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Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar (Hg.)

re/visionen

Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf
Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland

 

 

 

 

 

U N R A S T

Danksagungen

Als Herausgeber/-innen gilt unser Dank all jenen, die uns bei diesem Buchprojekt begleitet und unterstützt haben.

Ganz besonders danken wir Dimitria Clayton für ihren konzeptionellen und inhaltlichen Input sowie für ihren persönlichen Einsatz, Barbara Mugalu für die Gestaltung des Covers, Martin Schüring für sein gründliches Lektorat und Eske Wollrad für ihre sorgsame Korrekturarbeit.

Ebenfalls herzlich bedanken möchten wir uns bei Tina Adomako und Nora Reich für die Übersetzungen, bei Cioma Schönhaus, dem Fischer Verlag, Manuel Trollmann und der Fasia Jansen Stiftung für die freundliche Genehmigung, Fotos verwenden zu dürfen, sowie bei der Koreanischen Frauengruppe und bei Assoziation A für die Möglichkeit eines Zweitabdrucks.

Und schließlich bedanken wir uns bei allen Autor/-innen und Gesprächspartner/-innen für ihre Diskussionsbereitschaft, ihre Beiträge und Perspektiven – für ihre re/visionen.

 

Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar

 

 

 

Ich danke sehr herzlich Hilda und Klaus sowie Chau, Tay und Vy, die durch ihren familiären Beistand und ihre Ausdauer es mir ermöglicht haben, mich meiner Arbeit zuzuwenden. Noa und Lou King danke ich dafür, dass sie einfach da sind und mein Leben auf unbeschreiblich schöne Weise bereichern. Meine Arbeit an diesem Buch ist Cai Long Ha gewidmet.

 

Kien Nghi Ha

 

 

 

»Eigentlich darf man es niemandem sagen,
aber Europa gibt es nicht.«

Yoko Tawada, Talisman

 

 

»Integration ist ein zentralistischer, autokratischer Traum.
Die Verschiedenheit spielt sich am Ort ab, weitet sich auf die Zeiten aus, unterbricht und vereint die Stimmen (die Sprachen).«

Édouard Glissant, Traktat über die Welt

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

 

 

Ha, Lauré al-Samarai, Mysorekar (Hg.): re/visionen

eBook UNRAST Verlag, Mai 2018

ISBN 978-3-95405-039-0

 

2. unveränderte Auflage, März 2016

© UNRAST Verlag, Münster

Postfach 8020 | 48043 Münster | Tel. 0251 – 66 62 93

info@unrast-verlag.de | www.unrast-verlag.de

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Umschlag: Barbara Mugalu

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar
Einleitung

Rassismus und Politik
Die Desintegration der Leitkultur

Muhsin Ormuca
Kanakmän

Kien Nghi Ha
People of Color – Koloniale Ambivalenzen und historische Kämpfe

Kien Nghi Ha
Postkoloniale Kritik und Migration – Eine Annäherung

Sascha Zinflou
Entwurfsmuster des deutschen Rassismus: Ein theoretischer Überblick

Kien Nghi Ha
Koloniale Arbeitsmigrationspolitik im Imperial Germany 

Young-Sun Hong
Migrantischer Transnationalismus: Geteilte Geschichten zwischen West-Deutschland und Südkorea im Spannungsfeld von Rassifizierung und Gender

Mariam Popal
Kopftücher HipHop – Körper sprechen schweigend (andere) Geschichten

geschichtssplitter
Mimikry: Cioma Schönhaus

Kien Nghi Ha
Deutsche Integrationspolitik als koloniale Praxis 

Fatih Çevikkollu
Der Integrator

Macht und Ermächtigung
Selbst- und Fremddefinitionen als umkämpfte kulturelle Territorien

Julio Mendívil
Das ›zivilisierte Denken‹: Reflexionen eines peruanischen Musikethnologen über eine Feldforschung in den ›traumatischen Tropen‹ Deutschlands

Umut Erel
Auto/biografische Wissensproduktionen von Migrantinnen

Sheila Mysorekar
Guess my Genes. Von Mischlingen, MiMiMis und Multiracials

geschichtssplitter
Chinesische Präsenzen in Deutschland bis 1945

Maggi W. H. Leung
»Warum sind die so chinesisch?«: Dekonstruktionen von Chinesisch-Sein in Deutschland

Jin Haritaworn, mit Tamsila Tauqir und Esra Erdem
Queer-Imperialismus: Eine Intervention in die Debatte über ›muslimische Homophobie‹

geschichtssplitter
Unangepasst sichtbar: Johann Rukeli Trollmann

Johannes Salim Ismaiel-Wendt
Herbert Grönemeyers Platzverweise
Über Verortung und Aneignung von Musikkultur im WM-Deutschland

Paul Mecheril
Besehen, beschrieben, besprochen.
Die blasse Uneigentlichkeit rassifizierter Anderer

Christiane Hutson
Schwarzkrank? Post/koloniale Rassifizierungen von Krankheit in Deutschland

Maureen Maisha Eggers
Kritische Überschreitungen: Die Kollektivierung von (interdependentem) Eigen-Sinn als identitätspolitische Herausforderung

Selbstbestimmung und Kultur
Keepin’ it real!

Mutlu Ergün
Kara Günlük. Die geheimen Tagebücher des Sesperado

Isidora Randjelovič
»Auf vielen Hochzeiten spielen«: Strategien und Orte widerständiger Geschichte(n) und Gegenwart(en) in Roma Communities

geschichtssplitter
Mit Wort und Stimme: Fasia Jansen

Barbara Walker
Umzüge

Mita Banerjee
Ethnizität als Buhfrau der Nation? Über disziplinäre Umwege und die (Un)Möglichkeit ethnischer (Selbst)Artikulation

Alexander G. Weheliye
»Mein Volk, das es so noch nicht gibt«: Kollektivitätsbilder in der Schwarzen deutschen Popmusik

Roundtable: Fatima El-Tayeb, Stephen Lawson, Daniel Kojo Schrade, Hito Steyerl
Experimentelle (Frei)Räume:
Materielle Realitäten von Künstler/-innen of Color

Widerstand und Community
Wir können auch anders!

