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Im Braunen Saal des Herrenhauses Rantzau. Federzeichnung von Friedrich Nerly, 1823. – Am Tisch vorn Carl Friedrich von Rumohr, Julia Gräfin Baudissin, Auguste von Witzleben und Wolf Graf Baudissin, im Hintergrund Otto Graf Baudissin

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Aus Anlaß des 65. Geburtstags von Dieter Lohmeier herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Heinrich Detering

Emkendorf von der Gartenseite. Nach einer Lithographie von Adolf Hornemann, 1850

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www.buecher-von-boyens.de

Der Edelmann als Bürger

Über die Verbürgerlichung der Adelskultur im dänischen Gesamtstaat

Christian Degn in memoriam

Der Adel als die führende Schicht der europäischen Gesellschaft im späten Mittelalter gerät am Beginn der Frühen Neuzeit in einen Wandlungsprozeß, der teils Symptom, teils Folge der ‚allgemeinen Krise‘ in Europa1 ist. In Staat, Wirtschaftsleben und Bildungswesen sieht er die Grundlagen seiner traditionellen gesellschaftlichen Rolle in Frage gestellt und tiefgreifend verändert. Fast überall in Europa ist die Adelskultur des Barockzeitalters, trotz aller scheinbar selbstbewußten Prachtentfaltung, von dieser Krise geprägt. Für den französischen Bereich hat das besonders Norbert Elias ins Bewußtsein gerückt,2 für den süddeutsch-österreichischen Otto Brunner,3 und für den nordeuropäischen hat ein Kieler Kolloquium aufschlußreiche Belege geliefert.4

Um die Wende zum 18. Jahrhundert scheint diese Krise überwunden zu sein: Mit der Stabilisierung des Absolutismus stabilisiert sich allem Anschein nach auch die Situation des Adels von neuem, obgleich in den verschiedenen Staaten mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Während die führenden Familien in Frankreich ganz in der repräsentativen Existenzform des Hofadels aufgehen und während ihnen in den katholischen Teilen des Alten Reichs weiterhin die Möglichkeit bleibt, sich in den geistlichen Fürstentümern neben den weltlichen Souveränen zu behaupten, passen sie sich in den norddeutsch-protestantischen Ländern den Verhältnissen so weit an, daß sie imstande sind, die ihnen unter gewandelten Bedingungen gebotenen Möglichkeiten zu nutzen. Eine dieser Möglichkeiten ist es, im fürstlichen Dienst – vorzugsweise in fremden Territorien – als Beamter Karriere zu machen. Da nun der protestantische Adel in Deutschland wie auch in Dänemark und Schweden seine Bildungsideale schon früh dieser Entwicklung anpaßt,5 seine Söhne in immer größerer Zahl auf die Universitäten schickt und sie anschließend in den Regierungsbehörden und im diplomatischen Dienst lernen läßt,6 kommt es zur Ausbildung eines neuen Dienstadels, der imstande ist, die Gelehrten Räte und Verwaltungsfachleute bürgerlicher Herkunft aus ihren Positionen zu verdrängen,7 und der den Staatswesen des Aufgeklärten Absolutismus das Gepräge gibt. Gleichzeitig mit dieser Entwicklung vollzieht sich ein wirtschaftlicher Strukturwandel, der dem Adel erhöhte Einnahmen aus seinem Landbesitz sichern soll: Die Grundherrschaft wird, vor allem in den ehemaligen Kolonisationsgebieten nördlich und östlich der Elbe, zur Gutsherrschaft mit erhöhter Eigenwirtschaft des Großgrundbesitzers und verschärfter Abhängigkeit der Gutsuntergehörigen. Und wie sich manche Söhne des Adels gezielt auf eine Beamtenlaufbahn vorbereiten, so spezialisieren sich andere in zunehmendem Maße zu Landwirten. Nicht selten scheinen dabei die verschiedenen Rollen in der Familie mehr oder minder planmäßig verteilt worden zu sein, so daß dem Stand oder der Familie an Vielseitigkeit erhalten blieb, was dem einzelnen Adligen durch die zunehmende Arbeitsteiligkeit und berufliche Spezialisierung entzogen wurde. Das Ergebnis dieser Entwicklungen des 18. Jahrhunderts ist eine letzte Blüte der Adelskultur, in der sich das alte Europa noch einmal von seiner kultiviertesten Seite zeigt, ehe es in den Napoleonischen Kriegen, den Nationalitätenkämpfen und der industriellen Revolution untergeht.

Die Eigenart dieser Blütezeit der Adelskultur läßt sich besonders gut am Beispiel des dänischen Gesamtstaates zeigen. Dieser war in mancher Hinsicht eine idealtypische Verkörperung des Aufgeklärten Absolutismus:8 ein übernationales Gebilde, in dem Dänemark, Norwegen, Island, Schleswig und Holstein in der Person des Monarchen zusammengehalten wurden, ohne staatsrechtlich eine Einheit zu bilden, und ein Staatswesen, in dem sich seit der Etablierung und verfassungsmäßigen Absicherung des Absolutismus ein starkes Beamtentum gebildet hatte, dessen adelige Spitze unter den schwachen Königen Friedrich V. und Christian VII. praktisch das Regiment führte. Man kann hier durchaus von einem „Beamtenabsolutismus“9 sprechen, der während des kurzen Regiments des bürgerlichen Aufklärers Johann Friedrich Struensee in den Jahren 1770 bis 1772 sogar eine ausgesprochen ‚josefinische‘ Phase durchlief.10 Nicht zuletzt herrschten im dänischen Gesamtstaat wirtschaftliche Verhältnisse, wie sie allgemein die Bedingung für die Ausbildung des aufgeklärten Absolutismus gewesen zu scheinen:11 Der Staatsverband umfaßte durchweg Gebiete mit überwiegend agrarischer Produktionsweise, und die Regierung suchte durch wirtschaftspolitische Maßnahmen aller Art den Anschluß an das moderne Wirtschaftsleben Englands und Frankreichs zu betreiben, ohne nachhaltige Erfolge zu erzielen. Eine mehr als achtzigjährige Friedenszeit nach dem Ende des großen Nordischen Krieges, ein erfolgreiches Engagement im Überseehandel und eine besonders günstige Agrarkonjunktur brachten jedoch dem ganzen Land, insbesondere aber dem Adel und den Großkaufleuten, einen Wohlstand, der allen Bereichen der materiellen Kultur zugute kam und die herrschenden Stilrichtungen sich ohne nennenswerte Beeinträchtigung entfalten ließ. Wegen des hohen Bildungsniveaus des im Gesamtstaat tonangebenden Adels gibt es zudem eine Fülle schriftlicher Quellen, die dem Historiker die Interpretation der stummen kulturellen Zeugnisse beträchtlich erleichtern. Durch eine lange Forschungstradition, als deren Begründer vor allem Aage Friis, Louis Bobé und Otto Brandt genannt werden müssen,12 sind diese Quellen so weit aufgearbeitet und erschlossen, daß sie, trotz aller nach wie vor möglichen und auch nötigen Ergänzungen, in ihren Grundzügen und Schwerpunkten zu überblicken sind. Aus allen diesen Gründen ist der dänische Gesamtstaat als Paradigma für die Erforschung der Adelskultur des späten 18. Jahrhunderts und damit eines wichtigen Aspekts der Kulturgeschichte des absolutistischen Zeitalters besonders gut geeignet. Südlich der Elbe scheint das jedoch nur wenig bekannt geworden zu sein.

