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Die wahre Geschichte von Diamanten Eddie

Sie nennen ihn »Diamanten Eddie«, Juwelen und Pelze sind sein Spezialität. Stets elegant gekleidet, charmant und intelligent, ist Edward Kray gern gesehen an den Spieltischen der Stadt und feiert großzügig jeden gelungenen Coup. Er reist quer durch Europa, nach Frankreich, Belgien, Holland und Griechenland, macht keine Pläne, spart nichts – ein Leben im Jetzt.

Doch in seinen Träumen kehren die dunklen Bilder der Vergangenheit zurück: 1939 verliert der fünfzehnjährige Edward beim ersten Fliegerangriff der Deutschen auf das südostpolnische Zamość seine Familie und gerät in die Hände der Gestapo. Als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt, verbringt er sechs Jahre in Arbeits- und Straflagern und bleibt nach Kriegsende dennoch im Land.

Im zerstörten Düsseldorf lernt er die lebenshungrige Marianne kennen und wird zwischen den Verheißungen des Wirtschaftswunders, dem Chaos und der Neuordnung der Nachkriegszeit zum erfolgreichen Hehler und Dieb.

SABINE KRAY

DIAMANTENEDDIE

ROMAN

Meinem Vater

3. Mai 1971, Mönchengladbach

»Ein Staubsauger, ich brauche einen Staubsauger!« Der schlanke Mann, dessen Stimme die sanfte Spur eines fremden Akzents in sich trägt, reißt beide Arme in die Luft, sodass die Ärmel seines Jacketts den Blick auf schmale Handgelenke freigeben. Unter der blassen Haut schimmern feine blaue Adern, und an der Rechten blitzt eine schwere goldene Uhr im tanzenden Licht der Discokugel. »Picco! Einen Staubsauger!« Seine Rufe vermischen sich mit Bob Dylans Tombstone Blues, einige Mädchen in engen Schlaghosen, die sich mit geschlossenen Augen zur Musik wiegen, drehen sich um, als Picco endlich die Nadel von der Platte nimmt.

Neugierig mustern sie Edward, der jetzt seinen schwarzen Hut hebt und damit zum Barkeeper herüberwinkt. Die vollen schwarzen Haare darunter, akkurat nach hinten gekämmt, sind von silbrigen Linien durchzogen, die spitzen Geheimratsecken auf seiner Stirn frühe Zeugen eines schnell und heftig gelebten Lebens. Diamanten Eddie kennt man hier. Gut gekleidet. Ein höflicher Mann. Hin und wieder gibt er einen aus oder schlägt für eine der Kellnerinnen eine Volte mit den Karten, die er stets bei sich trägt.

Trinkt er mehr als üblich, kommt es schon einmal vor, dass er spät in der Nacht das ganze Lokal mit rätselhaften Tricks und seinen Geschichten unterhält. Die jungen Leute mögen ihn, aber ein bisschen seltsam finden sie ihn auch. Einmal hat er gleich mehrere Hundertmarkscheine angezündet, nur um sie dann ungerührt über der glänzenden Bar verglühen zu lassen. Doch an den meisten Abenden sitzt er einfach an seinem Platz am Ende des Tresens, trinkt Whisky und raucht. Roth-Händle filterlos.

Eilig schiebt sich der italienische Barkeeper zwischen den dicht gedrängten Gästen hindurch. »Was ist los Eddie?«, ruft Picco, noch bevor er ihn erreicht. »Meine Brillanten!«, ruft Edward und deutet auf den schwarzen Fußboden: »Da hilft nur noch ein Staubsauger!« Picco sieht zu Boden und schlägt die Hand vor den Mund: »Scheiße Eddie! Wie ist das denn passiert? Warte hier! Ich kümmere mich darum.« Geschickt schlängelt sich der Barmann zur Tür: »Rainer, he Rainer. Komm rein! Der Eddie braucht ’nen Staubsauger, da ist ’n ganzer Haufen Brillanten am Boden!«

Die Gespräche unter den Gästen verstummen, und weil einige bereits suchend in die Knie gegangen sind, steigt Edward ohne zu zögern auf einen der Barhocker: »Meine Damen und Herren, bitte treten Sie zur Seite! Machen Sie ein wenig Platz!« Wie ein Verkehrspolizist dirigiert er sie mit lauter Stimme. Ihre Blicke kleben an seinen dunklen Augen, während er spricht: »Genau, meine Damen und Herren, so ist es recht! Und bitte geben Sie acht auf Ihre Füße! Darunter könnte sich ein kleines Vermögen befinden!«

Nur eine Sekunde lang wendet er sich ab, um zu sehen, wo Picco und Rainer bleiben, als er aus dem Augenwinkel einen jungen Mann bemerkt, der sich bückt und etwas vom Fußboden aufhebt. »Lassen Sie das liegen!«, sagt er, ohne sich umzudrehen. Überrascht hält der Finder, der eine wild gelockte Tolle über dem schmalen Gesicht trägt, den winzigen Stein ins Licht der Lampe über seinem Kopf. Edward ist schon zurück am Boden. Mühelos fängt er den Sprung in den Knien, geht mit federndem Schritt auf den jungen Mann zu und lächelt. Widerwillig gibt der den Stein heraus. Dann taucht Rainer auf. »Aus dem Weg, Leute!«, ruft er und marschiert mit weit ausgreifenden Schritten ins Hinterzimmer.

Mit einem Mal ist es in dem engen Clubraum hell wie zur Sperrstunde. Rainer hat den Schalter betätigt, und das gelbe Licht vermengt sich mit den Rauchschwaden über den Köpfen. »So, Leute! Platz da!« Rainer drängt sich zwischen den Leuten hindurch. Den Kobold trägt er wie eine Fackel in der großen Faust vor sich her.

Um Edward haben die Gäste Platz gemacht, die Tanzmädchen kichern, und der große Mann tastet sich mit dem Staubsauger konzentriert zwischen den Füßen der Leute entlang, um keinen Winkel zu versäumen. »Mach doch mal Platz für den Rainer!«, ruft eine runde Blondine und zerrt an ihrem Freund, der rauchend neben ihr steht. Mit dem Türsteher will man sich gut stellen, schließlich ist er es, der jeden Abend von neuem entscheidet, wer die drei Stufen heraufkommen und in dem ehemaligen Frisiersalon feiern und tanzen darf. Sogar aus Düsseldorf kommen die Leute für einen Abend im Lovers’ Lane.