Sheila Mysorekar
Widerstand. Poesie des Überlebens

Nicola Lauré al-Samarai im Gespräch mit den Aktivistinnen Katja Kinder, Ria Cheatom und Ekpenyong Ani
»Es ist noch immer ein Aufbruch, aber mit neuer Startposition«: Zwanzig Jahre ADEFRA und Schwarze Frauen/Bewegung in Deutschland

Heike Berner und Sun-ju Choi
Koreanische Krankenschwestern in Deutschland

Kook-Nam Cho-Ruwwe, Hyun-Sook Kim, Sa-Soon Shin-Kim und Hyun-Sook Song
»Wir sind keine Ware, wir gehen zurück, wann wir wollen!« – Ein Gespräch über den Politisierungsprozess der Koreanischen Frauengruppe 

Uche Akpulu, Ahmad Darwisch, Hans-Georg Eberl, Debru Z. Ejeta, Bernd Kasparek, Adjoya Koffi und Odysseus.
Der Kampf der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten

Nicola Lauré al-Samarai im Gespräch mit Menschenrechtsaktivist Gaston Ebua
»Selbstorganisation braucht ein tiefes, kritisches Selbstverständnis«: Transnationale Konzepte und Praxen der Initiative The VOICE Refugee Forum

geschichtssplitter
Diaspora Europa: Schwarze Selbstorganisation in der Weimarer Republik

Eleonore Wiedenroth-Coulibaly
Zwanzig Jahre Schwarzer Widerstand in bewegten Räumen.
Was sich im Kleinen abspielt und aus dem Verborgenen erwächst

Araba Evelyn Johnston-Arthur
»Es ist Zeit, der Geschichte selbst eine Gestalt zu geben…«
Strategien der Entkolonisierung und Ermächtigung im Kontext der modernen afrikanischen Diaspora in Österreich 

Weißes Europa: Eine un/mögliche Diskussion zwischen einem Mitglied von Kanak Attak und Kien Nghi Ha

Angaben zu den Autor/-innen und Gesprächspartner/-innen

 

Anmerkungen

Einleitung

Kien Nghi Ha, Nicola Lauré al-Samarai, Sheila Mysorekar

Berlin-Neukölln: Hier trafen wir uns, als wir vor fast zwei Jahren begannen, über dieses Buch nachzudenken. Ähnlich aufgehoben gefühlt hätten wir uns vermutlich auch in Köln-Ehrenfeld, Frankfurt-Gallus oder jedem anderen globalisierten Kiez in Deutschland. Orte, an denen die aufgeräumte Vorgartenordnung dominanter Konzepte von Nation, Geschichte, Kultur und Sprache augenscheinlich überrollt ist. Ganz zu schweigen von den zweifelhaften Vorstellungen darüber, wer und was ›deutsch‹ zu sein hat, wer und was ›dazu‹ gehört. Orte, an denen man zuweilen das Bedürfnis verspürt, einigen von der Realität sichtlich überforderten Mehrheitsmitbürger/-innen ein vernehmliches, ganz und gar ironiefreies »Willkommen in der Wirklichkeit!« zuzurufen. Solche großstädtischen Grenzzonen sind keine harmonischen oder hierarchiefreien interkulturellen Begegnungsstätten. Im Gegenteil. Sie stehen sinnbildlich für zumeist zugewiesene, nicht freiwillig gewählte Räume, und sie beherbergen unterschiedliche, häufig widerstreitende Erfahrungen und Blickwinkel, ungebrochene und gebrochene Mutter- und Vaterzungen. Vor dem Hintergrund ineinander greifender Herrschaftsstrukturen schreiben sich die dazugehörigen Grenzgeschichten als schwer passierbare kulturelle Landschaften mit verwickelten Machtpositionen und Interessenlagen ein.

Im ›leitkulturellen‹ Weißen Deutschland sind solche Grenzgeschichten nicht sonderlich beliebt. Ganz besonders unbehaglich muten sie an, wenn sie mit so schwierigen Themen wie Migration, Rassismus, Ausgrenzung und Gewalt verknüpft sind. Sie spiegeln eine Dominanzkultur, die sich im Zuge von Einwanderung, deutsch-deutscher Vereinigung, europäischer Integration und eines nunmehr weltweiten ›Anti-Terrorkampfes‹ zwar verändert hat. Allerdings wirken neo/kolonial und imperial geprägte soziale Strukturen, kultur- und ideengeschichtliche Zusammenhänge sowie ideologische Deutungsmuster offen oder unterschwellig fort. Migrationspolitische Sanktionen, diskriminierende Sondergesetze und ethnische Unterschichtungen im Arbeits- und Bildungsbereich sind ebenso wenig passé wie rassistische Gewaltakte, alte oder neue Feindbilder sowie Überfremdungs- und Kulturkampfszenarien mit ›rassischen‹ und kulturellen Überlegenheitsfantasien. Das gilt auch für das erdachte völkische Gebilde einer nationalen Blutsgemeinschaft, in der Deutsch-Sein und Weiß-Sein als identisch und folglich als ›normal‹ vorausgesetzt werden.

Weiße ›Normalität‹ ist allerdings weder Ansichtssache noch ist sie ein ›natürliches‹, quasi gegebenes oder unsichtbares Phänomen, das im luftleeren Raum entstand. Aufs engste mit den Praktiken des Kolonialismus und des modernen Rassismus verknüpft, drückt sie das historische Gewordensein eines rassistischen Herrschaftsverhältnisses aus. Darin werden, in Verbindung mit anderen Ordnungskategorien wie Geschlecht (gender), Klassenzugehörigkeit oder sexueller Orientierung, gesellschaftliche und soziale Beziehungen hergestellt und geregelt. Weiße ›Normalität‹ greift damit in gravierender Weise in den Bereich des Zwischenmenschlichen ein. Sie ist in allen Institutionen, in politischen und sozio-ökonomischen Strukturen sowie in der Kultur- und Wissensproduktion verankert und wird in Weißen Dominanzgesellschaften durch Prozesse der Rassifizierung und Minorisierung durchgesetzt. Das bedeutet, dass bestimmte Personen und Communities auf der Basis zugeschriebener, vermeintlich wesenhafter ›rassischer‹ und/oder kultureller Unterschiede als ›anders‹, ›abweichend‹ und ›unterlegen‹ konstruiert werden. Erst durch Ausschlüsse und Diskriminierungen erscheinen sie als ›Minderheiten‹. Da ein positiv besetztes Weißes Selbst als gegenüberliegendes und im Grunde unerreichbares ›Maß der Dinge‹ fungiert, geraten Blick- und Sprechverhältnisse zu einem Werte behafteten, einseitigen Monolog: Die Weiße Norm spricht, beurteilt und bleibt in diesem machtvollen Prozess unsichtbar; die ›Anderen‹ werden besprochen, analysiert und abgewertet und so zu vermeintlich stummen, geschichtslosen ›Objekten‹. Was in landläufigen Weißen Kontexten über die ›Welt‹ und diese ›Anderen‹ – seien sie fern oder nah, seien sie vergangen oder gegenwärtig – ›gewusst‹ wird, ist folglich kein unschuldiges, ›objektives‹ oder gar universell gültiges Wissen, sondern immer eingebettet in komplexe, räumlich und zeitlich gebundene Prozesse einer rassifizierten Machtausübung.