Die folgenden Hinweise auf einige charakteristische Züge der Adelskultur des dänischen Gesamtstaats zielen deshalb über ihren speziellen Gegenstand hinaus auf allgemeine Erscheinungen der Kulturund Gesellschaftsgeschichte, insbesondere auf die für den Aufgeklärten Absolutismus bezeichnende „Verbürgerlichung des Adels“13 und damit auf den Prozeß der „Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert“.14 Dabei soll deutlich werden, wie sehr sich führende Kreise des Adels spezifisch bürgerliche Normen und Vorstellungen wie die Betonung der Werte des Privatlebens, das Bildungsstreben, das Leistungsdenken oder die Anerkennung des Konkurrenzprinzips im Wirtschaftsleben zu eigen gemacht haben und wie sehr diese Elemente durch ihre Einbettung in die soziale Wirklichkeit des Adels im späten 18. Jahrhundert und die Verquickung mit traditionell adligen Normen und Verhaltensmustern gebrochen und umgeformt werden. Eine Erklärung dieser Entwicklung geht über die Möglichkeiten dieses Aufsatzes hinaus; sein Zweck ist es, zunächst einmal ein bisher nur unbefriedigend geklärtes Problem zu umreißen.

Grundlage der Darstellung ist die reichhaltige Überlieferung gedruckter und ungedruckter Quellen aus dem Familienkreis der Bernstorff, Reventlow, Schimmelmann, Stolberg und Baudissin.15 Die Beobachtungen betreffen also eine im dänischen Gesamtstaat politisch und sozial einflußreiche Gruppe von Adligen und dürfen insofern als repräsentativ gelten. Allerdings ist zu bedenken, daß das Ergebnis der Untersuchung durch die naheliegende und letztlich auch unumgängliche Wahl der Materialbasis schon entscheidend vorgeprägt ist, denn das Bedürfnis nach brieflichem Gedankenaustausch und schriftlicher Selbstdarstellung ist bei weitem nicht im gesamten Adel so stark ausgeprägt wie gerade im Kreise der genannten Familien; es ist, recht besehen, selbst schon ein Ausdruck der Verbürgerlichung. Man wird folglich damit rechnen müssen, daß die im folgenden besprochenen Erscheinungen nicht für den ganzen Adel gelten, sondern allenfalls für die Gruppe des in generationenlanger Bildungstradition und Verwaltungstätigkeit zum Umgang mit der Feder erzogenen Dienstadels. Die Gegenprobe zu machen aber ist schwer, eben weil es an ähnlich beredten Zeugnissen aus anderen Gruppen des Adels fehlt.

Aus den Zeugnissen der Mitglieder des Bernstorff-Reventlowschen Kreises gewinnt man freilich den Eindruck, daß sie unter ihren Standesgenossen nicht isoliert gewesen sind, sondern sich, bei allem engen Zusammenhalt untereinander, in einem recht weiten Umfeld prinzipiell Gleichgesinnter bewegt haben; ihre Abwehrreaktionen gelten nicht so sehr andersdenkenden Adligen als vielmehr dem Gesellschafts- und Weltzustand, in dem zu leben sie sich genötigt sehen. Überhaupt muß man sich wohl vor einer Unterschätzung der weniger schreibfreudigen Adligen hüten, denn daß von ihnen nicht so zahlreiche literarische Selbstzeugnisse vorhanden sind, ist vermutlich in weit geringerem Maße eine Frage der Ausdrucksfähigkeit als eine der Ausdruckswilligkeit; das zeigt beispielsweise die Beschreibung eines Adelichen Guths in Holstein von Josias von Qualen16 oder der Briefwechsel eines so überzeugten Landjunkers wie Andreas Gottlieb von Bernstorff.17 Es ist daher ratsam, die Darstellungen unkultivierter Landadliger in Satire und Publizistik der Aufklärung nicht unbesehen für Abbilder der Wirklichkeit zu halten, wie das in der einschlägigen Forschungsliteratur gar zu oft geschieht. Das Musterexemplar des ungebildeten Krautjunkers, Johann Gottwerth Müllers Romanheld Siegfried von Lindenberg, soll zwar nach dem Bilde eines holsteinischen Adligen aus der Umgebung von Itzehoe gestaltet sein, aber das Subskribentenverzeichnis des Buchs zeigt, daß es in derselben Gegend auch eine beachtliche Zahl von Standesgenossen gab, die gemeinsam mit dem bürgerlichen Gebildeten über eine solche Figur lachen konnten.18 Die Mitglieder des Bernstorff-Reventlowschen Kreises, so darf man wohl aus diesen Überlegungen folgern, haben unter dem Adel des Gesamtstaats gewiß eine Sonderstellung eingenommen, sich aber im Grundsätzlichen nicht von ihren Standesgenossen unterschieden, so daß das über sie Gesagte trotz der Unsicherheit der Quellenlage nicht nur für sie allein gilt, sondern auch für weitere Kreise des Adels im dänischen Gesamtstaat.

Daß die Adelskultur des späten 18. Jahrhunderts durch eine Verbindung adliger und bürgerlicher Elemente gekennzeichnet ist, zeigt sich schon an der Zusammensetzung des Bernstorff-Reventlowschen Kreises, denn außer den Mitgliedern der untereinander verwandten Adelsfamilien gehören die bürgerlichen Dichter und Gebildeten hinzu: an erster Stelle Klopstock,19 in Emkendorf außerdem Matthias Claudius oder Friedrich Heinrich Jacobi, bei den dänischen Reventlows auf Christianssæde und Brahetrolleborg die ehemaligen Hauslehrer Carl Wendt20 und Johann Friedrich Oest21 und hier wie dort und in allen befreundeten Häusern der junge Jens Baggesen, alle halb Mentoren, halb Vorleser, in jedem Falle aber unentbehrlich. Wenn sie letztlich auch nicht gleichberechtigt waren, hatten diese Angehörigen des Bildungsbürgertums, die Nachkommen der ‚nobilitas literaria‘ des Späthumanismus, doch einen anderen Status als die übrigen Bürgerlichen, mit denen die Adligen privaten Umgang hatten. Kaufleute und Bankiers werden in den Quellen zwar recht häufig erwähnt, aber nur als Geschäftspartner, ohne alle Vertraulichkeit; die tüchtigen Gutsverwalter, auf die die Adligen in ihrer Wirtschaftsführung nicht minder angewiesen waren als auf die Kaufleute, kamen wohl in der ökonomischen Publizistik zu Wort, nicht aber in den Salons der Herrenhäuser, und auch die Baumeister und bildenden Künstler, die für die Adelskultur eine so wichtige Rolle spielten, blieben selbst dann außerhalb des engeren Kreises, wenn sie so fest an einzelne Familien gebunden waren wie der Architekt Carl Gottlob Horn22 und der Maler Giuseppe Anselmo Pellicia23 an die Erben des Schatzmeisters Schimmelmann. Erst mit Thorvaldsen gelangten auch die bildenden Künstler gesellschaftlich über den Handwerkerstatus hinaus und konnten sich der Aristokratie ähnlich weit annähern wie Klopstock und seinesgleichen schon ein bis zwei Generationen früher.