»Mama’s in the factory, she ain’t got no shoes!«, krächzt Bob Dylan synchron mit dem Brummen des Staubsaugers, den Rainer noch immer gewissenhaft über den schwarz lackierten Boden führt, nachdem Picco die Nadel wieder auf die Platte gelegt hat: »Daddy’s in the alley, he’s looking for food.« Edward nickt über den Lärm hinweg in die Runde und prostet zu Picco hinüber. Der lächelt, zündet sich eine Zigarette an, bevor er zum Shaker greift und Buntes aus verschiedenen Flaschen hineingießt. Als der Kollege den Staubsauger ausschaltet, hebt er grinsend den Daumen, steckt sich eine Zigarette an und schüttelt die silbernen Becher mit beiden Händen. Dann schlägt er sie routiniert an die Kante der Bar, wo sie sich mit einem Klacken voneinander lösen.

Nach außen hin lässig, im Körper noch immer das Adrenalin der vergangenen Minuten, steht Edward zwischen den anderen Gästen an der Bar. Nur sein Fuß wippt heimlich unter der weiten Anzughose, und der enge schwarze Rollkragenpullover, den er unter dem Jackett trägt, klebt an ihm. »Machst du mir bitte noch einen?«, ruft er zu Picco und hebt das Glas. Der Barmann nickt.

»Eddie!« Abrupt dreht er sich nach der Stimme um. Da kommt Rainer. Er hat einen grünen Beutel in der Hand: »Das möchtest du doch sicherlich haben, nicht wahr?« Die Leute haben Platz gemacht für den kräftigen Türsteher. Als Edward sich umschaut, bemerkt er, dass neugierige Blicke auf ihm ruhen. Er zieht Rainer etwas näher zu sich heran, dann zieht er ein Bündel Scheine heraus, löst einen Hundertmarkschein und steckt ihn in dessen Hosentasche. »Dank dir«, sagt er höflich und klopft den Staub von dem Beutel, bevor er ihn neben sein Glas auf die Bar legt. »Immer wieder«, zwinkert Rainer, »was ist eigentlich passiert?«

Edward zuckt mit den Schultern: »Ich habe jemandem die Steine gezeigt, und da kommt plötzlich so ein Typ, so ein kleiner Kerl ohne Frisur, und rennt mich um. Und zack, liegt alles am Boden. Versehen, vielleicht auch Absicht, ich weiß es nicht.« Rainer, der den Kopf zu Edward geneigt hat, richtet sich auf und sieht sich um: »Wo ist er?« »Nicht wichtig Rainer, nicht wichtig«, sagt Edward großzügig und klopft dem jungen Mann auf die Schulter. »Wenn du dat so sachst«, entgegnet der und schüttelt das halblange braune Haar, »ich hätt’n rausgesetzt!«

Noch immer sieht Rainer sich forschend unter den Gästen um, die tuschelnd um sie herum stehen, da zeigt die Lampe über der Tür an, dass draußen jemand klingelt. Rainer hebt die Hand und lächelt, bevor er sich durch die Menge nach vorn schiebt und die kleine Luke in der Tür öffnet.

Mit einer Hand löst Edward einen Fünfzigmarkschein aus seinem Bündel und legt ihn unter sein leeres Whiskyglas. »Danke, Picco!«, sagt er halblaut, dann macht er sich auf den Weg. Er ist schon beinahe an der Tür, als der Barmann mit dem Schein winkt: »Mensch Eddie! Du kriegst doch noch was raus!« Die Blicke der Umstehenden pendeln zwischen dem Schein und seinem Besitzer. Der lächelt: »Ist gut, Picco, ist gut. Grüß die Renate von mir.« Im Vorübergehen klopft er Rainer erneut auf die Schulter, dann eilt er hinaus auf die Waldhausener Straße, wo das Feiervolk noch immer bester Laune ist.

Das Klacken hoher Absätze auf dem rauen Pflaster mischt sich mit den Streitereien einiger Halbstarker. Hinter sich hört er Rainer, der einer Gruppe Fußballfans, die in Borussia-Trikots und mit Bierfahne angerückt sind, erklären muss, dass sie erstens in diesem Aufzug nicht hereinkommen und dass zweitens »der Jünter heute eh nicht da ist«. »Zieht euch watt Vernünftjes an und versucht’s nächste Woche noch mal!«, hört er ihn noch sagen, bevor er seinen Schritt beschleunigt. Der Weg ist steil, das schnelle Gehen verursacht ein angenehmes Ziehen auf der Rückseite seiner Oberschenkel, und die frische Nachtluft spült den Rauch aus seinen Lungen. Oben am Alten Markt warten die Taxen auf ihre angeheiterte Kundschaft. Einen Augenblick lang zögert er. Häufig macht er den Weg nach Rheydt zu Fuß. Es tut gut, nachts ein paar Kilometer über Land zu laufen, doch gestern hat es geregnet, und er will die guten Schuhe nicht im Schlamm der Feldwege und Trampelpfade ruinieren, die weit entfernt von der Landstraße ins samtfarbene Dunkel der Nacht führen.

»Zur Reitbahnstraße in Rheydt, bitte«, sagt er, als er sich schwungvoll auf die Rückbank eines etwas heruntergekommenen Taxis setzt. »Guten Abend Eddie!«, grinsend dreht der Fahrer sich zu seinem Fahrgast um. »Karl! Ich habe dich gar nicht erkannt hier im Dunkeln. Mach mal Licht.« Edward legt die Hand auf die weiche Schulter des dicken Mannes. Der schaltet die Beleuchtung über dem Rückspiegel ein und strahlt: »Bittschön! Jetzt kannste sehen!« »Danke, Karl, guten Abend! Wie schön, dich zu treffen! Was macht die Familie?« »Ach –«, sagt Karl und zupft verlegen am Kragen seines zerschlissenen Pullovers, »weißte ja, unsa Jüngsta. Rädde kann er wie en Bilderbuch, aber watt Anständjes zu wirke söke willa sich nich.« Edward nickt verständnisvoll und zündet sich eine Zigarette an.

»Ach Driet, Eddie, jetzt hann isch da Taxamäta verjessen!« Sie stehen vor der Reitbahnstraße 11, und Karl schlägt wütend auf das Lenkrad. Rasch zieht sein Fahrgast einen Schein aus der Tasche und reicht ihn über den Rand des Beifahrersitzes. »Lass mal gut sein, Karl«, sagt er und springt aus dem Auto, als Karl in der Geldbörse nach dem Wechselgeld kramt. Jetzt spürt er ihn doch ein wenig, den Whisky aus dem Lovers’ Lane. Trotzdem zieht er im Licht der Scheinwerfer des maroden BMW den Hut, bevor er die Tür aufschließt.

