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Deutsche Erstausgabe (ePub) November 2018

 

Verlagsrechte © 2018 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

 

ISBN-13: 978-3-95823-730-8

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de


 

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Klappentext:

 

Seit Theo damals mit seinem Vater bei Marc und seiner Mutter eingezogen ist, können sich die beiden Stiefbrüder absolut nicht ausstehen. Auch nachdem beide längst zu Hause ausgezogen sind, hat sich das nicht geändert, was Familienfeste zu einer großen Herausforderung macht. Doch neuerdings verspürt Marc gar nicht mehr so stark den Drang, bei jeder Gelegenheit mit Theo zu streiten, eher im Gegenteil. Plötzlich fallen ihm Dinge an Theo auf, die er in den letzten Jahren übersehen haben muss, Dinge, die Marc tiefer berühren, als es je ein Mann zuvor geschafft hat...


 

 

Kapitel 1

 

 

Heiligabend, vierzehn Uhr. Aus der kleinen Stereoanlage neben dem Fernseher erklingen klassische Weihnachtslieder, der Geruch nach Tanne, selbst gebackenen Plätzchen, Kuchen und meiner Kindheit liegt in der Luft. Ich hänge zusammen mit Thomas, meinem Stiefvater, die letzten Kugeln an den Weihnachtsbaum, während er mir witzige Anekdoten aus seinem Alltag als Call-Center-Agent erzählt und Mama in der Küche werkelt. Die Gans ist gefüllt und wartet nur darauf, in den Ofen zu wandern, damit wir sie alle gemeinsam morgen essen können. Kurzum: die perfekte Familienidylle.

Leider wird diese gelöste Atmosphäre nur so lange anhalten, bis mein Stiefbruder Theodor endlich mal auftaucht. Eigentlich ist das gemeinsame Schmücken des Weihnachtsbaums Familientradition, aber vielleicht ist es ganz gut, dass Thomas und ich das allein machen, denn wahrscheinlich hätte ich mich mittlerweile dreimal mit Dorie gestritten.

Kaum habe ich den Gedanken zu Ende gebracht, fällt die Haustür ins Schloss.

»Ich bin zu spät, tut mir leid!«, erklingt Dories gehetzte Stimme aus Richtung Flur und kurz darauf steht er in der Wohnzimmertür. »Ihr habt ja schon angefangen.«

»Wir sind gleich fertig«, korrigiere ich tadelnd und hänge demonstrativ eine weitere rote Kugel an den Baum.

»Theo!«, ruft meine Mutter verzückt, eilt aus der angrenzenden Küche und fällt meinem Stiefbruder um den Hals. »Schön, dass du endlich da bist. Zieh die Jacke aus und mach's dir bequem. Es gibt gleich Kaffee.«

»Tut mir echt leid, aber ich bin nicht eher aus dem Laden gekommen und die Straßen sind eine Katastrophe.«

»Kein Problem«, meint Mama abwinkend. »Jetzt bist du ja da.«

Thomas geht zu seinem Sohn, strahlt mit ihm um die Wette und drückt ihn kurz an sich. »Wieso musstest du denn auch an Weihnachten arbeiten?«

Dorie wird rot und weicht dem Blick seines Vaters aus. »Die brauchten halt jemanden und ich dachte ja nicht, dass noch so viel los sein würde.«

Ich bin mir ziemlich sicher, dass er gerade lügt, denn er hat garantiert lediglich wegen des Geldes eine Schicht in der Drogerie übernommen, in der er neben seinem Studium jobbt.

»Na, jetzt bist du ja da«, wiederholt Thomas Mamas Worte und zerrt Dorie ins Wohnzimmer, kaum dass der aus seinen abgewetzten Sneakers gestiegen ist und seine Jacke ausgezogen hat. »Du kannst uns bei den restlichen Kugeln helfen. Annegret kommt gleich und ihr wisst ja, wie sie ist, wenn wir uns nicht ausschließlich um sie kümmern, sobald sie ihren dicken Hintern auf dem Sofa geparkt hat.«

»Thomas!«

Beim strengen Klang der Stimme meiner Mutter zuckt er zusammen, verdreht dann aber die Augen. »Willst du es etwa leugnen?«

»Sie ist einsam, seit Onkel Herrmann gestorben ist«, wirft Dorie ein, schnappt sich einen goldenen Stern und richtet seinen Blick dann auf den Baum. Keine Ahnung, warum er meine Tante verteidigt, schließlich ist sie die Schwester meiner Mutter und er somit nicht mit ihr verwandt. Zudem mag er sie nicht sonderlich, da sie ihn bei jedem Besuch herablassend behandelt und für seine sexuelle Orientierung drangsaliert. Natürlich hat sie dazu kein Recht, schließlich ist schwul zu sein kein Verbrechen, doch das hält sie nicht zurück.