Im Mehrheitsdeutschland werden Vorhandensein und Wirkweisen von rassistischen Strukturen und Rassifizierungsprozessen üblicherweise reflexartig zurückgewiesen. Der sich liberal verstehende Mainstream lagert Rassismus entweder in verschüttete oder einigermaßen ›bewältigte‹ Vergangenheiten aus, verbannt diesen an den rechten Gesellschaftsrand oder verpackt ihn in neutral erscheinende Begrifflichkeiten. Unterzieht man jedoch gängige, vornehmlich aus dem sozialwissenschaftlichen Diskurs stammende Fremdbezeichnungen wie ›Nicht-Weiße‹, ›sichtbare Minorität‹ (visible minority), ›ethnische Minderheit‹ oder ›Migrant/-in‹ einer kritischen Betrachtung, zeigt sich schnell, wie wenig sie dazu geeignet sind, gesellschaftliche Realitäten kritisch zu erfassen. Während ›Nicht-Weiße‹ die Anwesenheit rassifizierter Subjekte auf eine Differenz von der Norm bzw. auf eine reine Negation reduziert und damit die dominante Perspektive reproduziert, besteht die Gefahr, dass durch Begriffe wie ›Minorität‹ oder ›Minderheit‹ bestehende Machtverhältnisse verobjektiviert werden. In ihnen erscheint die Weiße Mehrheit – durch demokratische Prinzipien legitimiert – als eine gegebene Größe, die ›selbstverständlich‹ entscheidet und regiert. Die Tatsache, dass Mehrheits- und Minderheitenverhältnisse gesellschaftlich hergestellt sind und Konstrukte darstellen, mit denen die privilegierte Gruppe sich ›ihre‹ Minderheiten definiert, gerät so aus dem Blick. Eine damit einhergehende Naturalisierung sozialer Macht- und Ungleichheitsverhältnisse erschwert es zudem, rassistische Grundannahmen offen zu legen und sie zu dekonstruieren.

Der Begriff der ›sichtbaren Minorität‹ wiederum ist zu unspezifisch, um als kritische Analysekategorie wirksam zu sein. Zum einen fungiert er als Sammelbegriff, der von rassifizierten Menschen über religiöse Gemeinden bis hin zu Behinderten und Polizisten reichen kann. Zum anderen bilden, genau genommen, Weiße Männer selbst eine sichtbare Minorität, obwohl sie die mit Abstand einflussreichste Gruppe in westlichen Gesellschaften darstellen. Trotz guter Gründe, Termini wie ›Minderheit‹ und ›Minorität‹ zu problematisieren, ist es kaum möglich, sie gänzlich zu vermeiden, da diejenigen, die in Weißen Gesellschaften rassistisch ausgegrenzt werden, quantitativ tatsächlich meist in der Unterzahl sind und nicht der hegemonialen Mehrheitskultur angehören.

Im hiesigen Kontext wird häufig ›Migrant/-in‹ als übergreifende Kategorie verwendet, um entlang der Unterscheidung ›Deutsche‹ versus ›Ausländer‹ die zentrale Marginalisierungsebene des hier beheimateten Rassismus herauszustellen. Vor dem Hintergrund der ›Gastarbeiteranwerbung‹ aus dem Mittelmeerraum, die rassistische Tendenzen und die gescheiterte Entnazifizierung der deutschen Nachkriegsgesellschaft enthüllte, machte dies lange Zeit durchaus Sinn. Heutzutage richtet sich der strukturelle, institutionelle und alltägliche Rassismus jedoch vornehmlich gegen islamische Gemeinden, illegalisierte Migrant/-innen aus Lateinamerika und Asien, ›integrationsunwillige‹ Deutsch-Türk/-innen und kriminalisierte afrikanische Flüchtlinge. Die aktuellen Feindbilder werden zusätzlich durch tradierte, im kolonialen Rassismus und Orientalismus wurzelnde Stereotypen gegen außereuropäische Menschen befördert und zementiert. Es ist kaum zu übersehen, dass sich mit den veränderten globalen Bedingungen auch die symbolischen, politischen und geografischen Grenzen Westeuropas inklusive jene der alten BRD nachhaltig verschoben haben. Im Gleichklang mit den Machtverhältnissen in der internationalen Politik hat sich eine kolonialisierende Dominanzkultur revitalisiert. Da innerhalb dieser neuen hegemonialen Konfiguration die Grenze in erster Linie zwischen Europa und seinen sogenannten ›Anderen‹ gezogen wird, greift die brüchige Kategorie ›Migrant/-in‹ inzwischen zu kurz und sagt zu wenig aus. Die undifferenzierte Betrachtung vermeintlicher ›Ausländer‹ ebnet nicht nur fundamentale Statusunterschiede zwischen – um ein beliebiges Beispiel zu nennen – einem eingewanderten Weißen Wall Street Banker und einer Putzfrau türkischer Herkunft ein, sondern basiert zudem auf dem Ausschluss von Schwarzen Deutschen aus dieser Gesellschaft. Auf diese Weise wird ein restauratives Deutschlandbild projiziert, das durch seine ethnische Homogenisierung vormoderne Züge trägt. Es ist daher überfällig, nach neuen analytischen Kategorien zu suchen, die diese postkolonialen Machtverhältnisse erfassen können.