Geselligen Umgang von Adel und Bildungsbürgertum hatte es vorher höchstens als Ausnahme gegeben; am Ende des 18. Jahrhunderts wurde er allgemein häufiger, wie der Blick auf den Weimarer Hof, den Kreis von Münster oder den Freundeskreis Friedrich Heinrich Jacobis auf seinem Landsitz Pempelfort bei Düsseldorf zeigt. Doch war diese Annäherung im Gesamtstaat anscheinend weiter fortgeschritten als andernorts. Heinrich Christian Boie, damals im hannoverschen Staatsdienst stehend, schrieb jedenfalls 1780 von einer Reise aus Fritz Reventlows Haus in Kopenhagen: „Wie ganz was andres ist der dänische Adel als der unsrige! Ich muß mich ordentlich selbst daran erinnern, daß ich kein vornehmer Mann bin, so ganz auf dem Fuße der Gleichheit nimmt mich alles.“24 Auch Johann Gottwerth Müller schrieb um 1800, daß es in ganz Deutschland keinen Adel gebe, „der schicklicher wäre, wenn schicklich so viel heißen soll, als artig, gesittet, höflich, bescheiden gegen jedermann“; besonders günstig seien die Verhältnisse in Itzehoe (vermutlich, weil dort der militärische und zivile Dienstadel den Ton angab):25

„So kann man […] der einzige Bürger in mancher Gesellschaft von zwanzig oder dreyßig Adlichen seyn, und ein dazukommender Nobile von Wien, Wetzlar, Hannover u. s. w. wenn er auch die hochgebohrenste Nase hätte, würde, was andrer Orten so leicht ist, unmöglich den Unbevonten herausriechen können, wenn er keiner anderen Witterung folgt, als dem gegenseitigen Benehmen. […] Wer es auch sey, der (um aus mehreren hochachtungswürdigen Namen nur ein paar zum Beispiele zu nennen,) mit dem Grafen Friedrich zu Ranzau, oder mit der Baronesse von Meurer (gebohrnen Rumohr) nur wenige Minuten spricht, ohne den Reichsgrafen und Geheimen Rath, die Baronne und Kammerherrinn gleich zu vergessen, und nur die guten, menschenfreundlichen, edlen, würklich schätzbaren Menschen zu sehen und zu ehren, dem traue ich wenig Menschenkunde zu. Und gleichwohl giebt es unter Gottes Sonne vielleicht keine älteren Familien als die ihrigen.“

Der Grund für diese Haltung ist auf der Seite des Adels sicher darin zu suchen, daß er sich im Laufe mehrerer Generationen Normen zu eigen gemacht hat, die für die bürgerliche Gesellschaft konstitutiv sind.

Vergleicht man etwa die Grundrisse adliger Stadtpalais des 17. Jahrhunderts, wie Norbert Elias sie als „Anzeiger gesellschaftlicher Strukturen“ interpretiert hat,26 mit Grundrissen von Neubauten der Zeit um 1800 wie Heinrich Friedrich Baudissins Knoop (bei Kiel) oder Christian Detlev Reventlows Pederstrup (auf Lolland), so ist der Unterschied auffällig: dort die getrennten Suiten für die Dame und den Herrn des Hauses mit den Repräsentationsräumen als Verbindung, hier gemeinsame Wohnräume, in Knoop sogar ein gemeinsames Schlafzimmer, und der Wegfall spezieller Repräsentationsräume, breiter Treppen und ganzer Gästesuiten, wie sie in dem älteren Emkendorf noch vorhanden sind.27 Was sich in diesen Räumen abspielt, ist denn auch vielfach von bürgerlichem Familienleben schwer zu unterscheiden. Das zeigt sich besonders deutlich in den Briefen von Christian Detlev Reventlows Frau Friederike Charlotte an ihre Schwägerin Luise Stolberg, die unter dem bezeichnenden Titel En dansk Statsmands Hjem omkring Aar 1800 (etwa: Haus und Familie eines dänischen Staatsmanns um 1800) gedruckt sind.28 So schreibt die Gräfin 1790 aus ihrer Kopenhagener Stadtwohnung, auch dort habe die „häusliche Glückseligkeit“ ihren Platz und es komme ihr vor, als wohne sie auf dem Lande, so wenig merke sie vom Getümmel der Stadt:29

„Unsere Abende verbringen wir im Kreise unserer Kinder: mein Mann arbeitet an seinem Schreibtisch; im selben Zimmer wird getanzt, gezeichnet, geplaudert und gelesen, und wenn mein Mann sich einen Augenblick erholen will, tollt er mit den Kindern durchs Zimmer und stimmt in ihren freudigen Jubel ein. Wenn wir dann nach vollbrachtem Tagewerk, wenn die Kinder zur Ruhe gebracht sind, ein Stündchen zusammen sitzen und mein Mann, wie er es fast täglich tut, Gott dankt für das viele Gute, das er ihm erwiesen hat und das Gute, das er durch ihn geschehen läßt, – dann rinnen Tränen der Dankbarkeit und der Freude unsere Wangen herab.“

Solche Szenen wirken wie Genrebilder aus dem bürgerlichen Familienleben; der ganze Unterschied liegt darin, daß das abendliche Dankgebet auch der öffentlichen Wirksamkeit des Hausherrn gilt und daß statt bürgerlicher Erwerbstätigkeit Akten aufgearbeitet und dienstliche Briefe geschrieben werden:30

„Ich schreibe Dir an demselben Tisch, an dem mein Mann sitzt und, während er eine große Anzahl Briefe aus der Rentekammer unterschreibt, Christian, der ihm gegenüber sitzt, einen Brief diktiert. Benedikte [die Verlobte des Sohnes Christian] sitzt neben ihm und nimmt die unterschriebenen Briefe weg, Sophie wiederum neben ihr und näht, und ich schreibe Dir, gute, liebe Schwester, und wünsche, du säßest hier mitten unter uns.“

Freunde gehören natürlich mit in den privaten Kreis. Freundschaften überhaupt sind so wichtig, daß man schwerlich entscheiden kann, was für den engen Zusammenhalt des Bernstorff-Reventlowschen Kreises wichtiger ist: die familiären oder die freundschaftlichen Bindungen. Besonders die Briefe der jungen Julia Reventlow sind Ausdruck eines unstillbaren Freundschaftsbedürfnisses; Angelika Kauffmann hat sie daher auf ihrem Porträt treffend dadurch charakterisiert, „dass sie mit Lebhaftigkeit einem Freunde, Bruder oder Schwester mit ausgebreiteten Armen entgegenkommt“.31 So schreibt sie während der Gesandtentätigkeit ihres Mannes aus London an Christian und Luise Stolberg, wenn sie deren Briefe lese, strebe ihre ganze Seele, „die furchtbare Kluft der Trennung wegzuwälzen“:32