Das Mobiliar des kleinen Zimmers am Ende des Flures ist noch aus Vorkriegszeiten, das Bett durchgelegen und der Griff des gedrungenen Fensters kaputt. Mit einem Fünfkantschlüssel, den er zu diesem Zweck auf dem Fensterbrett liegen hat, öffnet er es, dann legt er den Staubsaugerbeutel auf einen vernarbten Tisch an der Wand. Voller Kerben und Brandlöcher ist er wohl das hässlichste Möbelstück im ganzen Raum. Trotzdem sitzt er dort häufig, wenn er nachts heimkehrt.

Seufzend legt er das Jackett ab, hängt es über die Türklinke, streckt Arme und Schultern. Dann bückt er sich und zieht die engen Schuhe aus. Barfuß läuft er von Wand zu Wand, berührt das Fensterbrett, den Türrahmen und den Schrank, streicht mit einer Hand über die gemusterte Tapete. Einen Moment lang schließt er die Augen, um die Bilder zurückzudrängen. Als er sie wieder öffnet, sind die Fratzen verschwunden.

Erschöpft lässt er sich auf den niedrigen Stuhl, dessen Polster ein wenig ranzig im Licht der schaukelnden Lampe glänzt, fallen und streckt sich nach der Schublade seines Nachttisches, in der er ein einfaches Taschenmesser aufbewahrt. Mit den Fingerspitzen bekommt er es zu fassen, dann klappt er es auf und reinigt die Klinge an seinem Pullover, bevor er sich dem Beutel widmet. Vorsichtig drückt er die Spitze des Messers hinein. Das Material ist widerständig, und es braucht einen Moment, bis die Klinge den merkwürdigen Stoff durchdringt. Noch einmal reißt er daran, dann ergießen sich Staub, Asche, Zigarettenkippen, eine zerrissene Busfahrkarte und Scherben auf den Tisch. Edward unterdrückt ein Niesen und verteilt den Unrat sorgfältig mit der Spitze des Taschenmessers auf der Tischplatte.

Es ist eine ärgerliche, eine fummelige Arbeit, doch er findet die Brillanten. Einen nach dem anderen pickt er vorsichtig heraus. Die Arbeit ist mühsam, der Whisky macht sie nicht leichter. Edward steht auf, streckt den Rücken, geht ein paar Schritte hin und her, dann setzt er sich wieder an den Tisch und beugt sich über den Inhalt des Beutels. Der warme Wind, der von draußen hereinkommt, wiegt die Lampe über seinem Kopf, und die Glasscherben lächeln trügerisch zwischen dem Staub. Es ist mühsam, sie im schwingenden Lichtkegel zwischen Asche und Straßendreck von den Brillanten zu unterscheiden, und immer wieder stechen sie seine weichen Fingerkuppen, wenn er hineingreift, um sie herauszufischen.

Mit seinem Taschentuch poliert er jeden einzelnen der fein geschliffenen Steine, legt sie in den hässlichen schwarzen Aschenbecher, den die Zimmerwirtin ihm am Tag seines Einzuges in die Hand gedrückt hat. »Dit is meener, der andere is jestohlen worden, und wennse den zerbrechen, denn koofense mir en neuen!«, hatte sie ihn übellaunig wissen lassen. Dann hatte sie die Miete für die nächsten zwei Monate gefordert. Offenbar hat der Krieg sie hierher, nach Mönchengladbach, geführt, doch die Berliner Schnauze hat sie auch nach Jahrzehnten am Niederrhein nicht abgelegt. Als er endlich fertig ist, nimmt er den Ascher und gießt die Steine vorsichtig in seine Hand. Sofort wärmen sie seine Haut, und als er die Augen schließt, kann er sogar ihren sanften Puls fühlen.

Einen Augenblick lang bleibt er so sitzen, dann lässt er die Steine zurück in den Aschenbecher fließen, streicht sich energisch die Müdigkeit aus dem Gesicht, zwingt sich aufzustehen, um den schmutzigen Rest des Beutels in den Abfalleimer zu werfen. Mit federnden Schritten geht er zu seinem Jackett an der Tür, sucht die Zigaretten. Der alte Dielenboden ist warm an seinen nackten Füßen, die in den engen Schuhen ein wenig gelitten haben. Breit und kräftig, sind sie nicht gemacht für feines Schuhwerk. Er denkt an Gisela, wie sie am Strand die Sohlen ihrer kleinen Füße an seine drückt: »Du hast die schönsten Füße, die ich je bei einem Mann gesehen habe.«

Mit zwei Fingern fischt er eine Zigarette aus dem Paket in der Innentasche und steckt sie in den Mund. Vierzehn Jahre ist es her. Der Junge ist jetzt dreizehn. Ungeduldig gräbt er nach seinem Feuerzeug. Da ist ein Riss im Futter der Tasche, und das schwere silberne Ding ist hineingerutscht. Er holt es heraus, geht zum Fenster, zündet die Zigarette an.

Nachdenklich klopft er die Asche auf den schwarzen Gehweg unter sich und bläst den Rauch ins Licht der breiten Laterne. Die ganze Nacht hindurch füllt sie sein kleines Zimmer mit ihrem milchigen Licht. Sie ist so nah an seinem Fenster, manchmal meint er sie berühren zu können, würde er nur den Arm nach ihr ausstrecken. Doch er streckt sich nicht, begnügt sich mit dem Gedanken daran. Sorgfältig drückt er die Zigarette aus und schnippt sie mit zwei Fingern auf die andere Straßenseite.

September 1939, Zamość

Edward öffnete die Tür nur einen Spalt breit, doch sofort kam die Katze hereingeschossen und begann um seine Beine zu streichen. Langsam ging er in die Hocke, um sie zu berühren. Das Tier musste irgendwo einen trockenen Winkel gefunden haben, denn sie war nicht nass geworden. Jetzt stieg sie mit beiden Pfoten auf sein Knie, suchte seine Hände und rieb ihren Kopf an seinen bloßen Unterarmen.

Matt senkte er den Kopf, ließ sie mit ihrem weichen Fell durch sein Gesicht streichen und lauschte ihrem Schnurren. Alle hatten Angst. Sogar der Vater. Die Angst war überall. Sie drang durch die feinen Löcher des Radios ins Haus, schlich durch die Räume, und sie schlief in ihren Betten. Doch niemand sprach darüber, wie es weitergehen würde, wenn die deutschen Truppen Zamość erreichten. Und wenn Anna und Władysław über den älteren Bruder Tadeusz sprachen, der das Land an der ukrainischen Grenze verteidigen sollte, dann schickten sie die Kinder hinaus.

