweniger unbedingt notwendig gewesen seien …

Seine zahlreichen Gäste in Meldorf wurden gut bewirtet – und manchmal auch sicher in Erstaunen versetzt, wenn es wieder etwas Neues gab, wie 1791, als bei einem Essen zu Ehren des neuen Propstes Hinrich Johann Voss erstmalig in Meldorf ein Speiseeis auf den Tisch kam. Boie selbst war den Freuden der Tafel alles andere als abgeneigt – über Wochen versuchte er über Luise ein bestimmtes Rezept für eine Rahmtorte aus Celle zu erhalten und war glücklich, als es endlich gelang. Für seine Gesundheit, abgesehen vom Leibesumfang, war dies eine prekäre Leidenschaft, denn Boie litt seit den 1780er Jahren an Gicht. Regelmäßig warfen ihn die schmerzhaften Anfälle der „Podagra“ auf das Krankenlager.

Auch sein großes Steckenpferd – der Garten – sprengte bei weitem den Rahmen eines bürgerlichen Haushaltes. Mit seinem Umzug nach Meldorf war Boie in eine Gegend geraten, deren Fruchtbarkeit zwar sprichwörtlich war, die aber keinesfalls den – vor allem literarisch vermittelten – Vorstellungen entsprach, die man sich damals von einer „schönen Landschaft“ machte. Diese fand man – um im Lande zu bleiben – viel eher in den Seen und Wäldern Ostholsteins und den entsprechenden idyllischen Stimmungen.36 Die ideale Landschaft war begrenzt, überschaubar und voller Abwechslung – den Reiz der Küste zu entdecken, sollte späteren Generationen vorbehalten bleiben. Umgeben von fetten Marschen und morschen Deichen, die das Meer – so jedenfalls Boies vorherrschendes Gefühl in den ersten Jahren – zu einer ständigen Bedrohung werden ließen, machte er sich daran, sein eigenes Paradies zu schaffen. Unermüdlich und mit großen Kosten legte er seit 1784 hinter seinem Haus in der Zingelstraße einen weitläufigen Garten an, der schließlich eine derartige Vielfalt an Pflanzen umfaßte, daß Boie 1802/3 mühelos den neuen Botanischen Garten in Kiel mit Pflanzenspenden zu unterstützen vermochte. Nein, die bürgerlichen Tugenden der Ökonomie und Sparsamkeit gehören wohl nicht zu den hervorstechendsten Eigenschaften Boies. In der Literatur über Meldorf und über Boie wird gerne der Eindruck erweckt, als hätten erst mit dem Erscheinen des neuen Landvogtes Kultur und Zivilisation hier ihren Einzug gehalten. Man tut damit den Meldorfern sicherlich Unrecht, denn sie wären bestimmt auch ohne Boie ganz gut zurechtgekommen.

Für ihn hingegen war die Umstellung groß. Boie liebte den Klatsch, das feinsinnige Gespräch, den Austausch mit Gleichgesinnten. Das setzte jedoch schon eine bestimmte Größe der Gesellschaft voraus – eine Bedingung, die Meldorf sicher nicht erfüllte. Da genügte wohl auch jemand wie Carsten Niebuhr, mit dem Boie eine intensive Freundschaft pflegte, auf die Dauer nicht.

Der Wunsch nach Kommunikation und die Schwierigkeit, sich diesen Wunsch zu erfüllen, blieben für Boie, trotz erfolgreicher Arbeit und intensiven Familienlebens, ein Problem. Dies kommt immer wieder in seiner Begeisterung zum Ausdruck, wenn doch einmal wieder eine Reise bevorstand, nach Eutin, Hamburg oder eine der Kurreisen nach Pyrmont, die Boie zwischen 1774 und 1804 in regel-mäßigen Abständen unternahm.37 Hier, in der mondänen Umgebung eines Modebades, fand er die Atmosphäre, nach der er sich sehnte. Seine Befürchtungen, in Meldorf von allen Verbindungen abgeschnitten zu sein, verstärkten sich noch, als das „Neue Deutsche Museum“ eingestellt wurde. „Es ist mir zu sehr daran gelegen“, schrieb Boie im Januar 1792 an Gerhard Anton von Halem, „durch den Tod des Museums nicht alle meine litterarischen Verbindungen zerrissen zu sehen. Ich lebe in einem Winkel, wo ich nichts erfahre, als was die Zeitungen der ganzen Welt sagen, und nichts lese, als was Niebuhr und ich selbst besitzen.“38