„Wahrlich wann dann meine ungestüme Sehnsucht, wieder zur leisen Wehmuth wird, und ich auf den Schwingen meiner Phantasey in Eurer Mitte Ihr innig Geliebten mich niederlasse – O dann ist es mir als träte ich in einer andern Welt hinüber – wo schon vorschmack des Himmels mir wird, da leben alle Nächsten im reinsten Einklang zusammen – – und keine SphärenMusik tönte je so schön so lauter wie die Harmonie gleichgestimter Herzen. Oft reden wir mit einen heiligen enthusiasmus von unsern geliebten Zirkel, und wann wir aus diesen süsen Träumen erwachen finden wir in eine Wüste uns wieder.“

Der letzte Satz bezieht sich unmittelbar auf die räumliche Trennung von den Freunden und die gesellschaftlichen Verpflichtungen des Diplomatenstandes, gilt aber auch in einem umfassenderen Sinne, denn Julia Reventlow ist sich bewußt, daß ihre „SeelenHeymath“33 nicht von dieser Welt ist:34

„Auch die schönsten Ideale verschwinden im anngesicht der Würklichkeit, und machen das Herz nur noch schwerer! – es giebt keine Insel keine geweihte RuheStädte für das kleine Häuflein der Innigverbundnen, erst jenseits vom Grabe geht ihnen die MorgenRöthe des ungetrennten Zusammenseyns auf – es ist ein unaussprechlich schwermüthiges Gefühl daß wir hier nur flüchtige Stunden der Wonne der Freundschaft geniessen – mit einem Tröpfchen dieses himmlischen Nektars unsern heissen Durst stillen müssen.“

Ob man den Freundeskreis, wie Julia Reventlow, als eine kleine verfolgte Gemeinde, eine Art ‚ecclesia pressa‘, versteht, oder, wie Friederike Charlotte Reventlow, als Rückzugsgebiet des Goldenen Zeitalters35 – beides verrät ein problematisches Verhältnis zwischen Innerlichkeit und gesellschaftlicher Wirklichkeit.

Der angemessene Rahmen für Familie und Freundschaft ist, wie im späten 18. Jahrhundert nicht anders zu erwarten, die Natur, womit zumeist das sommerliche Leben auf dem Landgut gemeint ist, über dem fast immer ein Hauch von antikischer Verklärung und agrarreformerischem Enthusiasmus liegt.36 Nach einem solchen Sommeraufenthalt schreibt Friederike Charlotte Reventlow: „Ich habe Lolland verlassen, wie man eigentlich dieses Leben verlassen sollte, mit dem innigsten Gefühl von Dankbarkeit für alle die Freuden, die wir dort genossen haben, – Freuden, die der reinen Quelle der Natur, der Freundschaft und der häuslichen Glückseligkeit entsprangen“.37

Natur, Freundschaft, Familienglück – diesem reinen Dreiklang des privaten Lebens steht die Residenzstadt Kopenhagen als Ort des Getümmels und der Dissonanzen gegenüber. Dieses uralte Argumentationsmuster38 findet in einem Brief Julia Reventlows einen extrem scharfen Ausdruck: „So wie LandGenuß Einfalt und Ruhe – zwischen Himmel und Erde vielleicht nur eine sehr dünne Scheidewand lassen – so ist ein solches StadtLeben mit allen seinen Geräusch Thorheiten Verblendung und Schmäsucht gewiß ein wahrer LehrStand für die Hölle.“39 Ähnlich scharf formuliert Friedrich Leopold Stolberg in seinem Aufsatz Über die Fülle des Herzens (1777), bezeichnenderweise in einer Situation, in der die Natur auch in der Stadt als gegenwärtig, aber unerreichbar erfahren wird wie auf den Fensterbildern der Romantiker,40 wenn nämlich Stolberg „um Mitternacht, nach getragner Last und Hitze des Stadtzwangs“ sein Fenster öffnet und zum Himmel aufblickt:41

„In solchen Augenblicken fühlt sich wieder in allen ihren Kräften und Unsterblichkeiten die ganze Seele, das wahre beßre Ich; denn die Larve, die man mit sich herumschleppt in dem Taumel der Welt, umtönt von den Schellen der Thorheit, gähnend und angegähnt, o, wem ist sie nicht in Stunden des Selbstgefühls bis zum Anspeien verhaßt!“

Man muß die biblischen Metaphern zurückübersetzen in die gesellschaftliche Realität, in der der Kammerherr Stolberg in Kopenhagen lebt, um recht zu würdigen, was hier geschieht: Während in derselben Generation der Bürgersohn Wilhelm Meister in der Theaterlaufbahn einen Ersatz sucht für die ihm unerreichbare Existenz des Adligen, der als „öffentliche Person“ seine soziale Rolle vollkommen ausfüllt, wenn er ganz nach außen gewandt lebt,42 können Stolberg und seine Freunde der Repräsentation, die einmal die selbstverständliche Aufgabe des Adels in der höfischen Gesellschaft war, nichts mehr abgewinnen; die unauflösliche Einheit von Wesen, Erscheinung und Selbstdarstellung, um die Wilhelm Meister ihresgleichen beneidet, ist für sie auseinandergefallen in eine maskenhafte Rollenexistenz und ein nur im privaten Kreise oder in der Natur zu verwirklichendes „beßres Ich“. So heißt es in einem Brief Friederike Charlotte Reventlows vom November 1782, vor Beginn der gesellschaftlichen Saison und während der Hoftrauer um eine Großtante des Königs:43

„Vom Hof und den großen Gesellschaften leben wir in behaglicher Absonderung. Jetzt wird bei der Leiche gewacht; […] man spricht von nichts anderem als von der Prozession; ich wünsche gutes Wetter dazu und daß es schon vorbei wäre. Noch haben die Assembléen nicht begonnen; man verspricht uns jeden Tag eine: Dienstag bei Schack, Mittwoch bei Moltke, Donnerstag Souper bei Frau Desmercières, Freitag bei Baronin Juel-Wind, Sonnabend Konzert, – ist das nicht herrlich! Ich werde mich oft entschuldigen. Ich sehne mich sehr nach Ludwig und Sibylle“ [d. h. nach Schwager und Schwägerin auf Brahetrolleborg].