Mit der Katze auf dem Arm kehrte Edward zurück ins Wohnzimmer, wo jetzt wieder die Stimme des Nachrichtensprechers durch den Raum rollte und ihnen mitteilte, dass weder England noch Frankreich ihr Versprechen in die Tat umsetzen wollten, Polen im Kampf gegen das Deutsche Reich zu unterstützen. Władysławs Miene verdüsterte sich.

Resigniert schüttelte Anna den Kopf: »Bald stehen sie schon in Lublin! Was wird nur aus uns, wenn sie hierher kommen?« Sofort rutschte Bolesław von seinem Stuhl und schlang die dünnen Arme mit großer Energie von hinten um ihre Mitte. Als wäre ihr Schmerz eine magnetische Spannung, zog es den Neunjährigen stets zur Mutter, wenn sie traurig war.

Im Gesicht seines Vaters erkannte Edward Mitleid und Ungeduld. Er suchte ihren Blick hinter den weißen Händen: »Wenn die Intervention nicht morgen kommt, dann wird sie in den nächsten Tagen kommen. Sie werden schon ihre Gründe haben, damit noch zu warten!« Anna hob den Kopf, und von einem Moment auf den anderen waren ihre Augen wild und rastlos: »Glaubst du das wirklich, Władysław? Glaubst du daran?«

Einen Moment lang lehnte er sich zurück und sah auf seine Hände, dann beugte er sich wieder über den Tisch und neigte den Kopf, um ihre Augen zu erreichen: »Wir haben die Russen überstanden damals, wir werden auch das hier überstehen!« Langsam schüttelte sie den Kopf, und wie an fast jedem dieser letzten Abende rannen Tränen ihre runden Wangen hinunter. Erschrocken ergriff Genowefa, ihre älteste Tochter, ihre Hände und drückte sie fest, während Edward die Katze auf den Boden setzte. Auch er ging nun zu seiner Mutter. Unbeholfen legte er seine Hand auf ihren Rücken. Wusste nicht, was er sagen sollte. Keiner von ihnen rührte sich bis die Sendung vorbei war, dann brachte Anna Bolesław ins Bett.

Edward hätte gern mit seinem Vater gesprochen. Über Tadeusz, über die Bomben, von denen sie im Radio sprachen, doch der sonst so beredte Mann schwieg so nachdrücklich, dass Edward es nicht wagte, ihn aus seinen Gedanken zu reißen.

»Edward«, flüsterte Bolesław, »bist du das?« Der Junge schob den Kopf über den Bettrand und spähte nach unten. Im Lichtstreifen, der durch die halbgeöffnete Tür hereinfiel, stand Edward: »Ja, ich bin es. Warum schläfst du nicht, Kleiner?« »Weil ich nicht klein bin. Ich bin schon neun! Und wenn alle anderen noch wach sind … Warum sollte ich schlafen?« Edward zog sich das Hemd über den Kopf und lachte: »Da hast du natürlich recht, Indianer!«, sagte er, während er sich die Hose auszog. »Aber jetzt gehen sogar die Erwachsenen ins Bett!« Sorgfältig legte er seine Kleidung auf den Stuhl an dem flachen Schreibtisch aus Buchenholz.

Den Schreibtisch hatte sein älterer Bruder gebaut. ›Den starken Tadeusz‹ hatten sie ihn schon in der Schule genannt. Er hatte immer zum Zirkus gewollt, aber der Vater hatte auf einer echten Ausbildung bestanden. So war er bei einem Tischler in die Lehre gegangen. Der Schreibtisch mit der blankpolierten Platte war sein Gesellenstück. Das Tischlern lag ihm, mit seinen siebenundzwanzig Jahren führte er bereits eine eigene Werkstatt. Doch bei aller Leidenschaft für seine Arbeit schlummerte noch der Zirkusjunge in ihm. Wann immer sich eine Gelegenheit ergab, zeigte er seinen Brüdern und jedem anderen, der zuschauen wollte, wie kräftig er war, ersann stets neue Kraftproben und akrobatische Kunststücke. Für seinen neusten Trick umwickelte er seine Hand mit einem Fetzen Stoff, setzte einen der langen Tischlernägel auf ein Brett, holte tief Luft und beförderte den Nagel mit der Faust bis zum Anschlag in das Holz.

Zwei Wochen war es nun her, dass Tadeusz zum Militär eingezogen worden war. Edward dachte an den ersten Brief von ihm, von der ukrainischen Grenze, daran, wie er und Bolesław gelacht hatten, als der Vater den Brief vorgelesen hatte: »Wir marschieren und warten, wir schieben Wache und putzen unsere Gewehre. So vergehen die Tage und die Russen schnüren noch immer ihre Stiefel.« Tadeusz fiel dauernd etwas ein, worüber er lachen konnte. In seinem Brief hatte er auch vom frühen Aufstehen berichtet, von den Kaninchen in den nebelverhangenen Wiesen am Morgen, und davon, dass keiner, nicht einmal die Offiziere, wusste, wie es weitergehen würde.

Seufzend zog Edward sich das Nachthemd über den Kopf und legte sich in die untere Etage des Bettes. Der Bruder, in dessen Werkstatt er seit einigen Monaten an den Nachmittagen geholfen hatte, fehlte ihm sehr, und wahrscheinlich hätte er geweint, wenn nicht Bolesław wieder zu ihm heruntergeschaut hätte. »Edek«, flüsterte der Kleine, »warum malen sich die Indianer die Gesichter bunt?« Edward schüttelte die Gedanken an Tadeusz ab. »Das machen sie immer dann, wenn sie gegen den Feind kämpfen gehen. Um ihn zu erschrecken«, antwortete er und zog sich die Decke bis zum Kinn herauf. »Aber wer würde sich denn vor ein bisschen Farbe im Gesicht erschrecken?«, setzte Bolesław nach. »Das weiß ich auch nicht, aber sie tun’s eben. So steht es jedenfalls in den Büchern.« »Mmmmm!«, murrte Bolesław. »Also ich glaub das erst, wenn ich’s sehe!«

***

»Edward und Pjotr, wenn ich euch noch einmal flüstern höre, hole ich einen von euch hier nach vorne zu mir!« Die Lehrerin der 9B kämpfte gegen die Unruhe an diesem Tag, zu viel Aufregung gab es zu Hause. Die ersten Briefe der großen Brüder hatten in den letzten Tagen die Stadt erreicht, und die Familien verbrachten ihre Abende vor dem Radio. Jene, die keines besaßen, klopften bei den Nachbarn an, unter den Kindern gab es kein anderes Gesprächsthema mehr. Frau Bieranowska mied jedes Gespräch über den Krieg, forderte, wie immer, Konzentration und Disziplin. Kaum einer der Schüler vermochte still zu sitzen, die Minuten tropften mit unerträglicher Langsamkeit von der Uhr über der Tür des Klassenzimmers, bis endlich die letzte Glocke ertönte und sie nach Hause laufen konnten.

