Margot Friedlander / Malin Schwerdtfeger

«Versuche, dein Leben zu machen»

Als Jüdin versteckt in Berlin

Inhaltsverzeichnis

Widmung

«Versuche, dein Leben zu machen»

Guschi, Adele und der Onkel mit dem Dreirad: Kindheit in Berlin

«Hitler verschwindet nicht, wir sind es, die gehen müssen»: Eine Welt bricht zusammen

«Was willst du in Schanghai?»: Die letzte Tür schlägt zu

Der Stern in der Tasche: In den Untergrund

«Eine kleine, hübsche Nase»: Monate der Angst

Der Nazi und die Schweinehälften: Versteckt bei Camplairs

Im Vakuum: Theresienstadt

«Erkennst du mich nicht?»: Die Befreiung

Schwimme oder versinke: Das neue Leben

Liberty Ship: Der Abschied

«Wie kann ich darüber schreiben?»

Danksagung

 

Meinen Eltern

und meinem Bruder Ralph

gewidmet

«Versuche, dein Leben zu machen»

Ich gehe die Skalitzer Straße entlang. Es ist kurz nach zwei Uhr, ein grauer Januarmittag in Berlin-Kreuzberg. Auf den Hochbahngleisen rattert die U-Bahn. Viele Leute sind zu Fuß unterwegs, sie haben blasse, verschlossene Wintergesichter, ihre Blicke sind starr auf den Boden gerichtet. Auch ich bin so in Gedanken versunken, dass ich den Mann kaum wahrnehme, der ungefähr einen Häuserblock entfernt vor mir hergeht.

Es ist der 20. Januar 1943.

Ich denke nur an heute Abend. Wir wollen fort aus Berlin, meine Mutter, mein Bruder und ich. Unsere Flucht ist lange geplant. Einmal noch treffen wir uns in der Wohnung, um uns abzusprechen. Wenn alles gutgeht, sind dies meine letzten Stunden in Berlin. Wie wird es sein, dort, wo wir hinwollen? Es wird besser sein als hier, das glauben wir zumindest. Wir hoffen es. Es ist unsere letzte Hoffnung.

Unser Vorhaben erscheint ungeheuerlich, es nimmt meine Gedanken völlig in Anspruch. Nur nebenbei bemerke ich, dass es nicht mehr weit ist bis zur Nummer 32, unserer Wohnung. Hier kommt schon die Straßenlaterne. Noch wenige Schritte.

Dann fühle ich plötzlich, dass etwas nicht stimmt. Ich blicke auf. Der Mann, der vor mir hergeht – irgendetwas gefällt mir an ihm nicht. Ich starre auf seinen Rücken in dem dunklen Mantel, unwillkürlich übernehme ich den Rhythmus seiner Schritte, es sind kurze schnelle Schritte, als sei ihm kalt. Ich habe Angst und weiß nicht, warum.

Der Mann verschwindet in einem Hauseingang. Es ist die Nummer 32. Unwillkürlich presse ich meine Handtasche gegen die Brust, um den gelben Stern zu verdecken. Soll ich einfach weiterlaufen? Aber wohin? Ich muss nach Hause. Ich will nichts an unserem Plan ändern. Sonst wird alles scheitern.

Die Nummer 32 ist ein gewöhnliches Berliner Mietshaus, die ockergelbe Fassade nachgedunkelt vom Ruß der Kohleöfen. Ich öffne die Eingangstür und trete ins Treppenhaus. Es riecht nach Linoleum und kaltem Rauch.

Unsere Wohnung liegt im Vorderhaus, zweiter Stock. Von dem Mann ist nichts zu sehen. Ohne Zögern steige ich die Treppe hinauf. Vielleicht bin ich einfach zu nervös. Es wird sich schon zeigen, dass meine Sorgen unbegründet sind. Der Mann ist sicher nicht mehr da. Vielleicht ist er in einer Wohnung verschwunden, vielleicht besucht er jemanden, oder er hat sich in der Hausnummer geirrt und kommt gleich die Treppe herunter.