Die letzten Lebensjahre nach der Jahrhundertwende waren durch Krankheit gezeichnet, und mehrfach war er offenbar nahe daran, sein Amt aufzugeben.

Doch Boie blieb und versuchte als Landvogt – seit 1802 übrigens in Uniform – der neuen Aufgaben Herr zu werden, die die Napoleonischen Kriege auch für Dithmarschen mit sich brachten: Einquartierungen, neue Steuern und die Aushebung von Soldaten verursachten dabei mehr als genug Arbeit.

Im Sommer 1805 riß ein Schlaganfall Boie aus seinen Amtsgeschäften. Er starb nach einem mehrmonatigen Krankenlager am 25. Februar 1806.

Die 25 Jahre, die Heinrich Christian Boie als Landvogt in Süderdithmarschen wirkte, verbinden zwei Epochen: Als er sein Amt antrat, war die Französische Revolution noch in weiter Ferne. Als Boie starb, hatte Napoleon sich zum Kaiser gekrönt, und nicht nur die Anordnung, der Landvogt habe eine Uniform zu tragen, deutete an, daß das 19. Jahrhundert begonnen hatte.

Spuren von Boie finden sich heute in Meldorf keine mehr. Sein Grab lag noch auf dem alten Friedhof an der Kirche und wurde eingeebnet. Haus und Garten an der Zingelstraße mußten 1890/91 dem Bau des Rathauses weichen.

Frank Trende

Schleswig und Holstein zur Goethezeit

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) hatte kein schönes Bild von den Herzogtümern nördlich der Elbe: Die Adelssitze, die noch heute als repräsentative Monumente schleswig-holsteinischer Adelskultur beeindrucken, waren für den Weimarer Dichter lediglich „Sumpf- und Wassernester“.1 Einladungen in den Norden, etwa nach Emkendorf und nach Eutin, schlug er aus.

Politisch, wirtschaftlich und kulturell gesehen waren die Jahre, die als Goethezeit bezeichnet werden, für die Herzogtümer Schleswig und Holstein fast schon ein „Goldenes Zeitalter“. Zwischen dem Vertrag von Zarskoje Selo 1773 und dem 1830 veröffentlichten Appell des Sylter Landvogts Uwe Jens Lornsen (1793-1838) für eine Trennung der Verwaltung von der dänischen Krone liegen sechs Jahrzehnte, in denen Handel und Wandel ebenso wie Wissenschaften und Künste florierten.