Am Nachmittag ging Anna, in jeder Hand einen kleinen Sack mit Lebensmitteln, zu Tadeusz’ Frau Marianna, die mit ihrem Sohn Wiesław einige hundert Meter entfernt in der Waryńskiego lebte. Genowefa und Bolesław begleiteten sie, Edward und Władysław mussten noch eine Lieferung Kohlen in den Keller bringen.

Die Arbeit war fast getan, ihre Hände und Arme schon ganz schwarz vom Kohlenstaub, als dumpfer Motorenlärm sie innehalten ließ. Sie hoben die Köpfe und sahen zum Horizont. Sieben Flugzeuge kamen in einer gleichmäßigen Formation über den graublauen Himmel direkt auf sie zu. Zunächst flogen sie hoch, ihr Brummen blieb dumpf, bis sie ihre Nasen senkten und in einem sanften Schwung auf eine tiefere Flugebene glitten. Schlagartig schwoll der Lärm an, wühlte sich tief in ihre Ohren. »Mein Gott!«, rief Władysław, und für einen Moment starrten sie beide stumm vor Entsetzen auf die dunklen Maschinen, die mit einem Mal so nah waren. Wie eingefroren standen sie, dann ergriff Władysław seinen Sohn am Arm und zerrte ihn die Treppe herunter in den Kohlenkeller.

Gemeinsam hockten sie am Fuß der kleinen Treppe. »Warum fliegen die so tief?«, rief Edward dem Vater über den Lärm hinweg zu. Statt ihm zu antworten, schloss der große Mann die Augen und bekreuzigte sich. Zwei Detonationen ließen die Wände des Kellers knirschen, Edward drängte sich dicht an den Vater, der zusammenzuckte wie ein Kind, als ihr tonnenschweres Echo einen Atemzug später die Kellertreppe herunterstürzte.

Und dann endlich schloss er Edward fest in seine Arme. Viel zu fest. Eine ganze Minute lang saßen sie so. Die Flugzeuge donnerten erneut über das Haus hinweg und hinterließen einen beißenden Gestank in der Luft, die durch die Kellertür hereinschwebte. Władysławs Hände zitterten.

Noch bevor das Motorengeräusch ganz verschwunden war, stürmte Edward die Treppe herauf, wäre beinahe gestolpert über eine der Schaufeln, die sie hatten fallen lassen. »Wo hat das eingeschlagen?« Władysławs Blick irrte durch die stinkende Luft, die sich auf die Stadt gelegt hatte, fand keinen Anhaltspunkt, blieb schließlich an Edward haften, der bereits in der Hofeinfahrt stand.

Rauch schien in einigen hundert Metern Entfernung über den Häusern zu schweben. »Das ist doch auf der Waryńskiego!«, rief der Vater, der ihm gefolgt war, ballte die Faust um die linke Brusttasche seiner schmutzigen Arbeitskluft und blieb einige Sekunden lang mitten auf der Straße stehen.

Dann stürmten sie los. Vorbei an den Schreien und den aufgerissenen Augen, den Menschen, die links und rechts aus ihren Häusern stürzten. Manche liefen, wie Edward und sein Vater, dem Feuer entgegen. Andere standen reglos auf der Straße. Starrten nur. Edward ließ sie alle hinter sich. Auch den Vater. Sah sich nicht einmal um. Er rannte, rannte immer schneller, während die ätzende graue Luft tief, immer tiefer, in seine Lungen kroch.

Edward verfluchte die schweren Arbeitsschuhe, die er trug, doch es dauerte kaum zwei Minuten, bis er das Haus seines Bruders erreichte. Da stand es. Mitten in krachendem Feuer. Die Straße voller Menschen. Menschen mit Holzeimern. Verwirrte Menschen, die versuchten, den stinkenden Brand zu löschen. Frauen, die weinende Kinder an sich drückten. Wo war seine Mutter? Fieberhaft sah er sich um, hörte sich schließlich schreien: »Mama! – Genowefaaa! – Bolesław! Wo seid ihr?«

Und dann brach die Menge auseinander. Einige Männer taumelten aus der Rauchwolke, die das Haus einhüllte, legten drei leblose Körper auf der Wiese ab. Innerhalb von Sekunden schloss sich ein Kreis um die reglosen Gestalten. Edward konnte nichts mehr sehen. Schwindelig versuchte er sich an den Menschen vorbeizudrängen, die seine Mutter und die beiden Geschwister umringten. Einige ältere Frauen beugten sich bereits über sie, als eine laute Stimme über die Köpfe der Umstehenden hinwegeilte: »Der Junge! Er lebt! Jemand muss den Arzt holen! Wir brauchen den Arzt!«

Der Kreis öffnete sich, und da konnte er sie sehen: Die Mutter lag reglos, ihr weiches Gesicht auf einmal müde. Blut, viel röter als alles, was Edward je gesehen hatte, strömte aus einer klaffenden Wunde auf ihrer Stirn über ihre geschlossenen Lider. Direkt neben sie, auf den hellgrünen Rasen, hatte man Bolesław gelegt. Der kleine Junge lag ganz nah bei ihr. So nah, dass ihre leblose Hand seinen Kopf berührte und Edward einen Stich von Eifersucht verspürte.

Einen Moment lang ruhte sein Blick auf Bolesław, dann wandte er sich ab. Erst nach einigen Sekunden begriff er, dass dessen linker Arm fehlte, und fuhr herum. Er war fort. Der Arm, der Ärmel, die Hand, sie fehlten, und an ihrer Stelle war eine Wunde, aus der weiches Blut leise in die Erde hineinsickerte. »Das muss entsetzlich wehtun«, dachte Edward, als er den Bruder betrachtete, der plötzlich ein Fremder war.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, schlug der Junge plötzlich die Augen auf und brüllte. Sein Schrei war spitz und erschien Edward um ein Vielfaches lauter als die Detonationen. Er trat einige Schritte zurück, um ihm zu entkommen, legte schließlich sogar die Hände auf die Ohren, doch der Schrei fraß sich weiter erbarmungslos in seinen Kopf hinein.

Atemlos stürzte sein Vater durch die Menge, fiel mit panischen Augen neben Bolesław, dem späten Glück, seinem Augenstern, auf die Knie und nahm seinen Kopf in die Arme. Doch die väterliche Berührung vermochte den Jungen nicht zu beruhigen, er schrie und schrie. Mit weit aufgerissenem Mund und wilden Augen schien er den Vater nicht einmal wahrzunehmen.