Doch dann sehe ich ihn. Er steht in der zweiten Etage, direkt vor unserer Wohnung, lehnt mit dem Rücken an unserer Tür. Ich schaue ihn nicht an, starre auf einen unsichtbaren Punkt in der Luft.

Am liebsten würde ich wieder hinuntergehen, doch zum Umkehren ist es zu spät. Mir bleibt keine Wahl. Meine Schritte hallen durchs Treppenhaus, im selben Rhythmus wie bisher, nicht schneller, nicht langsamer. Noch immer halte ich die Handtasche gegen meine Brust.

Dann muss ich an ihm vorbei. Ich bin ihm so nah, dass er mich berühren könnte, aber ich schaue ihn nicht an, ich verwende all meine Kraft darauf, teilnahmslos zu wirken. Was will dieser Mann, warum steht er vor unserer Tür? Auf wen wartet er?

Sein Gesicht ist nichts als ein heller Fleck über einem dunklen Mantel, der nur kurz durch mein Blickfeld wischt.

Der Mann rührt sich nicht.

In der dritten Etage bleibe ich stehen. Ich muss mich schnell entscheiden. Kurz entschlossen klingle ich an einer Tür. Die Nachbarn, die hier wohnen, kenne ich kaum, obwohl ihre Wohnung direkt über unserer liegt. Es sind Nichtjuden, ich habe noch kein Wort mit ihnen gewechselt. Jetzt bete ich, dass sie zu Hause sind.

Tatsächlich höre ich Schritte, die sich der Tür nähern, kurze, energische Schritte, Absätze klappern über den Dielenboden, es sind die Schritte einer Frau.

Die Tür öffnet sich, und die Nachbarin erkennt mich sofort. Ich habe Angst, dass sie mich laut begrüßt, doch sie bleibt stumm, winkt mich in ihre Wohnung hinein und schließt die Tür.

Jetzt wird mir klar, dass etwas Schreckliches geschehen sein muss. Ich sehe es in ihren Augen. Sie bittet mich ins Wohnzimmer, zeigt auf einen Stuhl. Ich setze mich, sie nimmt mir gegenüber Platz. «Sie sind gekommen», sagt die Nachbarin leise, als könnte der Mann auf dem Treppenabsatz noch immer mithören, «Gestapo.»

«Wann?», frage ich. Ich höre meine eigene Stimme wie von ferne. Der Raum schließt sich enger um mich, und das Deckenlicht erscheint mir plötzlich dunkler, als sei die Glühbirne kurz vor dem Erlöschen.

«Am Vormittag», sagt sie. «Vor ein paar Stunden. Plötzlich hat jemand durchs Treppenhaus gebrüllt: ‹Aufmachen, aufmachen!› Dann das Poltern auf der Treppe. Ich bin zum Fenster gelaufen, da kamen sie gerade zur Tür heraus. Sie haben sie in den Polizeiwagen gestoßen.»

«Wen?», frage ich.

«Frau Meißner», sagt die Nachbarin, «und noch zwei andere, ein Mann und eine Frau, etwa Mitte zwanzig. Ich kannte sie nicht. Und der Junge.»

Mein Bruder Ralph.

«Meine Mutter?»

Die Nachbarin schüttelt den Kopf.

Meine Mutter ist nicht dabei gewesen. Etwa eine Stunde nachdem die Gestapo verschwunden war, sei sie gekommen, erzählt die Nachbarin. Sie habe unsere Tür versiegelt gefunden.

«Ich habe ihr alles erzählt.»

«Hat sie nach mir gefragt?»

«Ich habe ihr gesagt, dass du nicht da warst.»

«Wo ist sie jetzt?»

«Zu Nachbarn gegangen. Juden. Irgendwo hier in der Straße.»

Ich weiß sofort, wen sie meint. Ein Ehepaar, das wir flüchtig kennen, wohnt drei Häuser weiter. Dort also ist sie, ganz nah, aber ich kann nicht zu ihr. Wahrscheinlich steht der Mann noch immer vor unserer Tür. Ich kann nicht fortgehen. Ich kann nichts tun als hier sitzen und warten.