In der wohlmeinenden Mitte der Gesellschaft nimmt man inzwischen meist unwillig zur Kenntnis, dass es zwar eine Menge ›Betroffener‹ gibt, dass diese ›Betroffenen‹ jedoch nicht mehr so sind, wie man sie gern hätte: Sie geben kaum noch Auskunft über ihre ›Betroffenheit‹ und verweigern sich ausufernden Fragenkatalogen. Sie trotzen der Integrationsmission und verschanzen sich in ›Parallelgesellschaften‹. Sie lassen sich nicht mehr fremdbezeichnen und nehmen sich, gänzlich ungefragt, den Raum für das Neu-Entwerfen und Artikulieren eigenständiger Geschichten und Diskurse. Mit anderen Worten: Wir sind sprechende, handelnde und anwesende Subjekte, die selbst erzählen.

Selbstbestimmung kehrt herrschende Verhältnisse radikal um. Die als Marginalität bezeichnete gesellschaftliche Randständigkeit wird durch Wieder(er)finden unserer eigenen kritischen Stimmen zu einem Ort der Selbstermächtigung. Dieser ermöglicht es uns, über machtvolle Zurichtungen und Ausschlüsse nachzudenken, die Vielzahl geschichtlicher Leerstellen und gegenwärtiger Neuverortungen einzukreisen sowie individuelle und kollektive Strategien des Widerstands sichtbar zu machen. Die Gegenwart samt ihrer historisch gewachsenen Hierarchien und Konstellationen wird einer Re/Vision – also einer prüfenden Wiederdurchsicht – unterzogen. Sie wird hinterfragt, auseinander genommen, verändert zusammengefügt und mit neuen politischen Strategien für die Zukunft konfrontiert. Dabei entstehen neuartige Verbindungen und solche, die seit langem existieren, treten in irritierender Weise zutage. Vielstimmige Verbindungen, die beweglich und wandelbar sind. Die keine einfache oder unverbrüchliche Identifikation zulassen. Die veruneindeutigen.

re/visionen bietet diesen vielfältigen und uneindeutigen Verbindungen einen offenen Rahmen, um sie mit postkolonialen Perspektiven von People of Color freizulegen und sie zu diskutieren. Die vormals zum Schweigen gebrachten oder unterworfenen Standpunkte und Sichtweisen rassifizierter Menschen werden so auf neue Art zugänglich. Als Afro-, Asiatisch- und andere Schwarze Deutsche, als Roma oder Menschen mit außereuropäischen Flucht- und Migrationshintergründen nehmen wir sehr verschiedene minorisierte Positionsbestimmungen vor. Unsere unterschiedlichen Herkünfte, Arbeitsinteressen und historischen Voraussetzungen entziehen sich daher jeder Form von Vereinheitlichung. Wir teilen jedoch die gemeinsame, in vielen Variationen auftretende und ungleich erlebte Erfahrung, aufgrund körperlicher und kultureller Fremdzuschreibungen der Weißen Dominanzgesellschaft als ›anders‹ und ›unzugehörig‹ definiert zu werden. Vor diesem Hintergrund reflektieren sowohl die Beiträge der Autor/-innen und Gesprächspartner/-innen als auch unser herausgeberisches Anliegen die komplexen Verknüpfungen zwischen rassifizierten Subjektpositionen und dominanten wie unterdrückten Wissensproduktionen. Dabei werden mehrdeutige geschichtliche und gegenwärtige Zusammenhänge deutlich, die sich als postkoloniale Machtverhältnisse mit dem konzeptionellen Arbeitsbegriff ›People of Color‹ genauer erfassen und untersuchen lassen.

Wie Kien Nghi Ha in seinem Beitrag kritisch nachzeichnet, verfügt der People of Color-Begriff über eine wandelvolle, bis in die koloniale Epoche der Versklavung zurückreichende Geschichte. Erst durch Aneignungen anti-rassistischer Befreiungsbewegungen in den 1960er Jahren wurde er in den USA zu einer Selbstbezeichnung, die auf einer Solidarität stiftenden Perspektive basiert. Als politische Plattform zielt sie auf Bündnisse zwischen allen rassifizierten Menschen mit afrikanischen, asiatischen, lateinamerikanischen, arabischen, jüdischen, indigenen oder pazifischen Hintergründen. In gruppenübergreifender (interkommunaler) Weise verbindet sie so jene, die in Weißen Dominanzgesellschaften unterdrückt und durch koloniale Tradierungen kollektiv abgewertet werden. Eine solche aktive und bewusste Grenzüberschreitung unterläuft nicht nur rassistische Strategien des Teilens und Herrschens, mit denen Minorisierte voneinander getrennt und gegeneinander ausgespielt wurden und noch immer werden. Vielmehr eröffnet die People of Color-Perspektive rassifizierten Menschen mit ihrer oftmals besonderen Sensibilität für übergangene Themen und Standpunkte einen alternativen Raum. Darin können wir uns miteinander in Beziehung setzen und unsere Geschichten, unsere unterschiedlichen Erfahrungen und unser Wissen als wertvolles, gesellschaftsveränderndes und befreiendes Potential anerkennen.