Nie sollten die Umstehenden den Anblick von Władysław vergessen, wie er seinen Jungen hielt, sein Gesicht verzerrt und nass von Tränen, als Bolesław mit einem heiseren Seufzer in seinen Armen erschlaffte. Dann sank er in sich zusammen, im Arm noch immer den Sohn, die Hand, seine Linke auf der Stirn seiner Tochter. Sie schien unversehrt, doch ihr Blick verlor sich kalt im blauen Himmel über ihnen. Sanft lösten zwei junge Frauen den toten Jungen aus den Armen des Vaters, führten den nach Atem ringenden alten Mann, dessen blutverschmiertes Hemd an seiner Brust klebte, in eines der umliegenden Häuser.

Niemand achtete auf Edward. Aus einigen Metern Entfernung suchte er wieder das Gesicht seiner Mutter, und während hinter ihm gegen das Feuer gekämpft wurde, schwamm er orientierungslos durch den Rauch, ohne sich von ihr abzuwenden. Auch einige der umliegenden Häuser hatten Feuer gefangen, und als der Wind sich drehte, fuhr ihm die Hitze des Brandes scharf in die Augen.

»Steh hier nicht rum und glotz!« Edward erschrak heftig, als ein älterer Mann ihm einen leeren Eimer in den Bauch stieß und auf eine Pumpe auf der anderen Straßenseite deutete. Ohne den Blick von seiner Mutter zu lösen, überquerte er die Straße. Blind fanden seine Hände den Hebel und begannen mechanisch zu pressen, bis Wasser aus dem Mund der Pumpe schoss. Eiskalt rann es über seine Schuhe und die Hosenbeine und katapultierte ihn mit einem Schlag zurück in die Realität. Ohne einen weiteren Gedanken ließ er den Eimer fallen und rannte zu dem Haus, in das man seinen Vater gebracht hatte.

Er klopfte, trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Władysław Kraj lag wie aufgebahrt. Er atmete schwer und sein Gesicht war blass unter dem imposanten Schnurrbart. Edward kniete sich neben ihn, rief nach ihm. Nichts. Sein Vater lag vollkommen still, das Gesicht leer, wie das eines Toten. Nur der rauschende Atem verriet, dass er noch am Leben war.

Mit ernstem Gesicht und routinierter Hand hob der Arzt seine Augenlider, maß seinen Atem und lauschte seinem Herz. Edward trat zur Seite, verfolgte angstvoll jeden Handgriff des Arztes. Doch der wandte sich nicht an ihn, den Sohn, sondern an die Besitzerin des Hauses: »Nun, Frau Kamińska, er lebt, aber …«, er schüttelte nachdenklich den Kopf, »ich bezweifle, dass er das Bewusstsein wiedererlangen wird.« Niemand sprach ein Wort.

Stumm drängte Edward sich an dem ernsten Mann vorbei, der jetzt seine Instrumente einpackte. Schwer ließ er den Kopf auf die Schulter des Bewusstlosen fallen, dessen Atem noch immer gleichmäßig durch seine Kehle rauschte. Bald tropften seine Tränen auf das graue Hemd des Vaters. »Papa!«, flüsterte er immer wieder in den Stoff hinein. »Ich bin doch noch da! Papa! Ich lebe doch noch!« Doch obwohl er sein Herz ganz deutlich schlagen hörte, regte der Vater sich nicht.

Um ihn herum sprachen die Menschen über das, was geschehen war. Er hörte sie nicht. Verlor sich in der Berührung mit dem Vater, bis die sanfte Hand der Nachbarin auf seiner Schulter die Verbindung durchbrach.

***

Die verwinkelten Flure des Krankenhauses erinnerten ihn an einen Traum, den er einmal gehabt hatte. In diesem Traum waren es Serpentinen gewesen, die sich einen Berg hinaufwanden. Immer im Kreis hatte es ihn gezogen, immer höher und höher.

Für einen Moment glaubte er, seine Mutter wäre hinter ihm, als ihn jemand sanft am Arm berührte: »Junger Mann, wen suchen Sie? Kann ich Ihnen den Weg zeigen?« Vor ihm stand eine Nonne.

Beschämt steckte Edward die verschwitzten, dreckigen Hände in die Taschen seiner Hose und blickte auf seine ausgetretenen Arbeitsschuhe, die voller Kohlenstaub waren. »Ja!«, stieß er hervor. »Ich suche meinen Vater, Władysław Kraj.« »Bitte!«, fügte er schnell hinzu, als sie nicht gleich antwortete. »Seit wann ist Ihr Vater denn hier?« »Seit heute. Vor einer Stunde hat man ihn hierher gebracht!« Edward sah sich wild gestikulieren, versuchte die fliegenden Hände einzufangen, sie wieder in die Taschen seiner Hose zu stecken, doch sie blieben nicht an ihrem Platz: »Ich bin hier, um ihn abzuholen, können Sie mich zu ihm bringen?«

Die Nonne fasste seine Unterarme und drückte sie behutsam. »Alles wird gut, mein Junge! Du brauchst dich nicht zu fürchten«, sagte sie, dann strich sie ihm über das Haar und ergriff seine Hand.

Ergeben folgte er ihr durch unzählige Flure, vorbei an seltsamen Gerätschaften und ernsten jungen Frauen, die das Haar unter weißen Hauben trugen, bis sie einen Winkel im zweiten Stock erreichten. Dort setzte sie ihn auf einen der hölzernen Stühle, die auf dem grauen Steinfußboden Spalier standen.

Erst als die alte Frau gegangen war, bemerkte Edward, dass auf dem Gang noch andere Menschen waren. Sie redeten laut, sie weinten hemmungslos. Einen Augenblick lang schloss er die Augen, und als er sie wieder öffnete, fand er neben sich eine alte Frau, die voller Unruhe einen Rosenkranz durch ihre blauen, schrundigen Finger gleiten ließ. Die Menschen waren aufgeregt, manche von ihnen hatten Blut auf ihren Hemden und Jacken. Eine junge Frau schimpfte mit einem Jungen in Bolesławs Alter, der versuchte, die Klinke an einer der Türen auf dem langen Flur herunterzudrücken.

Zwei Bomben hatten die Stadt an diesem Tag getroffen. Man schätzte, dass dabei etwa hundert Menschen ihr Leben verloren hatten. Viele waren verletzt worden. Edward lauschte den Gesprächen, versuchte den Worten der Menschen zu folgen, doch ihm fehlte die Kraft, und bald verschmolzen die aufgeregten Stimmen zu einem einzigen Geräusch, das sich wie ein Teppich über die Bilder legte, die an ihm vorbeiflogen.