Verdammt, nicht mal ich kann die olle Hexe leiden und ich bin mit ihr verwandt. Noch dazu ist sie meine Patentante, doch das hat weder sie noch mich je interessiert. Glücklicherweise haben wir uns in den letzten Jahren nur noch zu Mamas Geburtstag gesehen, doch dieses Jahr wird Tante Annegret alle drei Feiertage mit uns verbringen. Niemand will das, aber Mama hat ein zu weiches Herz, um ihre verbitterte Schwester über die Festtage allein zu Hause versauern zu lassen.

»Genau, und weil es ihr erstes Weihnachten allein ist, werden wir dafür sorgen, dass sie sich nicht so einsam fühlt«, ruft Mama aus der Küche. »Wir haben genug Hochprozentiges im Haus, um es durchzustehen.«

Dorie lacht leise, während er den Engel, den ich vorhin aufgehängt habe, abnimmt und ihn durch seinen Stern ersetzt. »Wo schläft sie denn?«

»Hey, was soll das?«, protestiere ich und nehme ihm den Engel aus der Hand.

»Der Stern passt besser an die Stelle«, meint Dorie lapidar und deutet auf einen freien Ast weiter oben. »Häng den Engel da hin, da kommt er gut zur Geltung.«

»Ich hänge den Engel auf, wo ich will. Wärst du pünktlich hier gewesen, hättest du einen Platz aussuchen können. Jetzt musst du nehmen, was noch frei ist.« Mit diesen Worten tausche ich den Baumschmuck wieder um und hänge den Stern nach oben.

Dorie verdreht die Augen und nimmt sich den nächsten Anhänger aus der Schachtel. »Du benimmst dich wie ein Kleinkind, Marci.«

Ich hasse es, wenn man meinen Namen verniedlicht, was er ganz genau weiß und nur tut, um mich zu provozieren. »Weil ich keinen Bock habe, dass du hier auftauchst und alles durcheinanderbringst?«

»Der Engel sieht an der Stelle nun mal blöd aus. Die Zweige sind zu dicht, man sieht ihn kaum. Der kleinere Stern passt viel besser in die Lücke, das musst du doch einsehen.«

»Gar nichts muss ich!« Nur weil er Talent zum Malen und Zeichnen hat, muss er sich hier noch lange nicht so aufspielen.

Thomas räuspert sich. »Jungs.«

»Siehst du, wie ein Kleinkind. Fehlt nur noch, dass du gleich anfängst zu heulen.«

Ich schnaube belustigt. »Oh bitte. Wer von uns ist als Kind in den Heulsusentopf gefallen?«

Dorie lacht auf, doch wir beide wissen, dass er ziemlich nah am Wasser gebaut ist. »Heulsusentopf? Wie lange hast du gebraucht, um dir das Wort einfallen zu lassen, Giftzwerg?«

»Nicht so lange, wie du gleich brauchst, bis Tränen laufen, Prinzessin.«

»Es reicht«, versucht Thomas es erneut, aber es ist immer das Gleiche. Dorie und ich in einem Raum führt unweigerlich zu Streit. Das war schon so, als wir Teenager waren, und wird sich vermutlich niemals ändern.

Wir sind einfach zu verschieden. Er ist zwei Jahre jünger als ich, mickrig und drahtig, wohingegen ich, zugegeben nur ein paar Zentimeter, aber immerhin, größer bin als er und dank meines jahrelangen Trainings im Fitnessstudio nicht übermäßig, aber so muskulös bin, wie er es nie werden wird. Während ich seit dem Abschluss meines IT-Studiums als Mitarbeiter in der Produktentwicklung in der Düsseldorfer Firma meines leiblichen Vaters arbeite, liebt Dorie es, mit Menschen zu arbeiten. Er studiert in Wuppertal Geschichte, Kunst und Musik auf Lehramt, was sehr gut zu ihm passt. Mein Stiefbruder ist ruhig, vernünftig, strebsam und ziemlich langweilig. Die einzigen Situationen, in denen ich Dorie je leidenschaftlich erlebt habe, sind unsere Streits. Davon gab es in den letzten zwölf Jahren, seitdem er und sein Vater bei Mama und mir eingezogen sind, allerdings sehr viele.