Die Nachbarin überlässt mich meinen Gedanken. Ich bin ihr dankbar, denn sie verlangt nicht, dass ich gehen soll. Sie bleibt einfach sitzen, genau wie ich, die Ellbogen auf die Tischplatte, das Gesicht in die Hände gestützt. Ich kenne sie kaum, sie kann mir nicht helfen, und doch ist es gut, dass sie mich hier sein lässt. Es ist gut, dass ich schweigen darf.

Allmählich wird es Nachmittag. Der blasse Januarhimmel, von dem ich einen kleinen Ausschnitt durch das Küchenfenster sehen kann, ist inzwischen dunkelgrau geworden. Irgendwann stehe ich auf und verabschiede mich. Ich muss gehen. Sofort. Ganz egal, ob der Mann noch da ist.

Langsam steige ich die Treppen hinunter. Er wartet nicht mehr vor unserer Tür. Jetzt kann ich auch das Siegel erkennen, das quer über Schlüsselloch und Türrahmen klebt.

Erst unten auf der Skalitzer Straße fällt die Starre plötzlich von mir ab. Meine Gedanken rasen, alles muss schnell gehen. Ich weiß nicht, wie lange ich bei der Nachbarin gesessen habe, gewiss mehr als eine Stunde, vielleicht zwei. Meine Mutter wartet auf mich, sicher macht sie sich Sorgen.

Wir müssen überlegen, was wir jetzt tun können. Wir müssen meinen Bruder finden oder uns verstecken. Was auch immer geschieht: Zusammen finden wir einen Weg.

Ich stehe vor dem Nachbarhaus. Gleich werde ich meine Mutter sehen. Es dämmert schon. Das Ehepaar wartet am erleuchteten Fenster, ich kann die Umrisse hinter der Gardine erkennen. Ich schaue auf, suche nach der vertrauten Gestalt meiner Mutter. Aber sie ist nicht da.

Die Frau öffnet mir die Tür.

«Wo ist sie?», frage ich atemlos.

Die Frau wartet, bis ich im Flur bin. Dann schließt sie die Tür.

«Sie ist gegangen.»

Im ersten Moment verstehe ich nicht. Bin ich zu spät? Sucht sie mich?

«Sie hat eine Nachricht für dich hinterlassen.» Ich warte darauf, dass die Frau mir etwas überreicht, aber sie steht einfach so da. Ich suche nach einem Zettel in ihrer Hand, nach irgendetwas Geschriebenem, das meine Mutter mir hinterlassen hat.

«Ich soll dir etwas ausrichten.» Und dann sagt sie mir, was mir meine Mutter nicht mehr selbst sagen kann: «‹Ich habe mich entschlossen, zur Polizei zu gehen. Ich gehe mit Ralph, wohin auch immer das sein mag. Versuche, dein Leben zu machen.›»

Das sollen ihre Worte sein? Es ist, als hätten sie nichts mit mir zu tun. Kalte Worte aus dem Mund fremder Leute.

Ich schaue die Frau fragend an.

«Das hat sie gesagt. Sonst nichts. Dann ist sie gegangen. Versuche, dein Leben zu machen.» Sie wiederholt den Satz. Erst beim zweiten Mal begreife ich seinen Sinn. Ein grausamer Satz, hart und gleichgültig.

Ich stehe da, mit nichts außer diesem Satz. Ich habe nicht einmal eine einzige Zeile in ihrer Handschrift.

Jetzt greift die Frau nach etwas, das auf der Flurkommode steht. Sie drückt es mir in die Hand. Ich fühle glattes Leder. Erst dann sehe ich, was es ist: die Handtasche meiner Mutter. Ich öffne sie. Ein vertrauter Geruch steigt in meine Nase: der Geruch nach angerautem Leder, Parfum und Bleistiftminen, nach Seife, nassem Mantel und Papier, nach Regentagen. Ihr ganz eigener Geruch.

Ich fasse in die Tasche und ziehe ihr Adressbüchlein hervor, ein kleines Heftchen aus Karopapier. Der Umschlag hat sich längst abgelöst. An der Kante das Register, ein Alphabet, abwechselnd in Schwarz und Rot, einige Buchstaben sind abgegriffener als andere. Viele Adressen sind ordentlich mit Füllfederhalter geschrieben, andere mit Bleistift eingetragen und flüchtig hingekritzelt: die Adressen von Reisebüros, Visastellen, Konsulaten und Kontakten, die später vielleicht nützlich sein könnten.