I. Schleswig und Holstein werden Teil des Gesamtstaates

Seit der Wahl von Ripen 1460 stellte das Haus der Oldenburger nicht nur den König von Dänemark, sondern auch den Landesherrn von Schleswig und Holstein. Mit dem Privileg von Ripen war neben dieser Personalunion auch festgelegt worden, dass Schleswig und Holstein für alle Zeiten zusammenbleiben und nicht unter mehrere Angehörige des Herrscherhauses aufgeteilt werden sollten. Dieses Versprechen wurde nicht eingehalten. Am folgenschwersten war die Landesteilung von 1544: Der dänische König Christian III. (1503-1559) entschädigte zwei seiner jüngeren Halbbrüder, indem er beide Herzogtümer mit ihnen teilte, und zwar so, dass der Besitz der Landesherrn gleichmäßig über Schleswig und Holstein verteilt war. Die Landesherrn waren gezwungen, gemeinsam zu regieren. Die Landkarte Schleswigs und Holsteins allerdings wurde zum unübersichtlichen Flickenteppich (Abb. 1). Durch weitere Erbteilungen im 16. und 17. Jahrhundert entstanden winzige Staaten der Herzöge von Sonderburg und Norburg auf Alsen, der Herzöge von Aerö, Glücksburg und Plön. In der Folge des Großen Nordischen Krieges, in dem Dänemark und Russland versuchten, Schwedens Einfluss in Nordeuropa zu schmälern, stand der Gottorfer Herzog auf der Seite der Schweden. Diese unterlagen allerdings 1720 und konnten Gottorf nicht mehr unterstützen. Die Gottorfer verloren ihre Besitzungen in Schleswig, einschließlich Schloss Gottorf, an den dänischen König. Der Staat der Gottorfer war nur noch ein kleines zerstückeltes Territorium in Holstein. Die Gottorfer wollten sich mit dieser Situation nicht abfinden und suchten eine neue Schutzmacht. Herzog Carl Friedrich (1700-1739) heiratete die ältere Tochter Zar Peters des Großen. Diesem Paar wurde 1728 ein Kind geboren. Dieses Kind wurde 1742 von der unverheirateten Zarin Elisabeth, der jüngeren Tochter Peters der Großen, zum russischen Thronfolger ernannt; aus dem Gottorfer Herzog Carl Peter Ulrich (1728-1762) war ein russischer Großfürst geworden. Er heiratete 1745 die Prinzessin Sophie Friederike von Anhalt-Zerbst (1729-1796). Nach dem Tod der Zarin Elisabeth 1762 bestieg der Kieler Carl Peter Ulrich als Peter III. den Zarenthron. Sogleich bereitete er einen Feldzug gegen Dänemark vor, um sich die 1720 für die Gottorfer verlorenen Territorien wieder zu holen. Zu einem Krieg kam es aber nicht mehr, denn Peter III. blieb gerade einmal sechs Monate Zar. Seine Frau hatte mit anderen seinen Sturz betrieben, schließlich wurde er ermordet, und bis heute ist ungeklärt, wer hinter der Gewalttat steckte. Seine Frau freilich bestieg als Katharina II. den Zarenthron. Sie sollte als Katharina die Große in die Geschichte eingehen. Den geplanten Feldzug gegen Dänemark wegen Schleswig und Holstein brach sie sogleich ab. An ihrem Hof wirkte ab 1761 der Diplomat Caspar von Saldern (1711-1786), Herr auf dem Gut Schierensee am Westensee (Abb. 2). Er vermittelte einen Gebietstausch, durch den im Ergebnis Russland auf seinen Anspruch auf den Gottorfer Anteil von Schleswig ebenso verzichtete wie auf den Besitz in Holstein. Auch der gemeinschaftlich regierte Teil Holsteins fiel nun ganz an den dänischen König. Dänemark musste sich im Gegenzug von den vom dänischen König in Personalunion regierten Grafschaften Oldenburg und Delmenhorst im heutigen Niedersachsen trennen. Festgeschrieben wurde dies in dem Vertrag von Zarskoje Selo 1773 (Abb. 3). Schleswig und Holstein sind nach diesem Gebietstausch unter einem Landesherrn, dem dänischen König, vereint und bilden einen Teil des dänischen Gesamtstaates, zu dem bis 1814 auch Norwegen gehörte.

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Abb. 1. Politische Landkarte als Flickenteppich: Die Herzogtümer Schleswig und Holstein im Jahr 1622. Karte von Erwin Raeth

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Abb. 2. Caspar von Saldern (1711-1786) vermittelte als Diplomat den Vertrag von Zarskoje Selo. Gemälde von Vigilius Erichsen. Günther Fielmann Stiftung Schierensee

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Abb. 3. Der Tauschvertrag von Juni 1773 u. a. mit der Unterschrift Salderns. Reichsarchiv Kopenhagen

II. Verkoppelung und Agrarreform