Ich war vierzehn, als meine Mutter mir offenbarte, dass sie sich schon monatelang heimlich mit ihrer Jugendliebe getroffen und neu in ihn verliebt hat. Meine Eltern hatten sich schon vor langer Zeit getrennt, daher habe ich mich wirklich für sie gefreut. Als Thomas und Theodor dann jedoch bei uns einzogen, war es vorbei mit meiner Begeisterung.

Ich weiß, dass es kindisch war, aber ich wollte unser Haus, mein Spielzeug und meine Mutter nicht teilen. Heute bin ich froh, dass Mama und Thomas trotz Dories und meiner unablässigen Streitereien durchgehalten haben und glücklich miteinander sind, denn jeder Blinde sieht, dass sie wie füreinander geschaffen sind. Aber das bedeutet nicht, dass sich das Verhältnis zwischen Dorie und mir, obwohl wir erwachsen sind, gebessert hat.

Irgendwie sind wir nie miteinander warm geworden und die anfängliche Abneigung hat sich immer weiter verfestigt. Ich habe das Gefühl, je älter wir werden, desto früher eskaliert die Situation zwischen uns bei jedem Aufeinandertreffen. Dabei hatte ich mir vorgenommen und Mama versprochen, dass wir uns dieses Jahr zusammenreißen würden.

»Marc, Theodor, es ist Weihnachten!«, schimpft Mama, die mit einem Tablett voller Geschirr ins Zimmer kommt. »Annegret wird in deinem Zimmer schlafen, Theo, wenn es dir nichts ausmacht. Du kannst auf dem Sofa schlafen oder auf einer Luftmatratze in Marcs Zimmer.«

»Pest oder Cholera«, murmelt Dorie kopfschüttelnd und hängt einen weiteren Stern an den Baum. »Dann die Couch.«

»Alles klar«, meint Mama knapp, stellt das Tablett ab und flitzt wieder in die Küche. »Dann kannst du ein Auge auf den Baum werfen. Zippi und Zappi sind schon ganz närrisch.«

»Und wann schlafe ich dann?«, ruft er ihr stirnrunzelnd hinterher, woraufhin Thomas gluckst.

»Du hast die Katzen damals angeschleppt«, erinnere ich.

»Da hat er recht«, bestätigt mein Stiefvater noch immer grinsend.

»Das war vor elf Jahren!«, wirft Dorie seufzend ein. »Konnte ja nicht ahnen, dass die unsterblich sind.«

Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen, denn sein trockener Humor ist das Einzige, das ich an ihm halbwegs leiden kann. Allerdings wirft er mir sofort einen Mörderblick zu, sodass ich die Augen verdrehe und die letzte Kugel aus dem Karton nehme.

»Mama?«, rufe ich, als sämtliche Deko hängt, und sobald sie zur Tür reinschaut, deute ich auf den Baum. »Gefällt?«

Sie schürzt die Lippen, kommt zu uns und betrachtet die Tanne einen Moment. »Tausch mal den Engel und den Stern da.« Als ich widerstrebend gehorche, nickt sie zufrieden. »Perfekt. Habt ihr toll gemacht, Jungs. Danke.«

Mit einem viel zu selbstgefälligen Grinsen wendet Dorie sich zum Tisch um und beginnt, das Geschirr zu verteilen. Ich bringe die leeren Kartons auf den Dachboden zurück und nutze die Gelegenheit, um meine Geschenke aus meinem Zimmer zu holen und sie anschließend unter den Baum zu legen. Das Stirnrunzeln meines Stiefbruders entgeht mir nicht, doch dann klingelt sein Handy.