Die Tatsache, dass der People of Color-Ansatz hierzulande noch immer kaum bekannt ist, verweist auf einen Zustand der politischen Unsichtbarkeit und auf das Fehlen einer grenzüberschreitenden Ausrichtung in der antirassistischen Identitätspolitik marginalisierter Gruppen und Communities. Deshalb ist damit zu rechnen, dass er auf verschiedenen Seiten Diskussionen auslöst oder sogar Abwehr hervorruft. Viele Weiße fühlen sich durch diese autonome Selbstdefinition ausgeschlossen und erheben gern den entlastenden Vorwurf des ›umgekehrten Rassismus‹. Ihr Problem besteht vor allem darin, in einem solchen Diskurs keine Definitionsmacht mehr zu besitzen und nicht mehr im Mittelpunkt zu stehen. Einige Schwarze Menschen befürchten hingegen, dass diese Bezeichnung – ebenso wie die politische Unterscheidung in ›Weiße‹ und ›Schwarze‹ – zu konfrontativ sei. Damit werden tendenziell solche Perspektiven abgelehnt, die Rassifizierung als Mittel von Herrschaft und Ausbeutung explizit benennen und als zentralen Ausgangspunkt entsprechender Diskussionen verstehen. Andere Marginalisierte wiederum bemängeln die Verwechslungsgefahr zwischen People of Color und ›Colored‹ und plädieren deshalb für andere Bezeichnungen, wie beispielsweise ›Schwarz‹. Allerdings ist daran zu erinnern, dass auch letzterer Begriff zunächst eine rassistische Fremdbezeichnung war. Erst die offensive und bewusste Politik der kulturellen Selbstbehauptung in den 1960er Jahren kodierte die jahrhundertealten rassistischen Konnotationen von Schwarz-Sein um und machte es zu einem Ausdruck von Empowerment (Selbstermächtigung). Da People of Color nicht in Form des Kolonialbegriffs ›Farbige‹ übersetzt werden kann, verwenden wir die Originalbezeichnung und nutzen in unserem Sprachgebrauch ›Schwarz‹ als Synonym. Die im Folgenden vorgenommene, durchgängige Großschreibung von ›Schwarz‹ und ›Weiß‹ verweist darüber hinaus auf den politischen Konstruktcharakter beider Kategorien und ist eine Strategie, um Herrschaftsverhältnisse sichtbar zu machen.

Obwohl hierzulande zumindest theoretisch die Offenheit von Schwarz-Sein für alle rassifizierten Menschen betont und eingefordert wird, existieren in der identitätspolitischen Praxis Einschränkungen und Ausschlüsse. Gerade in einer Welt, die durch Kolonialisierung und Globalisierung endlose Subjektpositionen geschaffen hat, welche aus der Vermischung unterschiedlicher Herkünfte und ethnischer Identitäten hervorgehen, ist es wichtig, die Myriaden von Zwischenpositionen innerhalb von Schwarz-Sein gleichberechtigt einzubeziehen. Dafür sind Begriffe zu entwickeln, mit denen sich Machteffekte von Rassifizierungsprozessen in ihren vielschichtigen Verknüpfungen analysieren lassen. Wie Sheila Mysorekar zeigt, sind beispielsweise mit ›Biracial‹ oder ›Multiracial‹ dynamische Bezeichnungen entstanden, die ständig neue Bedeutungen generieren und eine Mixtur unterschiedlichster Erfahrungen in sich tragen.

Wie jedes Wissen, ist auch der People of Color-Ansatz lediglich temporär gültig und innerhalb eines bestimmten historisch-gesellschaftlichen Kontextes entstanden. Er ist kein universeller Ansatz, der überall und zu jeder Zeit gleichermaßen Gültigkeit beanspruchen kann. Vielmehr lässt er sich angesichts aktueller Erfordernisse an die lokalen Bedingungen und Situationen der beteiligten Akteur/-innen anpassen und entsprechend modifizieren. Ohne die Anerkennung von Differenz ist es jedoch unmöglich, die Multidimensionalität von Identitätspolitik überhaupt zu denken. Deshalb ist es lohnenswert, die Chancen und Optionen des People of Color-Ansatzes für deutsche Kontexte vor diesem Hintergrund gemeinsam zu diskutieren. Von People of Color in Deutschland zu sprechen bedeutet, sich eines machtsensitiven Ansatzes zu bedienen, der sich nicht, wie die politischen Kategorien Schwarz-Sein (Blackness) und Weiß-Sein (Whiteness) es nahe zu legen scheinen, auf Konstruktionen von Gegensätzlichkeiten beschränkt. Er stellt kein Gegenkonzept zu Schwarz-Sein dar, sondern ist eher dazu geeignet, diese politische Kategorie analytisch weiter zu entwickeln und auszudifferenzieren. Der People of Color-Ansatz greift hierzulande bereits erarbeitete Grundlagen konstruktiv auf und ermutigt dazu, Differenzen innerhalb der Konstruktion von Schwarz-Sein anzuerkennen.

Von People of Color in Deutschland zu sprechen ändert nicht nur die Art und Weise, in der marginalisierte Menschen adressiert werden, sondern bewirkt eine grundsätzlichere Transformation: Durch die erweiterte Anrede wird ein erweiterter Rahmen geschaffen, der dazu auffordert, die Vielschichtigkeit interner Differenzen wahrzunehmen und sich auf dieser Basis gleichberechtigt und dialogisch zu verständigen. Nur eine Solidarität, in der gelebte und erfahrbare Unterschiedlichkeit respektvoll angenommen wird, ist in der Lage, breite Bündnisse und robuste Allianzen zu erschaffen, die nachhaltig sind. Die Erschließung neuer historischer, kultureller und identitätspolitischer Zusammenhänge ermöglicht es zudem, positive, auf Unterschiedlichkeit beruhende (diversifizierte) Selbstbilder zu kreieren, in denen Mehrfachzugehörigkeiten die Regel und nicht die Ausnahme sind. re/visionen versucht daher, all jenen Geltung zu verschaffen, die sich sonst als Unterworfene (Subalterne) verzerrt oder überhaupt nicht repräsentiert finden. Die Kenntnisse und Expertisen von minorisierten Wissenschaftler/-innen, Kulturproduzent/-innen und Aktivist/-innen bilden folglich die Ausgangs- und Bezugspunkte für die kritische Diskussion gesellschaftlicher Gegebenheiten. Ein solcher fundamentaler Perspektiv- und Paradigmenwechsel unterbricht die ausgrenzenden Selbstgespräche der Weißen Dominanzgesellschaft und enthüllt Deutschland als vielstimmigen postkolonialen Raum.