Krankenschwestern hasteten den Flur entlang, ihre weißen Kleider bauschten sich vor Eile, und Blut tropfte von einer zerschlagenen Hand auf den grauen Steinfußboden, wo es von einer jungen Frau mit einem Feudel wieder aufgewischt wurde. Edward schloss erneut die Augen. Das Chaos machte ihn schwindelig. Hinter seiner Stirn wuchs ein gewaltiger Schmerz, der von innen gegen seine Augen drückte und bald so übermächtig wurde, dass er beide Fäuste gegen seine Lider presste, um ihn zurückzuhalten.

Mitten in den brennenden Schmerz hinein berührte ihn jemand an der Schulter. Es war die Nonne: »Es wird gleich jemand kommen, der dich zu deinem Vater bringt«, wisperte sie. »Aber wo ist er?«, fragte Edward nervös und öffnete die Augen. »Warum kommt er nicht heraus, damit wir nach Hause gehen können?« Fahrig rieb er seine Handflächen an der Rückseite seiner Hose. »Wir haben gerade die Kohlen in den Keller gebracht«, fügte er verlegen hinzu, als ihr Blick einen Moment lang auf seinen Händen ruhte.

Und dann, ohne dass er wusste, woher diese Worte kamen, sagte er: »Mein kleiner Bruder ist tot.« Erschrocken beugte die Nonne sich zu ihm herunter, gerade wollte sie seine Hände ergreifen, als jemand vom Ende des Ganges nach ihr rief. Sie seufzte und bedeutete ihm zu warten.

Edward setzte sich wieder und starrte auf seine schwarzen Hände. Er hatte schon geglaubt, dass man ihn vergessen hatte, als endlich einer der Ärzte auf ihn zueilte. »Bist du Edward Kraj?«, fragte er und blickte auf eine schwarze Kladde in seiner Hand. »Ja!«, antwortete Edward. »Das bin ich. Ich bin hier, um meinen Vater abzuholen.«

***

Völlig still hockte er in der Küche der kleinen Wohnung und wartete, bis das insistierende Klopfen der Nachbarin endlich verstummte. »Es tut mir sehr leid, aber dein Vater wird nicht mehr gesund werden!« Dieser Satz klang ihm in den Ohren, seit er das Krankenhaus verlassen hatte. Er begriff nicht, wie es sein konnte, dass ein Mensch, dessen Nasenflügel sich mit jedem Atemzug blähten, dessen Haut ihre Wärme nicht verlor und dessen Hände seine umschlossen, wenn er sie drückte, dass der Mensch, der ihn für einen Augenblick sogar aus verschleierten Augen angesehen hatte, nie mehr gesund werden sollte.

Nicht ohne Ungeduld hatte er die Ärzte auf die Unsinnigkeit ihrer Behauptungen hingewiesen. Einer von ihnen hatte sich dann mit ihm neben das Bett des Vaters gesetzt, hatte versucht ihm zu erklären, was geschehen war. »Schlag–an–fall«, flüsterte er jetzt in die Stille des Raumes. »Schlag–an–fall.«

Am Abend schaltete er das Radio ein, das an diesem Tag ohne das leiseste Geknister seinen Dienst verrichtete. Zehntausende polnische Soldaten befanden sich auf dem von Marschall Edward Rydz-Śmigty befohlenen Rückzug hinter die Weichsel. Von zwei Seiten rückten deutsche Truppen auf sie, und trotz diplomatischer Verstimmungen zwischen England, Frankreich und Deutschland hatte sich bislang weder Präsident Lebrun noch Premierminister Chamberlain zu einem echten Eingriff in das Kriegsgeschehen durchringen können. So sprach das Radio und obwohl Edward sich zwang darüber nachzudenken, was das für ihn, für seinen Bruder Tadeusz, für Polen bedeuten würde, wollte daraus kein Bild entstehen.

Als die Nachrichtensendung zu Ende war, schaltete er das Gerät aus, bedeckte es sorgfältig mit einem Tuch und stellte es zurück in den Schrank, wie sein Vater es zu tun pflegte. Dann löschte er das Licht und schloss die Tür der Wohnstube hinter sich. Auf dem Weg in sein Zimmer traf er auf eine der Katzen, die ihn aus ihren grellen Augen eindringlich ansah. Was wollte sie ihm sagen? Er ging in die Hocke, streckte seine Hand nach dem Tier aus und lockte sie. Doch sofort machte sie kehrt und verschwand durch die halbgeöffnete Tür in die Küche. Offenbar hatte sie bloß auf eine Schale Milch gehofft.

»He Junge, sag mal, schläfst du?«, schrie eine harsche Stimme. Irritiert sah Edward auf seine Hände. Sie hielten eine Landkarte. Feuer fraß sich durch das Papier, doch es dauerte einen Moment, bis er begriff, was geschah. Panisch riss er sich die Mütze vom Kopf, um die Flamme damit zu ersticken.

Zu spät. Es blieb nichts als ein Fetzen, ein kleines Häufchen Asche und eine Handvoll schmerzender Fingerspitzen. Ganz schwarz waren sie, und als er sie fest auf die kühle Tischplatte drückte, um den Schmerz zu lindern, brannten sie glühend rote Löcher in den Tisch.

Als er schwitzend erwachte, waren seine Fingerspitzen weiß und unversehrt. Der Morgen war bereits angebrochen. Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Was sollte er nur mit sich anfangen, es schien alles sinnlos, doch im Bett wollte er auch nicht bleiben. Er würde etwas tun. Etwas Sinnvolles. Nur was? Sein Blick verharrte auf den Fensterrahmen. Da waren einige Risse, die der Vater vor Einbruch des Winters noch hatte abdichten wollen. Auch die Witwe Kowalska hatte sich im letzten Winter über die zugigen Fenster beklagt.

Ein paar Reste vom gestrigen Mittagessen dienten ihm als Frühstück, versprachen die tiefe schwarze Grube in seinem Bauch zu füllen. Es half nicht. Nach der Mahlzeit fühlte er sich noch immer leer, und seine Gedanken wanderten dünne Pfade entlang, die gesäumt waren mit den Geschichten seiner Mutter.

Er zwang seine Gedanken zurück ins Hier und Jetzt, dann holte er eine Leiter und Werkzeug, um den Mangel an den Fensterrahmen zu beheben. Die Arbeit war schnell getan, und als er sein Werk begutachtete, fühlte er sich tatsächlich besser. Kurz zögerte er, dann nahm er die Leiter und das Flickzeug und klopfte zunächst zaghaft, dann etwas lauter, an die Tür der Witwe Kowalska, die eine der kleineren Wohnungen im ersten Stock bewohnte.