Er wirft einen Blick auf das Display und hält sich das Telefon mit einem Lächeln auf den Lippen kopfschüttelnd ans Ohr. »Was gibt's? Ja, bin ich, ich hätte dir schon noch geschrieben, musste nur erst den Baum davor bewahren, von meinem Bruder verschandelt zu werden.« Er grinst, als ich schnaube und ihm einen bösen Blick zuwerfe. »Jepp, haben wir, alles wie immer. Bist du schon unterwegs? Echt? Shit, aber die Straßen sind teilweise wirklich höllisch glatt, da ist die Bahn die bessere Wahl. Hätte ich vielleicht auch genommen, aber hier in unserem kleinen Kaff liegen nicht mal Gleise.«

Mich interessiert brennend, mit wem er da telefoniert. Einen festen Freund hat er nicht, denn das hätte ich über den Familienbuschfunk oder Facebook schon erfahren. Wir sind dort zwar nicht befreundet – was einiges über unser Verhältnis aussagt –, aber da wir gemeinsame Freunde von früher haben, die jeden Pups liken oder kommentieren, bin ich immer ziemlich darüber im Bilde, was bei Dorie so läuft oder eben auch nicht. Nicht, dass ich ihn stalke oder so. Seine Posts erscheinen nur regelmäßig in meinem Newsfeed und dann lese ich sie eben auch.

Als die Türklingel ertönt, seufzt Dorie leise. »Okay, Paul, ich muss Schluss machen, Marcs Tante steht vor der Tür. Mhm, die. Ich werd's schon überstehen. Schreib mir, wenn du es irgendwann zu deinen Eltern geschafft hast. Danke. Bis dann.«

Während Thomas zur Tür geht, lässt Dorie das Handy sinken, tippt noch kurz darauf herum, dann atmet er tief durch, setzt ein falsches Lächeln auf und dreht sich zur Tür um. Ich komme nicht umhin, ihn dafür zu bewundern, denn die nächsten drei Tage mit Tante Annegret werden vermutlich absolut nervig. Dennoch ist er unseren Eltern zuliebe hier. Offenbar hat sogar sein bester Freund Paul ihm Mut zugesprochen.

Ich glaube jedenfalls, dass Paul sein bester Freund ist, denn er kommentiert alles, was Dorie postet, die beiden wohnen zusammen in einer WG und ich habe schon einige Party- und sogar Urlaubsfotos von ihnen gesehen, doch Mama meinte, die zwei wären definitiv kein Paar. Selbst wenn, wäre es mir auch egal.

»Dann mal auf in den Kampf, hm?«, sage ich, weil ich gerade das Bedürfnis bekomme, meinem Stiefbruder ebenfalls Mut zuzusprechen.

Er verzieht das Gesicht. »Ja. Du wirst schon deinen Spaß haben.«

»So war das gar nicht gemeint«, verteidige ich mich, als die Wohnzimmertür aufgeht und Thomas – bereits sichtlich genervt – hereinkommt, gefolgt von Tante Annegret und Mama.

»Marc, mein Lieber!«, flötet meine Tante und zerrt mich in eine Wolke Altfrauen-Parfüm. »Frohe Weihnachten.«

»Dir auch, Tante Annegret«, bringe ich hervor, während sich blumiger Geschmack auf meine Zunge legt. »Bist du gut hergekommen?« Sie wohnt nur ein paar Dörfer weiter, aber es herrschen Temperaturen knapp unter null und seit einigen Stunden wechseln sich Schnee und Regen ab.

»Oh, die Straßen sind furchtbar glatt und die Fußwege hat auch kaum jemand gestreut, aber ich bin mit dem Taxi gekommen.«

»Wir freuen uns, dass du da bist«, lüge ich und löse mich endlich von ihr.

Dorie steht noch immer mit falschem Lächeln neben dem Baum, hält jetzt aber eine der Katzen auf dem Arm, die die Gunst der Stunde genutzt haben muss, um ins Zimmer zu gelangen. »Hallo, Tante Annegret. Frohe Weihnachten.«

Sie blickt ihn einmal abschätzig von oben bis unten an, dann nickt sie knapp. »Wünsche ich dir auch, Theodor.«

»Setz dich doch, Tante Annegret«, sage ich schnell und dirigiere sie zur Couch. »Dorie hat den Tisch schon gedeckt und gleich gibt es Kaffee und Mamas selbst gemachte Plätzchen.«

»Hör auf, mich so zu nennen, Idiot«, faucht Dorie mich an, während wir gleichzeitig in die Küche flüchten.

»Was?« Verwirrt blicke ich ihm nach, als er sich Torten- und Gebäckteller schnappt und ins Wohnzimmer zurückstolziert. Dann fällt mir auf, was er meint, und ich seufze über meine eigene Dummheit, aber irgendwie wird er für mich wohl immer der chaotische, herzensgute und absolut nervige Dorie bleiben. Als Kind hat er den Film Findet Nemo geliebt und ihn an jedem verdammten Wochenende mindestens einmal geguckt. Irgendwann fiel mir auf, dass diese bekloppte Fischdame Dorie die gleiche Farbe hat wie Theodors Augen, und da er ebenso verpeilt war, fing ich an, ihn Dorie zu nennen. Er hat es gehasst, weshalb ich es erst recht getan habe. Eben ist es mir allerdings rausgerutscht, was mir nicht noch mal vor meiner Tante passieren sollte, für die diese Anekdote ein gefundenes Fressen wäre.