Ein postkoloniales Deutschland lässt sich nur denken, wenn die kolonialen Ambivalenzen der Moderne sowie die grenzüberschreitenden Ein- und Auswanderungsgeschichten berücksichtigt werden. Wie Kien Nghi Ha in seiner Annäherung an postkoloniale Kritikansätze zeigt, finden Migrationen immer in Auseinandersetzung mit Macht-, Ausbeutungs- und Ungleichheitsstrukturen statt. Deren miteinander verwobene Wirkungsweisen sind als Effekte einer ungleichgewichtigen Globalisierung zu begreifen, die aufs engste mit dem Kolonialismus verknüpft ist. Die Aufarbeitung kolonialer Präsenzen entlarvt die aktuellen Versionen des ›westlichen‹ Überlegenheitsanspruchs als hegemoniales Ordnungsmodell. Deshalb sind sie für ein kritisches Verständnis der Gegenwart mit ihren komplexen historischen, globalen, sozio-ökonomischen, ethnisch-nationalen, kulturell-religiösen und geschlechtsspezifischen Hierarchiebildungen unabdingbar. In einer solchen postkolonialen Gegenwart kann auf das Privileg maßgebender und somit ›repräsentativer‹ Geschichten oder Erzählungen nicht zurückgegriffen werden, weil es sie nicht gibt. Vielmehr geht es darum, den eigenen gesellschaftlichen und diskursiven Standpunkt zu verorten, die ungleichen Ausgangsbedingungen jedes Sprechens und jeder Sprechposition in Betracht zu ziehen und jedes dabei zutage tretende Wissen als gesellschaftlich und historisch verfasst und notwendigerweise als unvollständig zu begreifen.

Postkoloniale Ansätze verstehen sich als politisches Projekt von Herrschaftskritik. In Theorie und Praxis richten sie ihr Augenmerk vornehmlich auf solche Wissensproduktionen, Perspektiven und Themen, die innerhalb bestehender Ordnungssysteme in der Regel keinen Platz beanspruchen dürfen. Umso deutlicher treten daher die schwerwiegenden Konsequenzen der als ›weiße Flecken‹ bezeichneten, großflächigen Erinnerungslücken dominanter Diskurse in Erscheinung. Im deutschen Kontext betrifft dies unter anderem die weitestgehende Verdrängung des Kolonialismus samt seiner Sinn stiftenden Ideologien, Traditionen und Handlungspraxen. Wie wirkmächtig die zu weiten Teilen unbearbeiteten und daher präsenten Echos dieser kolonialen Matrix sind, wird in den versammelten Beiträgen dieses Bandes auf mehrdimensionale Weise deutlich. Ihre überfällige Einbindung in differenzierte Geschichts- und Gegenwartsbetrachtungen ermöglicht es, die Folgen der Durchsetzung kolonialer Weißer und nationalsozialistischer ›arischer‹ Räume im Zusammenhang zu sehen und zugleich ihre beim Aufbau demokratischer Nachkriegsordnungen effektiv ›gemeisterten‹ Ausblendungen zu verstehen.

Das konsequente Mitdenken des kolonialen Erbes und seiner Spuren, Verstrickungen und Verbindungslinien erlaubt es, neue Schwerpunktsetzungen vorzunehmen. So können beispielsweise die von Sascha Zinflou diskutierten Entwurfsmuster eines spezifisch deutschen Rassismus mit vergangenen und gegenwärtigen Migrationsgeschichten in Beziehung gesetzt werden. Dass die Arbeitsmigration nach Deutschland ein keineswegs neues Phänomen darstellt, an das man sich hierzulande erst ›gewöhnen‹ muss, zeigen die historischen Rückbezüge von Kien Nghi Ha. In seiner Analyse führt er ihre Strukturen und Zielsetzungen auf imperiale Entstehungskontexte im Wilhelminischen Kaiserreich zurück und diskutiert koloniale Analogien in der aktuellen Migrationsdebatte. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die gegenwärtige Integrationspolitik als eine Form der kolonialen Pädagogik begreifen, die sich offen der ökonomischen Verwertungslogik von ›Humankapital‹ und entsprechender Weltbilder bedient sowie auf eine Disziplinierung postkolonialer Migrant/-innen abzielt. Umso bedeutsamer ist es, Ansätze zu entwickeln, die, wie Young-Sun Hong am Beispiel südkoreanischer Krankenschwestern erläutert, rassistische und sexistische Diskurse sowie staatlich organisierte Ausbeutungsstrukturen transnationaler Arbeitsmarktbeziehungen tatsächlich berücksichtigen. Darüber hinaus gelingt es ihr, die nachhaltigen Einschreibungen dieser Strukturen in den gelebten Erfahrungen von People of Color eindrucksvoll nachzuzeichnen. In welcher Weise Migrations- und Desintegrationserfahrungen auch künstlerisch und literarisch Ausdruck verliehen werden kann, zeigen Muhsin Omurca, Fatih Çevikkollu und Mutlu Ergün. In ihren beißenden und hintergründigen Satiren ist nicht nur etwas über das ›Transwesttürk-Programm‹ oder die merkwürdigen Wandlungen des ›Integrators‹ zu erfahren, sondern ebenso über offenbar noch immer zeitgemäße teutonische Herkunftsverhöre, denen mit einer Top-Five-Antwortenliste nunmehr mühelos begegnet werden kann.

Die strukturelle Gewalt ausgrenzender Fremdbezeichnungen, Stereotype und Images überlagert und bedroht marginalisierte Lebens- und Gedankenräume von People of Color in Deutschland in massiver Weise. Daher setzen sich zahlreiche Autor/-innen in ihren thematisch sehr vielschichtig angelegten Beiträgen mit dem überbordenden Repertoire rassistischer Konstruktionen genauer auseinander. So arbeitet Mariam Popal die islamfeindlichen, orientalistischen und anti-feministischen Elemente der virulenten ›Kopftuch‹-Debatte heraus und stellt dieser entkolonialisierende Widerstandstrategien muslimischer Frauen entgegen. Maggi Leungs Dekonstruktionen eines gegenwärtigen Chinesisch-Seins in Deutschland wiederum werden durch einen geschichtssplitter, der die chinesische Einwanderungsgeschichte bis 1945 thematisiert, um eine historische Tiefendimension ergänzt. Auf eine andere Art liest Julio Mendívil die gängigen Klischees des Exotismus gegen den Strich, indem er in seiner ethnologischen Feldforschung den ›traumatischen Tropen‹ Deutschlands einen Gegenbesuch abstattet. Durch die Umkehrung dominanter Blickverhältnisse werden so die einschlägigen Bilder über die ›Dritte Welt‹ als Weiße Projektionsfläche erkennbar. Ähnliches gelingt Johannes Salim Ismaiel-Wendt, der selbstherrlichen Platzverweisen in der deutschen Popmusik im Zusammenhang mit der nationalen Selbsterhöhung während der Fußball-WM 2006 nachgeht. Die Kehrseite des Weißen Narzissmus besteht in der Notwendigkeit, Schwarz-Sein zu pathologisieren, weshalb Christiane Hutson der diskursiven Verbindung ›Schwarz/Krank‹ ihre Aufmerksamkeit widmet. Ihre Arbeit macht darauf aufmerksam, dass Rassifizierungsprozesse sowohl historisch als auch gegenwärtig mit Pathologisierungen des Schwarzen Körpers durch Weiße Blicke in der modernen Genetik, Technik und Medizin einhergehen. Wie Isidora Randjelovič diskutiert, ist auch die Geschichte des Antiziganismus mit Bildern ›asozialer Zigeuner‹ und ihrer ›kriminellen‹ Kultur gepflastert. Vor diesem Hintergrund richtet sie ihr Augenmerk auf die Musikerin Panna Czinka und re/konstruiert an deren Beispiel kulturelle Widerstandsstrategien, mit denen die eigene unterdrückte Geschichte zurückgefordert werden kann.