Dieselbe Haltung findet sich ein paar Tage später auch in einem Brief des Grafen, nur daß er im Kontrast mit den gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht die Freundschaft mit Bruder und Schwägerin heraufbeschwört, sondern die mit Ernst Schimmelmann und seiner Frau:44

„Montag beschließe ich die Reihe sechsspänniger Wagen im Leichengefolge der Prinzessin; man zeigt sie jeden Tag vor, um das Volk zufriedenzustellen und sich über seine Neugier zu vergnügen. Es vergeht kein Tag, an dem Ernst und Charlotte nicht mit uns zusammen sind; wir sind ganz nur füreinander.“

Man könnte den letzten Satz auch anders lesen, ohne ihm Gewalt anzutun: „nur füreinander sind wir ganz“. Die repräsentative Existenz ist bloßer Schein, hohle Maske, als leidige Pflicht mit Widerwillen getragen.

Besonders weit ging die Annäherung an Verhaltensweisen des gebildeten Bürgertums offenbar bei Friedrich Leopold Stolberg und seinen Geschwistern; bei ihnen kam es aus diesem Grunde sogar zu Konflikten mit dem traditionellen Rollenverhalten. Andreas Peter Bernstorff sah daher in der literarischen Tätigkeit seiner Schwäger Pflichtvergessenheit: „er sagt, sie lebten nicht in der wirklichen Welt, mit ihren Übersetzungen nützten sie wenig Menschen.“45 Auguste Stolberg aber fühlte sich in ihrer Ehe mit Bernstorff „so unglücklich, in der großen Welt zu leben, und weniger studieren zu können, daß sie ihren Mann und die Kinder betrübt“.46 Heinrich Christian Boie wußte seiner Freundin Luise Mejer denn auch zu berichten, daß man in Kopenhagen über Bernstorffs „häusliches Leben und sein Zurückziehen von jeder Gesellschaft als der, worin er lebt“, klage, und er fügte hinzu: „Hätte die gute Gräfin Auguste doch nur ein wenig mehr Toleranz und Klugheit, sich in die Umstände zu schicken! Auch der Geschmack fürs Gute darf, dünkt mich, so ausschließend nicht sein, daß er beleidige.“47 In ihrem Antwortbrief gab Luise Mejer ihrer Sorge vor allem um die nächste Generation Ausdruck:48

„Wüßtest Du wie ich, wie unglücklich jedes Bernstorffische Kind durch die Furcht ist, sie könnten die Stolberge nicht erreichen, und wie sie beten und ringen und kämpfen, um ihren Geist zu erlangen, Du würdest trauren wie ich. Das Flämmchen Gefühl, was ruhig fortlodern würde, erlischt durch die hohe unerreichbare Flamme.“

Die Bemerkungen Boies und seiner Freundin sind besonders aufschlußreich, weil hier zwei Menschen sprechen, für die Gefühl, häusliches Leben und Bildung unumstritten positive Werte sind und die die Stolbergs und Bernstorffs eben wegen ihres „Geschmacks fürs Gute“ lieben und bewundern. Wenn schon sie als Bürger die nachteiligen Folgen dieser Tugenden bemerkten, um wie viel stärker müssen diese den adligen Standesgenossen ins Auge gefallen sein, selbst wenn sie grundsätzlich dieselben Bestrebungen teilten.

Die Stolbergs haben sich über die Tragweite des Rollenkonflikts möglicherweise dadurch hinwegtäuschen können, daß sie glaubten, nur gegen die Spielregeln der repräsentativen Öffentlichkeit des Hofs und der guten Gesellschaft zu verstoßen und dies auch ungestraft tun zu können, weil für sie und andere Gebildete die Höherwertigkeit des privaten Normensystems unzweifelhaft feststand. Die rhetorisch effektvollen Gegenüberstellungen von Land und Stadt, privatem Glück und höfischem Zwang ignorierten jedoch zumeist, daß das eigentliche Problem der Staatsdienst war, dessen Anforderungen denen des Privatlebens entgegenstanden. Er konnte nicht so einfach abgetan werden wie die Repräsentation. Wenn Andreas Peter Bernstorff seinen Schwägern vorwarf, daß sie mit ihren Übersetzungen aus dem Griechischen nur wenigen Menschen nützten, dann urteilte er von einem Normensystem her, demzufolge der Adel seine Ansprüche auf Privilegien damit rechtfertigte, daß er unter Hintansetzung seiner Privatinteressen zum Dienst am Staatsganzen verpflichtet sei.49 Daß sich zwischen Staatsdienst und Privatheit jedoch ein Konflikt entwickelt hatte, der tiefer reichte, als daß er einfach mit väterlichen Ermahnungen zu lösen gewesen wäre, ergibt sich aus Beobachtungen des Diplomaten Johann Georg Rist, eines klugen, erfahrenen und abgewogen urteilenden Zeitgenossen. Er schreibt über seinen Vorgesetzten, den dänischen Außenminister Christian Bernstorff – eines der von Luise Mejer mit Sorge beobachteten „Bernstorffischen Kinder“ –, er sei „zu glücklich organisiert, zu reich von Innerm zum vollkommenen Staatsmann“ gewesen, und begründet das dann mit allgemeinen, über den Einzelfall hinausgreifenden Erwägungen:50

„Die stete Verfolgung gewisser Zwecke im äußern Leben verträgt sich nicht wohl mit einer Zartheit und Reinheit, die viel lieber den Zweck aufgeben, als in seiner Erreichung ein höheres Gefühl verletzen würde, noch mit einem moralischen Ekel vor der Klasse von Menschen, die gerade darum die tauglichsten Werkzeuge sind, weil sie weniger innere Würde haben. So ist es Vielen und den Trefflichsten in neueren Zeiten ergangen, wo unstreitig die innere Welt im Menschen sich mehr ausgebildet hat; es ist eine von den Ursachen, weshalb wir weniger von jenen klugen und vollendeten Staatsmännern gesehen haben, wie es deren sonst manche gegeben, die ihre Persönlichkeit der zu spielenden Rolle ganz unterzuordnen gewohnt waren, und mit fremder Persönlichkeit eben daher um so leichteres Spiel hatten.“

Es dürfte sich lohnen, nicht nur eine Gestalt wie Christian Bernstorff, sondern auch die problematische, letztlich erfolglose politische Wirksamkeit so kultivierter Persönlichkeiten wie Cay Reventlow und Ernst Schimmelmann einmal in der von Rist skizzierten Perspektive zu betrachten. Gerade das Beispiel des jüngeren Schimmelmann, der – nach Rists Worten – „viel mehr durch glücklichen geistigen Blick, durch edle Uneigennützigkeit und kindlich reine Liebe zum Schönen und Großen, als durch einfache Klarheit, festen Willen und scharfes Urteil ausgezeichnet, im einzelnen stets gefördert was er im ganzen verfehlte,“51 könnte deutlich machen, daß der Konflikt unlösbar war, solange diese Adligen nach wie vor zur Übernahme der höchsten Staatsämter teils verpflichtet, teils berechtigt zu sein glaubten. Daß Andreas Peter Bernstorff von den Zeitgenossen und Nachgeborenen so uneingeschränkt verehrt wurde, lag wohl nicht zuletzt darin begründet, daß er das schwierige Kunststück fertigbrachte, seine politische Rolle mit Erfolg auszufüllen, ohne seiner seelischen „Zartheit und Reinheit“ etwas zu vergeben.52