Mit der Kaffeekanne in der Hand gehe ich zum Tisch zurück und schenke jedem ein. Dorie sitzt auf dem Platz am weitesten von Tante Annegret entfernt und hört eindeutig gelangweilt ihrem Geschwafel über unfähige Zeitungsboten zu. Ich setze mich auf den noch einzigen freien Stuhl neben ihn und stoße meinen Ellenbogen gegen seinen Oberarm.

Erschrocken zuckt er zusammen und fährt sich mit der Hand übers Gesicht, um das Gähnen zu verstecken, das er wohl nicht mehr unterdrücken konnte. »Nimmst du Zucker in deinen Kaffee, Tante Annegret?«, frage ich, als es mir ebenfalls schwerfällt, einen interessierten Gesichtsausdruck beizubehalten. »Dann hole ich ihn schnell.«

»Nur Milch, danke, Marc.« Ihr Lächeln ist echt, aber schließlich bin ich auch ihr einziger Neffe, und neben Dorie glänze ich in ihren Augen sowieso immer.

Meine Mutter blickt mich dankbar an und greift dann nach dem Tortenheber. »Wer möchte denn ein Stück Weihnachtskuchen?«

»Hast du ihn selbst gebacken?«, will meine Tante wissen, reicht aber bereits ihren Teller rüber.

»Ja, ganz frisch heute Morgen. Es ist ein Streuselkuchen mit Äpfeln und gebrannten Mandeln. Die Jungs lieben ihn.«

Grinsend halten wir ihr unsere Teller hin und kurz darauf hört man nur noch Tante Annegrets Gefasel und unser Tassen- und Tellerklappern.

»Habt ihr vor, morgen zur Disko der Dorfjugend zu gehen?«, will Thomas schließlich wissen.

»Ich schon«, antworte ich schulterzuckend, schließlich kann ich nicht für meinen Stiefbruder sprechen. »Es kommen einige von früher. Wird bestimmt ganz nett.«

»Ich wollte zumindest mal kurz reinschauen«, meint Dorie. »Mal sehen, ob jemand da ist, den ich kenne.«

Sein Vater winkt ab. »Ganz bestimmt. Volkmars Sohn Gustav ist dieses Jahr an Weihnachten zu Hause. Der war doch mit dir in einem Jahrgang, da wird er bestimmt auch zum Dorfsaal gehen und schauen, ob er jemand Bekanntes trifft, hm?«

»Ganz toll«, murmelt Dorie und weicht dem Blick seines Vaters aus. Offenbar ist es noch immer ein Geheimnis, dass Dorie seine Unschuld an seinen Klassenkameraden verloren hat, der allerdings nur eine schnelle Nummer und keine Romanze wollte. Dorie hatte mindestens zwei Monate Liebeskummer, sich aber geweigert, uns den Grund zu verraten. Ich weiß es von Gustavs älterer Cousine, aber offenbar haben Mama und Thomas nichts davon erfahren.

Tante Annegret nutzt die Gesprächspause und richtet ihre Aufmerksamkeit auf mich. »Sag mal, Marc, wann gedenkst du denn, deinen Eltern einen Enkel zu schenken? Dein Stiefbruder wird ja kaum für Nachwuchs sorgen, also wirst du das übernehmen müssen.«

»Ähm... also, so bald wird das nicht der Fall sein«, sage ich ausweichend und lache peinlich berührt.

»Das ist aber schade. Hast du denn wenigstens eine nette Freundin?«

»Nein, die habe ich nicht«, antworte ich geduldig.

»Dann kann das ja auch nichts werden. Langsam solltest du dich da ranhalten. Du wirst schließlich auch nicht jünger. Wie alt bist du gleich noch mal?«

»Sechsundzwanzig.«

»Na, dann wird es aber höchste Zeit. Andere haben in dem Alter schon das zweite Kind in der Mache, wenn du verstehst, was ich meine. Darüber weißt du doch Bescheid, oder?«

»Oh Gott«, stöhne ich, während Dorie leise lacht.