Alle diese Beiträge untersuchen auf unterschiedliche Weise kolonial geprägte Körper-, Menschen- und Weltbilder und entwickeln postkoloniale Kritikansätze für den deutschen Kontext weiter. Dominante ›Wahrheiten‹, kulturelle Einverleibungen, klangvolle musikalische Platzverweise, intellektuelle Codes oder wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhänge werden darin nicht nur dekonstruiert und auf ihre Wirkweisen befragt, sondern bewusst mit subjektiven, teilweise auto/biografischen Beobachtungen konfrontiert. Sie betonen – durch historische und theoretische Bezüge gestützt – dass Fremdbilder immer durch selbstbestimmte Aneignungen und Umdeutungen unterbrochen wurden und werden. Die dabei hervortretenden Erfahrungsbezüge können – wie Umut Erel zeigt – als Strategie der Selbstermächtigung verstanden werden, um in ungleichberechtigen Sprechräumen die eigene Realität der Kontrolle des herrschenden Blicks zu entziehen, ihr selbstbestimmt Ausdruck zu verleihen und sie als Quelle widerständigen Wissens zu begreifen. Sie sind jedoch immer – wie Paul Mecheril und Maureen Maisha Eggers feinfühlig nachzeichnen – von schmerzhaften, oft verinnerlichten rassifizierenden Zurichtungen geprägt und deshalb von einem widersprüchlichen »Eigen-Sinn« durchzogen. Diesen respektvoll anzunehmen und dem konkreten Erlebten eine grundlegende Bedeutung für jedweden Erkenntnisprozess zuzuerkennen, eröffnet neue gedankliche Freiräume für alternative Theoriebildungen, politische Widerstandskonzepte und nicht zuletzt für kulturelle Ausdrucksformen, in denen, wie Mita Banerjee es formuliert, »die Frage nach Angemessenheit immer eine Frage des Blickwinkels ist.«

Trotz einer Weißen Kulturindustrie, die Kulturarbeiter/-innen of Color in der Regel in ›exotische‹ oder folkloristische Ecken abdrängt, sind die künstlerischen Impulse, Um/Wege und Wegkreuzungen innerhalb dieser mühsam erkämpften kulturellen Freiräume so divers wie ihre kreativen Neu/Entwürfe und Artikulationsformen. Die Entwicklungen subversiver Sprach-, Bilder- und Klangwelten, die Umdeutungen von Grenzräumen und die Einschreibungen subalterner Gegenerzählungen haben längst eigenständige Tradierungen begründet. Diese erschließen sich als solche allerdings nur dann, wenn sie als Element und Ausdruck einer transnationalisierten Kultur/Geschichte in Deutschland verstanden werden – eine Wahrnehmung, die sich augenscheinlich weit jenseits des im Ausschlussverfahren arbeitenden Weißen Kulturkanons befindet. Die innovativen Deutungen von Selbsterfahrung und Sichtbarkeit sowie die Neuschreibungen entgrenzter diasporischer Identitäts- und Heimatbegriffe werden gerade wegen des Fehlens ›angemessener‹ kultureller Lesarten und Verständniszusammenhänge kaum wahrgenommen. Solche Entgrenzungen kann Alexander G. Weheliye beispielsweise in der im Mainstream seit langem zur Kenntnis genommenen Schwarzen deutschen Popmusik lokalisieren. Die von ihm genauer in den Blick genommenen Versuche, Gemeinschaftlichkeit unabhängig von der herkömmlichen Kategorie ›Volk‹ zu denken, reproduzieren jedoch sexistische Muster und übertönen so weniger zugängliche Schwarze feministische Positionen. Es ist daher wichtig, künstlerische Konzepte und Kommunikationen zu entwickeln, in denen machtvolle Fremdzuschreibungen freigelegt und beleuchtet werden. In welcher Weise sich darüber hinaus auch unhinterfragte Identitätsmodelle, konventionelle Community-Begriffe und interne Ausschlussmechanismen in all ihren Ausprägungen zur Disposition stellen lassen, diskutieren Fatima El-Tayeb, Stephen Lawson, Daniel Kojo Schrade und Hito Steyerl. Die dabei in den Vordergrund tretende repräsentationspolitische Idee der Montage, die – momenthaft, nur in der Bewegung funktionierend und damit zeitlich immer begrenzt – »Unvereinbares verbindet und Inkohärentes in Beziehung setzt« (Hito Steyerl), lässt sich als ein offener Erzählentwurf auffassen, mit dem in schneller Folge wechselnde, willkürliche und überraschende Konstellationen sichtbar und in ihrer Vielheit zur Sprache gebracht werden können.