Mit der bisher beschriebenen Aufwertung der „inneren Welt im Menschen“ auf Kosten der sozialen Funktion geht eine Neubestimmung der Rolle des Adels einher. Das militärische Element, das im 17. Jahrhundert noch einen zentralen Platz im adligen Selbstbewußtsein einnimmt, verschwindet daraus wie die Rüstungen von den Adelsporträts, obwohl der Militärdienst für die jüngeren Söhne besonders der weniger reichen Familien nach wie vor eine Lebensnotwendigkeit bleibt. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts, am Ende des großen Nordischen Krieges, läßt Johann Rudolph von Ahlefeldt auf Damp die Decke in der Halle seines Herrenhauses nicht mit Wappen und Trophäen verzieren, sondern mit einer Schar waghalsig stuckierter Musikantinnen und einer Friedensgöttin mit der Devise „Musarum nutrix pax optima est rerum“ (Der Friede, der die Künste nährt, ist das Beste aller Dinge).53 Vom doppelten Erziehungsideal, das das 16. und 17. Jahrhundert mit der Formel „Arte et Marte“ bezeichnen, bleibt nur noch die Bildung übrig. Ein Höhepunkt adliger Reisen war im Barockzeitalter die Teilnahme an einer berühmten Belagerung; jetzt tritt an deren Stelle ein Aufenthalt in Rom oder die persönliche Bekanntschaft mit Charles Bonnet, Herder, Goethe und anderen Größen des Geisteslebens. Jetzt erst entstehen in Schleswig-Holstein Adelsbibliotheken in größerer Zahl – Büchersammlungen im übrigen, die sich bei weitem nicht mehr so deutlich von denen eines Herder oder Wieland unterscheiden wie die Adelsbibliotheken des 17. Jahrhunderts von den gleichzeitigen Gelehrtenbibliotheken.

Wie bei den Bürgern des 18. Jahrhunderts ist auch bei den Adligen der Gedanke an Bildung und Erziehung aufs engste mit dem Leistungsprinzip verknüpft. So schreibt Friederike Charlotte Reventlow ihrer Schwägerin:54

„Eine gute Erziehung ist alles, was wir unsern jüngeren Kindern geben können; aber was ist alles andere ohne diese? Ich hoffe zu Gott, daß sie einmal nützliche und glückliche Menschen werden, in welcher Lebensstellung es auch sei. Diese letztere ist mir gleichgültig, und ich gestehe, es wäre mir lieber, einen Sohn zu haben, der ein verdienter Arzt, Geistlicher oder Negoziant wäre, als wenn er ein höfischer Nichtstuer oder ein anderes unnützes Mitglied des Menschengeschlechts wäre. Worth makes the man, and want of it the fellow usw., darin stimme ich ganz mit den Engländern überein.“

Ob die Gräfin wirklich einen Sohn in die Kaufmannslehre gegeben hätte (sofern dieser überhaupt auf einen solchen Gedanken gekommen wäre), sei dahingestellt, weil es hier zunächst nur um die Normen geht, an denen sich die Adligen bewußt orientieren. Da zeigt sich nun, daß Friederike Charlotte Reventlow eine enge, wenn auch nicht ausformulierte Verbindung zwischen Berufsausbildung und Verdienst voraussetzt, die im traditionellen Normensystem des Adels keinen Platz hat, weil dort die angeborenen, in der Familie vererbten Qualitäten dem Individuum seinen Rang sichern sollen; die Gedankenverbindung ist vielmehr im bürgerlichen Denken zu Hause, wo das durch Ausbildung ermöglichte und durch individuelle Leistung erworbene Verdienst gegen das Privilegiensystem der ständischen Gesellschaftsordnung ins Feld geführt wird und den Anspruch des Bürgers auf sozialen Aufstieg legitimieren soll. Genau dieser Begriff von ‚Verdienst‘ liegt den Worten der Gräfin Reventlow zugrunde, und nicht die Vorstellung eines imaginären Vorrats historischer Verdienste des einzelnen Geschlechts oder des ganzen Standes, die auch damals noch in der Apologie der adligen Privilegien eine Rolle spielte.55

Bürgerliches Denken zeigt sich aber nicht nur in den Äußerungen der Adligen über ihr individuelles oder ‚privates‘ Verhalten, sondern greift auch auf die öffentlichen Belange, insbesondere auf die Wirtschaftsweise über. Das zeigt sich beispielsweise in der Diskussion über Agrarreform und Leibeigenschaft. Bedenkt man die absolutistische Staatstheorie, wie sie bei Thomas Hobbes formuliert ist,56 so läßt sich das Bemühen, den Bauern in Dänemark und den Herzogtümern persönliche Freiheit und Eigentum zu verschaffen, als Bestreben interpretieren, auch sie zu Bürgern zu machen, weil „Freiheit und Eigentum in einem souveränen [d. h. absolutistisch regierten] Lande die einzigen Schutzwehren der Particuliers sind“. So formulierte es 1769 ein (bürgerliches) Mitglied der Kopenhagener General-Landwesenskommission,57 durchaus im Sinne von Hobbes. Wichtiger als dieses Argument aber war ein anderes, das Hans Rantzau auf Ascheberg, der holsteinische Wegbereiter der Agrarreformen formulierte: Er sah den entscheidenden Mangel des gutswirtschaftlichen Systems darin, daß auf seiten der leibeigenen Bauer „der Eigennutz, diese starke und fast allgemeine Triebfeder der menschlichen Handlungen, welche sonst alles in Bewegung setzt, und alle Stände belebet“, nicht beteiligt sei; deshalb komme es darauf an, den Bauer „durch die ihm vorgestellten Vortheile […] auf seinen Privat-Nutzen aufmerksam, und eben dadurch zur Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt willig zu machen.“58 Angesichts solcher anthropologischer und ökonomischer Prinzipien meint man, einen Christian Wolff, einen Gottsched oder einen der Autoren der Hamburger Moralischen Wochenschrift Der Patriot reden zu hören,59 nicht aber einen Angehörigen des alten Adels, zu dessen Tugendkanon als etwas ihm Eigenes die Großmütigkeit (lateinisch: ‚magnanimitas‘, französisch: ‚générosité‘) gehörte, eine Tugend, deren Wesen darin bestand, unter Hintansetzung des „Privat-Nutzens“ das zu tun, was die Ehre von einer Standesperson verlangte und was nur eine solche zu leisten imstande war. Daß Hans Rantzau wohl ganz bewußt nicht (oder nicht mehr) mit dem traditionellen Adelsethos argumentierte, um seine Standesgenossen zur Nachahmung seiner Reformen anzuspornen, läßt sich einer Bemerkung in einem Brief an Élie-Salomon Reverdil entnehmen, mit der er auf einen kritischen Einwand gegen seine Vorhaben einging:60

„Es ist sehr wahr, mein Herr, daß meine Einrichtung der Wirtschaft wenig Nachahmer finden wird, wenn der Herr dabei außer dem moralischen Gut und der Annehmlichkeit des Lebens keinen finanziellen Gewinn findet; das wäre nur in einem Jahrhundert möglich, in dem die Ehre und die Liebe zur Armut der Beweggrund der großen Taten wären; das unsere ist es ganz gewiß nicht.“