Doch in der Tasche ist noch mehr. Auf ihrem Boden fühle ich etwas Schweres, Kühles, Glattes. Ich ziehe es hervor. Es ist ihre Bernsteinkette. Eine halblange Kette aus mattpolierten Bernsteinen, die zur Mitte hin größer werden. Einige der Steine sind gold- oder senfgelb, andere dunkler, fast rötlich.

Ich schließe die Tasche und gehe zur Tür. Es gibt keinen Grund, noch länger zu bleiben. Die Frau beobachtet mich, sie hält mich nicht auf, fragt nicht, wohin ich gehe. «Auf Wiedersehen», sage ich.

«Auf Wiedersehen», sagt sie. Wir wissen, es wird kein Wiedersehen geben.

 

Am Tag, an dem ich untertauche, nehme ich den Judenstern ab.

Ich stehe auf der Skalitzer Straße. Automatisch setze ich einen Fuß vor den anderen. Es ist dunkel geworden und sehr kalt. Ich kann die Nacht nicht auf der Straße verbringen. Aber wohin soll ich gehen? Wo soll ich schlafen? Auf einer Bank? Ich würde erfrieren. Ich muss eine Entscheidung treffen. Ich bin gerade einundzwanzig Jahre alt, ich habe noch nie eine Entscheidung ganz allein getroffen. Ich habe noch kein eigenes Leben. Mein Leben ist das Leben mit meiner Mutter, meinem Bruder, meiner Familie. Dieses Leben ist nun vorbei. Warum hat meine Mutter nicht auf mich gewartet?

Ich laufe weiter, mechanisch, ohne Ziel. Plötzlich stehe ich, ohne zu wissen, wie ich dorthin gelangt bin, vor der Wohnung von jüdischen Freunden, Siggie Hirsch und seiner Schwester. Ich klingle. Sie sind zu Hause, ich kann die Nacht bei ihnen verbringen, einige Nächte, meine ersten Nächte im Untergrund.

Früh am Morgen verlasse ich das Haus, laufe durch die Januardunkelheit. Der Untergrund – das ist bisher nichts als ein zielloses Umherlaufen in Straßen, die ich gut kenne, die aber plötzlich fremd und gefährlich erscheinen. Ab heute muss ich fürchten, jemandem zu begegnen, der mich kennt. Ich senke den Kopf, wenn andere Menschen mir entgegenkommen. Aber niemand beachtet mich. Die Gesichter der Leute sind hinter Schals und Mantelkragen versteckt. Sie haben es eilig, sie gehen zur Arbeit.

Ich gehe nirgendwohin. Ich gehe einfach.

Es wird hell. Allmählich öffnen die Bäckereien und Zeitungskioske, dann alle anderen Geschäfte. Irgendwann am Vormittag komme ich an einem Friseurladen vorbei. Er ist leer, nur die Friseurin ist da, sie fegt den Fußboden und wartet auf Kundschaft.

Ich treffe eine Entscheidung.

«Was kann ich für Sie tun?» Die Friseurin lächelt mich an.

«Einmal Haare färben, bitte!»

Ich setze mich auf den Frisierstuhl.

«Welche Farbe hätten Sie denn gern?»

Ich überlege. «Rot», sage ich.

Ich lasse mir die Haare färben, tizianrot. Juden haben keine roten Haare, denken die Leute. Ich will nichtjüdisch aussehen. Meine schwarzen Haare nehmen die Farbe schlecht an, die Kopfhaut brennt, es tut weh, aber ich will unbedingt anders aussehen. Ich bin nicht mehr die Margot Bendheim von gestern. Diese Margot darf es nicht mehr geben.

Ich bin untergetaucht.

«Versuche, dein Leben zu machen» – ich muss es versuchen. An diesem und an allen folgenden Tagen meiner Untergrundzeit muss ich es versuchen, so, wie meine Mutter es mir aufgetragen hat.