Eine solche Form der Repräsentation ermöglicht es, historische und gegenwärtige Orte und Zeiten neu zu bestimmen und grundlegende Rahmenbedingungen für eigenständige Artikulationsräume zu kreieren. Das Heraustreten aus der – nicht nur politischen – Unsichtbarkeit basiert auf der Notwendigkeit, sich auszutauschen, Machtverhältnisse zu kritisieren und wirkungsvolle Widerstandsstrategien zu entwickeln. Häufig mit komplexen, nach innen gerichteten und oft als zutiefst befreiend empfundenen Lernprozessen verknüpft, werden dabei bewusste individuelle und kollektive Selbstheiten (Homi Bhabha) imaginiert und erprobt, die vorher nicht denkbar waren. Wie lebensverändernd und zugleich enorm schwierig sich damit einhergehende Selbstermächtigungen gestalten, die sich als soziales, kulturelles und ideelles ›talking back‹ längst in die Weiße deutsche Gesellschaft einprägen, machen die diversen Überlegungen der zu Wort kommenden Aktivist/-innen of Color deutlich. Dass dabei vornehmlich innere Verfasstheiten skizziert werden, verweist auf selbstbestimmte Prioritätensetzungen sowie auf die elementare Bedeutung, sich selbstreflexiv in politische Auseinandersetzungen hineinzubegeben.

So schuf die Koreanische Frauengruppe politische Strukturen, in denen sie ihre Arbeit so anlegte, »dass alle Entscheidungen gemeinsam gefällt« (Kook-Nam Cho-Ruwwe) wurden, um patriarchale Gewaltformen nicht zu wiederholen und sich effektiv gegen migrationspolitische Willkür und Ausbeutung zur Wehr zu setzen. Gruppen wie die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten kämpfen bis heute gegen menschenunwürdige Lebensbedingungen in Lagern, Abschiebung und Polizeigewalt. Obwohl diese entrechtete Ausgangslage es erheblich erschwert, sich konzeptionellen Fragestellungen zuzuwenden, zeigen die umfassenden Positionsbestimmungen von The VOICE-Menschenrechtsaktivist Gaston Ebua, weshalb die historische und ideengeschichtliche Einbettung der Konstruktion ›Flüchtling‹ in einer darauf basierenden rassistischen Gesetzgebung für die Entwicklung einer »verbindlichen Politik (politics of commitment)« der Entkolonialisierung so bedeutsam ist. Wieder andere Bezugspunkte tauchen in der Schwarzen deutschen Frauen/Bewegung auf, die anfänglich darauf ausgerichtet war, die gravierende Vereinzelung von Schwarzen Deutschen aufzubrechen und sich der eigenen verschütteten Geschichtlichkeit zu bemächtigen. In den dabei eröffneten kollektiven Räumen konnten sich Schwarze Menschen in einen, wie Eleonore Wiedenroth-Coulibaly schreibt, »Kontext des Miteinander-Erlebens« setzen und als Erfahrungsgemeinschaft begreifen. Wie ADEFRA-Aktivistinnen ausführen, wurde diese Community von Beginn an maßgeblich von Schwarzen Lesben geprägt. Sie forderten interne sexistische und heteronormative Ausschlussmechanismen heraus, begründeten Schwarze feministische Diskurse und kreierten tragfähige Gegenstrukturen, an die die aktuelle politische Arbeit anknüpft. Dass dabei tatsächlich grenzüberschreitende Impulse ausgesendet und andernorts genutzt werden, zeigt der Beitrag von Araba Evelyn Johnston-Arthur. Er umreißt die historische und gegenwärtige »Entbergung« einer Schwarzen österreichischen Anwesenheit, die sich mit entkolonialisierenden Selbstermächtigungen und Repräsentationen langsam in dortige Weiße Zusammenhänge einzuschreiben beginnt.

Die vielen unterschiedlichen Gegenstimmen, Gegengeschichten und Gegenstrukturen kartografieren eine subalterne Globalität in Deutschland und Europa, deren ausdifferenzierte Beziehungsgeflechte neue Fragestellungen erfordern. Welche Rahmensetzungen sich dabei jenseits normativer Erklärungsmodelle anbieten, um spezifischen transnationalen Konstellationen gerecht zu werden, führt Fatima El-Tayeb genauer aus. Während der Fokus auf Europäer/-innen of Color es beispielsweise erlaubt, Rassifizierungsprozesse zu diskutieren, die sich nicht auf ethnische Identitäten zurückführen lassen und dabei zugleich den »ethnischen Essentialismus der ›europäischen Idee‹« aufzeigt, stellt der Islam als kultureller Hintergrund und transnationale Ideologie wiederum andere Verbindungslinien her. Allerdings werden auch innerhalb unterworfener Konstellationen politische Setzungen entwickelt, die neue Hierarchien und Ausschlüsse produzieren können. Wie komplex damit einhergehende Mehrfachminorisierungen sein können, erhellt die Intervention in die Debatte über »muslimische Homophobie« von Jin Haritaworn, Tamsila Tauqir und Esra Erdem. Die Autor/-innen kritisieren eine vereinfachende dominante Repräsentationspolitik, »welche ›schwullesbisch‹ mit Weiß und ›ethnisiert‹ mit heterosexuell gleichsetzt«, sich islamophober Argumentationsmuster bedient und (muslimische) Queers of Color als handlungsunfähige und deshalb zu befreiende Opfer funktionalisiert. Angesichts kolonialisierender Blicke innerhalb Weißer Queer-Kontexte und homophober Ausgrenzungen innerhalb marginalisierter Communities stellt sich die Frage nach selbstkritischen Überprüfungen und weiterführenden Bündnissen, die innere Unterschiede anerkennen, folglich mit großer Dringlichkeit.

Dazu bedarf es einer veränderten »inneren Haltung«, die sich, wie ADEFRA-Aktivistin Katja Kinder es ausdrückt, »kollektiv weiterspinnt«. Sie muss für unterschiedlichste intellektuelle, kulturelle und politische Referenzen offen sein und eine Fülle eigener »Entbergungen« unternehmen. Dabei spielt insbesondere die Aufarbeitung von Geschichten des Widerstands und ihrer durchaus ambivalenten Konzepte eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das Zusammentragen verschütteter Fakten, die historisch informierte Auseinandersetzung mit den Ergebnissen antikolonialer und anderer Befreiungskämpfe und die kritische Analyse unterworfener Denk- und Wissenstradierungen ist als bewusste Erinnerungspolitik zu verstehen, in die schon immer eine, wie Sheila Mysorekar sie nennt, »Poesie des Überlebens« eingeschrieben ist. Sich zu erinnern bedeutet für People of Color, ihre gesplitterten Geschichten aufzuspüren, deren ›entfernte Verbindungen‹ sich meist nur bruchstückhaft – eben als geschichtssplitter