Wenn Hans Rantzau also in seiner Schrift über die Ascheberger Reformen den Eigennutz ausdrücklich zur Triebkraft aller Stände erklärte, so mag man darin einen gesunden anthropologischen Realismus sehen. Es ist aber auch ein Indiz dafür, daß die wirtschaftlichen Prinzipien des Bürgertums auf den Adel überzugreifen begonnen haben. Dieser konnte sich im 17. Jahrhundert noch, von der Notwendigkeit des Prestigekonsums durchdrungen, über Sparsamkeitserwägungen mit Bemerkungen wie „Mon cœur est trop noble pour cela“ (Mein Herz ist dafür zu nobel)61 hinwegsetzen; nun aber bekannte er sich, offenbar in zunehmendem Maße, zu bürgerlich-kapitalistischen Grundsätzen wie dem ökonomischen Wirtschaften oder der Konkurrenz der Individuen um der Wohlfahrt des Ganzen willen. Als Herzog Friedrich Christian von Augustenburg, der Adressat von Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen, sich während der Zeit der Agrarreformen um die Erfüllung von Versprechen, die er seinen Bauern gegeben hatte, herumdrücken wollte, bestärkte ihn sein landwirtschaftlicher Berater Hugo von Buchwaldt auf Altfresenburg in seinem Egoismus, indem er ihm die lapidare Formel an die Hand gab: „Die Liebe des Menschen fengt bey sich selbst an.“62 Eine solche Bemerkung zeigt keine Spur mehr von adliger Großmütigkeit, sondern ist nichts als die mit einem gewissen Zynismus konsequent auf das ökonomische Prinzip des Eigennutzes reduzierte Fassung einer zentralen Vorstellung der bürgerlichen Aufklärung.

Obgleich diese Beobachtungen systematischer Überprüfung und Ergänzung bedürftig sind, läßt sich aus ihnen doch der Schluß ziehen, daß zumindest Teile des Adels sich im Laufe des 18. Jahrhunderts Normen der Leistungsgesellschaft zu eigen gemacht haben, wie sie in der bürgerlichen Publizistik der ersten Jahrhunderthälfte, vor allem in den Moralischen Wochenschriften und den Satiren, gegen den Adel und das Privilegiensystem der ständischen Gesellschaftsordnung ins Feld geführt worden sind. Es war daher ganz konsequent, wenn in ihrem Denken die Individuen als Subjekte des sozialen und wirtschaftlichen Handelns freigesetzt wurden und an die Stelle der Stände traten, und es war, so gesehen, nicht verwunderlich, wenn Luise Stolberg in der Anfangsphase der Französischen Revolution den „grossen Hau der Stammbäume in Frankreich“ begeistert begrüßte, ihre eigene Ahnentafel im Kamin verbrannte und dazu bemerkte: „Adel des Menschen, wahrer Adel kann kein Monopol, kann nicht erblich sein.“63

Fragt man nun nach Gründen für die Verbürgerlichung der Adelskultur im 18. Jahrhundert, so läßt sich zunächst auf den Einfluß der weitgehend bürgerlich geprägten Bildungsinstitutionen verweisen, auf Gymnasien und Universitäten, Hofmeister und Professoren. Wenn man, wie die Brüder Christian Detlev und Johann Ludwig Reventlow, den Hofmeister Carl Wendt als eine Art väterlicher Autorität akzeptierte, dann war es nicht verwunderlich, wenn man während des Studiums in Leipzig zum begeisterten Schüler Gellerts wurde.64 Dieser Einfluß verstärkte sich dann noch durch Lektüre der bürgerlichen Literatur und Publizistik, von deren Reflexen die adligen Selbstzeugnisse voll sind. Dennoch greift eine solche Erklärung zu kurz: Die bürgerlichen Einflüsse hätten zweifellos weniger bewirkt, wenn ihnen nicht durch die historische Situation des Adels die Wege bereitet gewesen wären. Die Adligen müssen Erfahrungen gemacht haben, für deren Bewältigung das Bildungsbürgertum (möglicherweise aus einer vergleichbaren Situation heraus) schon Denkmuster formuliert hatte, die nun der Adel übernehmen konnte. Welcher Art diese Erfahrungen gewesen sind, kann im Rahmen dieser Darstellung nicht geklärt werden; dazu bedürfte es breiter sozialhistorischer und sozialpsychologischer Untersuchungen. Doch ist zu vermuten, daß man dabei nicht so sehr, wie Jürgen Habermas in seinem Buch über den Strukturwandel der Öffentlichkeit,65 bei der Entwicklung der Produktionsverhältnisse und der Trennung von Haus und Arbeit anzusetzen hätte, sondern eher mit Reinhard Koselleck66 bei der Verfassung der Gesellschaft im Zeitalter des Absolutismus, geht es doch vor allem um Erfahrungen, die den Adel mit dem Bildungsbürgertum haben verbinden können, und weniger um solche, die der Adel und das erwerbstätige Bürgertum beide gemacht haben. Eine entscheidende Rolle dürfte dabei wohl die Tatsache gespielt haben, daß der fürstliche Souveränitätsanspruch den Adligen auf den Status einer Privatperson herabwürdigte, in dem der Bürger sich ganz selbstverständlich befand. Teilhabe an der Macht wurde seitdem nicht mehr durch die Zugehörigkeit zum Korps der Ritterschaft garantiert, sondern nur noch durch die persönliche Leistung als Beamter im fürstlichen Dienst, und das wiederum zwang zur Ausbildung intellektueller Fähigkeiten, wie sie die bürgerlichen Bildungsinstitutionen vermittelten. So konnte man wohl für Denkmuster und Verhaltensnormen empfänglich werden, mit denen zumal die Intellektuellen unter den bürgerlichen Privatpersonen den Zwiespalt zwischen sozialer Stellung und Selbstwertgefühl zu bewältigen suchten.