»Edward, mein Junge, müsstest du nicht in der Schule sein?«, fragte sie erstaunt, als sie ihn vor ihrer Tür stehen sah. »Ich bin in Vertretung meines Vaters hier, Frau Kowalska, er ist heute nicht zu Hause, aber Sie wollten doch die Fenster dicht gemacht haben, nicht wahr?« Sie lächelte und trat zur Seite: »Aber ja, mein Junge. Wie aufmerksam von dir, komm herein.« Sie wies in ihr kleines Wohnzimmer: »Hier! Hier auf dieser Seite ist es am schlimmsten.«

Edward stieg auf die Leiter und besah sich die Risse. »Ich werde dir gleich einen guten Kakao kochen, es wird Zeit, dass du mal etwas auf die Rippen bekommst!«, sagte Frau Kowalska im Vorübergehen und griff mit ihrer knochigen Hand nach seinem Arm. Sie wohnte schon seit vielen Jahren in der Löwenstraße, die Kinder des Hausmeisters waren ihr ans Herz gewachsen, und sie verwöhnte Edward und Bolesław, wo sie nur konnte.

Die Arbeit ging schnell voran, und für einen Augenblick fühlte er sich richtig gut, als er sein Werk begutachtete. Mit der Hand fuhr er über den feuchten Putz: »So, Frau Kowalska, nun müsste es dicht sein.« Strahlend gab die alte Dame ihm die Tasse mit dem Kakao: »So ein geschickter und fleißiger Junge bist du, ich bin mir sicher, aus dir wird einmal etwas! Mein Mann, weißt du – er war auch so ein begabter Handwerker. Ein Künstler eigentlich. Als Holzschnitzer hat er gearbeitet …«

Wie eine Blinde betastete sie das blasse Gesicht einer Marienfigur auf der Kommode. Mit dem Zeigefinger fuhr sie über die schmale Nasenwurzel der Figur, dann ließ sie den Finger zwischen den weit geöffneten Augen der Heiligen ruhen. Edward trat neben sie und betrachtete das Kunstwerk. »Schön, nicht wahr?«, seufzte sie und berührte seine Schulter. »Aber es ist nur eine Holzfigur. Sie ist Kunst und sie ist Liebe, aber sie kann uns nicht helfen, egal, wie sehr wir sie anflehen.« Traurig schüttelte sie den Kopf und wanderte noch einmal mit den Fingerkuppen darüber. Ihre Stimme war brüchig, als sie sprach: »Weißt du, seit mein Mann einfach so gestorben ist, kann ich nicht mehr daran glauben. Nicht an Gott, nicht einmal an das Himmelreich – nein, mein Junge! Das Leben wird uns kein zweites Mal geschenkt.«

Einige Minuten lang saßen sie schweigend am Esstisch. Die Blicke der traurigen Frau ruhten liebevoll auf seinem Scheitel, während er den heißen Kakao trank. Als er ausgetrunken hatte, streckte sie die Hand nach der Tasse aus: »Noch eine?« Schon war sie auf dem Weg in die Küche, doch Edward hielt sie zurück: »Nein, danke Frau Kowalska, bitte machen Sie sich keine Mühe, ich muss jetzt gehen!« Dann klappte er die Leiter zusammen und reinigte die Fensterbank mit einem feuchten Tuch, bevor er mit großen Schritten zur Tür ging und sie öffnete.

»Nun«, sagte sie und lächelte wieder, »dann komm doch später noch einmal mit Bolesław herauf, wenn er von der Schule nach Hause kommt, ja? Ich habe einen Apfelkuchen im Ofen, da kriegt ihr beide ein großes Stück davon!« Edward nickte, bückte sich nach seinem Eimer und trat vor die Tür. »Wie macht er sich denn überhaupt in der Schule, der kleine Nachzügler?«, erkundigte sie sich noch. »Gut, Frau Kowalska, gut macht er sich!«, antwortete er hastig und sah sie nicht an, als er ihr zum Abschied die Hand drückte. »Aber jetzt muss ich wirklich los, der Vater – er wartet auf mich.«

»Papa, wie geht es dir heute?«, sagte er leise, als er sich neben das Bett des Vaters setzte. Mehr wusste er nicht zu sagen, blickte schweigend auf die weiße Decke, die sich mit jedem Atemzug des großen Mannes hob und senkte. Der Steinfußboden glänzte, und es roch – Edward brauchte einen Moment, um den bekannten Geruch zu identifizieren – nach Essig und Zitrone, wie nach jedem Frühjahrsputz in der Löwenstraße. Wenn der anstand, hatte seine Mutter die ganze Familie herumgescheucht, bis das Haus sauber und der Garten unkrautfrei gewesen war.

 

Der bittere Kakao, den sie ihm noch aufdrängte, brannte auf seiner Zunge, als er ihn eilig und ohne sich auch nur zu setzen herunterstürzte, doch er wollte das dumpfe Zimmer mit den deutschen Bibelsprüchen an der Wand und den staubigen Kissen auf dem speckigen grünen Sofa so schnell wie möglich verlassen. Auf ihre Fragen, ob er sich denn nicht fürchte, so ganz allein, ob er denn überhaupt zurechtkomme mit dem Haushalt, antwortete er hastig mit Nicken oder Kopfschütteln.

Sie ließ nicht locker, drängte und fragte, bis Edward unter der Jacke, die er nicht abgelegt hatte, der Schweiß ausbrach. »Edward!« Schwer legte sie ihre Hand auf seine Schulter: »Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Lösung ist, dass du da drüben so allein bleibst. Das ganze Haus verwalten, dich selbst versorgen und zur Schule gehen, das ist doch zu viel für einen Fünfzehnjährigen!«

Edward hielt ihren Blick: »Ich komme gut zurecht, Frau Regenreiter, schließlich weiß ich, was zu tun ist, und immer dann, wenn ich den Vater im Krankenhaus besuche, erklärt er mir, welche Aufgaben erledigt werden müssen. Außerdem –«, er zögerte eine Sekunde lang, »bin ich nicht fünfzehn, sondern bald siebzehn.« Er ahnte, dass sie ahnte, dass er log, doch er legte noch nach: »Und bald kommt er ja ohnehin zurück, der Vater, und dann werden wir alles wieder gemeinsam verwalten.«

Auf der Stirn der misstrauischen Frau erschien eine senkrechte Falte und sie legte die Hand unter sein Kinn, als sie ihn verabschiedete: »Ich werde dich im Auge behalten, Junge! Wenn du Dummheiten machst, dann muss ich das melden. Es geht nicht, dass ein Kind auf Dauer so ganz allein lebt, hörst du mich?«