Wie bürgerlich (im Sinne Kosellecks) unter den Verhältnissen des Absolutismus auch ein zum Staatsbeamten gewordener Prinz aus einer Nebenlinie des Königshauses denken konnte, zeigt ein Brief des Herzogs Friedrich Christian von Augustenburg an die kurländische Adlige Elisa von der Recke:67

„Der Hauptgrund zu den Klagen über die Mangelhaftigkeit unserer Verfassungen liegt wohl darin, daß das Genie, das Talent, die gebildete Vernunft in unsern heutigen Staaten nicht das ihnen zukommende Ansehen genießen, daß ihnen die Regierung der Welt nicht ausschließend gesichert ist. Alles wäre gewonnen, wenn nur wahrhaft gebildete Menschen die öffentlichen Geschäfte verwalteten. […] Die gebildete Classe hat allein gegründete Ansprüche an diese Regierung der Welt. Der ungebildeten Classe gesteht die Vernunft diese Ansprüche keineswegs zu. In diesem Verstande erkent die Vernunft eine grose Ungleichheit der Rechte an und diese Ungleichheit dürfte wohl nie aufhören.“

Hier ist ausgesprochen, was Adlige und Bildungsbürger am Ende des 18. Jahrhunderts im dänischen Gesamtstaat (und nicht nur dort) miteinander verband und von anderen sozialen Gruppen trennte: das Bewußtsein, nicht so sehr auf Grund ihrer Herkunft als vielmehr auf Grund ihrer persönlichen Kultur einer Elite anzugehören und eben deshalb „gegründete Ansprüche“, wo nicht auf die „Regierung der Welt“, so doch auf die Regierung Dänemarks zu haben. Zugleich konnte die „gebildete Classe“, die sich ‚per definitionem‘ allein im Besitz der richtenden Vernunft befand, darüber entscheiden, wer als gebildet und damit als gleichberechtigt zu betrachten war. Das Vernunftprinzip vertrug sich also sehr gut mit der faktischen Ungleichheit in der Gesellschaft. Beunruhigend war denn auch weniger, daß es noch Ungebildete gab, als vielmehr, daß ungebildete Fürsten und Adlige noch immer über die Regierungsgewalt verfügten, ohne sich vor der Vernunft rechtfertigen zu müssen. Insofern konnten die Angehörigen der gebildeten Stände im späten 18. Jahrhundert durchaus zu Kritikern der absolutistischen Herrschaftsordnung werden. Das machte sie aber durchaus noch nicht zu Kritikern der absolutistischen Gesellschaftsordnung und zu Sozialreformern.68

Bei aller Betonung der bürgerlich-aufklärerischen Elemente in der Adelskultur des späten 18. Jahrhunderts darf man nun nicht übersehen, daß sie durch ihre Einbettung in die soziale Wirklichkeit, in der der Adel im Gesamtstaat lebt, und durch ihre Verbindung mit traditionell adligen Normen und Verhaltensmustern häufig merkwürdig gebrochen wirken. Trotz aller bürgerlichen Züge im Familienleben des Staatsministers Reventlow ist etwa eine Verwechslung mit der kleinbürgerlichen Hausidylle zeitgenössischer Pastoren und Lehrer schon deswegen nicht möglich, weil dies Familienleben sich in Herrenhäusern und Stadtpalais mit ihrer materiellen und personellen Ausstattung abspielt. Trotz aller Sehnsucht nach dem freien Landleben im Familien- und Freundeskreis geht man natürlich in den Staatsdienst, in einer Mischung aus adligem Pflichtbewußtsein,69 Ehrgeiz und finanzieller Notwendigkeit.70 Daß Fritz Reventlow und Heinrich Friedrich Baudissin jahrzehntelang auf Emkendorf und Knoop privatisieren, liegt gewiß nicht nur an ihrer Liebe zum Landleben und zum „geliebten Zirkel“ der Freunde, sondern auch – ohne daß das je ausgesprochen würde – an der Schimmelmannschen Erbschaft, die ihnen die Unabhängigkeit sichert,71 und Luise Stolbergs Begeisterung über ihr zurückgezogenes, mit Lektüre, Freundschaftskult und Gartenbau ausgefülltes Leben in Tremsbüttel ist möglicherweise eine Art von Selbstbetrug, eine Kompensation ihrer Verbannung vom Kopenhagener Hof.72 Denn natürlich bleiben der Hof und die gute Gesellschaft der vornehmen Häuser feste Bezugspunkte im Leben und Denken dieser Adligen, und wenn sie in Kopenhagen sind, gehen sie ganz selbstverständlich zu Hofe und zu den Assembleen und reagieren empfindlich, wenn sie sich nicht nach Gebühr behandelt fühlen. Man würde es sich jedoch gar zu leicht machen, wenn man die aristokratischen Elemente der öffentlichen Existenz der Adligen zuordnen wollte, die bürgerlichen aber der privaten. Das würde das Entscheidende und für das späte 18. Jahrhundert Charakteristische verfehlen: die wechselseitige Verbindung und Durchdringung beider Elemente. Das soll im folgenden an drei Beispielen exemplifiziert werden, von denen eines aus dem privaten und eines aus dem öffentlichen Bereich stammt, während das dritte das Selbstverständnis des Adels zum Gegenstand hat.

Heinrich Christian Boie vermittelt 1783 seiner Freundin Luise Mejer eine Einladung zu einem längeren Aufenthalt bei Christian und Luise Stolberg in Tremsbüttel, und diese erwartet auf Grund von Boies Briefen, in ein „wahres Heiligtum der Freundschaft“73 zu kommen, muß aber sehr schnell feststellen, daß die etwa gleichaltrige Gräfin jemanden sucht, der ihre Lektüre mit ihr teilt, sie von Herzen liebt und ihr die Führung der Hauswirtschaft abnimmt. Eine im Haus aufwachsende Tochter Bernstorffs eröffnet ihr, „daß mich das Schicksal durch Mißverstehen hierher geführt hätte, dieser Besuch sollte von mir eine Probe sein, ob die Gräfin mit mir fertig würde.“ Luise Mejer setzt ihrem brieflichen Bericht über diese Desillusionierung hinzu:74

„Das schrieb die Gräfin auch neulich nach Rom [an Fritz und Julia Reventlow], fügte hinzu, ich gefiele ihr sehr. Meine Furchtsamkeit wäre ihr lieb, es wäre ein Beweis meiner Ehrfurcht und das bescheidene Bewußtsein, daß ich nicht mit meinesgleichen wäre. Da sie mir ihre Briefe zum Teil diktiert, so weiß ich das alles.“

Ein solches Verhalten könnte man einfach als taktlos bezeichnen, doch müßte man bedenken, daß Taktlosigkeit keine moralische oder psychologische Kategorie ist, sondern eine soziale. Hier kommt sie dadurch zustande, daß zwei Verhaltensmuster miteinander kollidieren: Das eine gebietet, die empfindsame Seele als Freundin zu behandeln, das andere hat gelehrt, unversorgte Bürgerstöchter wie gehobene Domestiken zu betrachten. Verletzend wird das Verhalten der Gräfin erst dadurch, daß es mit dem Anspruch so deutlich kollidiert. Daß die empfindsamen Verhaltensnormen aber von den Adligen nicht einfach zweckrational eingesetzt wurden, um traditionelle, im Standesunterschied begründete Herrschaftsansprüche zu kaschieren, sondern auch zu einer Art Selbstzwang werden konnten, zeigen andere Bemerkungen Luise Mejers aus der Zeit ihres Aufenthalts in Tremsbüttel, wo sich damals auch Friedrich Leopold und Agnes Stolberg aufhielten und von einem mit den beiden Ehepaaren gemeinsam unternommenen Besuch auf Bernstorffs mecklenburgischem Gut Dreilützow. So schreibt sie schon wenige Tage nach ihrer Ankunft in Tremsbüttel: „Hier im ganzen Hause ist keiner glücklich, und doch wird von nichts als glücklich sein geredet“,757677