»Die Zeiten haben sich geändert, Annegret«, wirft Thomas ein. »Die jungen Leute bekommen nicht mehr so früh Nachwuchs, sondern konzentrieren sich erst mal auf ihre Karriere und legen etwas Geld beiseite, bevor sie eine Familie gründen. Ich finde das ganz vernünftig.«

Tante Annegret zieht die Augenbrauen hoch. »Na, wenn du meinst. Ich hätte ja gern Kinder gehabt, aber die sind mir leider verwehrt geblieben. Na ja, es ist nicht jedem vergönnt, nicht wahr?« Ihr Blick trifft Dorie kurz, dann widmet sie sich wieder ihrem Kuchen.

»Schwule dürfen mittlerweile heiraten und können Kinder adoptieren«, sagt mein Stiefbruder plötzlich mit leiser, aber fester Stimme. »Es ist also nicht ausgeschlossen, dass ich irgendwann mal einen Mann und Kinder haben werde.«

Augenblicklich herrscht Totenstille am Tisch und Tante Annegret blickt pikiert von ihrem Teller auf.

»Worüber wir uns sehr freuen würden«, sagt Mama lächelnd, steht auf und drückt ihn kurz, bevor sie nach der Kaffeekanne greift und jedem noch mal nachgießt. »Weißt du denn schon, wo du dein Referendariat ableisten wirst oder steht das immer noch nicht fest?«

»Noch nicht«, brummt Dorie und lehnt sich seufzend in seinem Stuhl zurück. »Paul weiß es auch noch nicht. Die Schreiben gehen wohl erst Mitte März raus. Es ist echt ätzend, weil wir überhaupt nicht richtig planen können und nicht mal wissen, ob wir in Wuppertal bleiben oder die Wohnung kündigen müssen, weil wir Schulen in Essen, Bonn oder sonst wo zugewiesen bekommen. Und dort muss man ja dann auch erst mal so kurzfristig was Bezahlbares finden.«

»Fängt das Referendariat nicht erst im neuen Schuljahr an? Also, im Sommer?«, frage ich irritiert.

»Nein, am ersten Mai«, entgegnet Dorie, als müsse ich das wissen. »Ich weiß, dass bis dahin noch etwas Zeit ist, aber wir haben eine dreimonatige Kündigungsfrist und ich mag es nun mal nicht, wenn das alles so ungewiss ist.«

»Hast du deine Masterarbeit bis dahin fertig?«, will Thomas wissen, woraufhin Dorie etwas blass wird.

»Ja, das... werde ich schon hinkriegen«, meint er leicht stotternd, doch als sein Vater ihm einen skeptischen Blick zuwirft, atmet er tief durch und lässt die Schultern hängen. »Mein Laptop hat letzte Woche endgültig den Geist aufgegeben, daher muss ich an den Uni-Computern arbeiten, weil ich mir so schnell keinen neuen leisten kann.«

»Warum hast du denn nichts gesagt?«, fragt Mama und tätschelt seine Schulter, während Thomas und sie einen besorgten Blick tauschen.

»Ich krieg das schon hin«, antwortet Dorie ausweichend. »Pamela hat mir ein paar zusätzliche Schichten angeboten.«

»Bis wann musst du die Arbeit fertig haben?«

Dorie schluckt. »Bis zum zehnten Januar muss ich abgeben, damit ich das Zeugnis pünktlich einreichen kann. Ich hab sie aber fast fertig.«

Thomas zieht die Augenbrauen hoch. »Und wann schreibst du, wenn du noch mehr arbeiten musst?«

»Ich schaff das schon«, wiederholt Dorie lediglich und greift nach der Milch, um sich etwas davon in seinen Kaffee zu kippen.

Plötzlich räuspert sich Tante Annegret und streckt Dorie einen Umschlag entgegen. »Hier. Ich wollte bis zur Bescherung warten, aber dieses Trauerspiel ist ja nicht zu ertragen.«

Sichtlich überrascht nimmt er den Umschlag und starrt sie mit großen Augen an. »Danke.«

Tante Annegret winkt ab und lädt sich das dritte Kuchenstück auf ihren Teller. »Ja, ja, schon gut. Wenn's der Ausbildung dient.«

Neugierig lehne ich mich unauffällig hinüber und linse in den Umschlag, den Dorie aufmacht und ungläubig hineinstarrt. Ich muss mir echt das Lachen verkneifen, denn es liegen ganze zehn Euro darin. Lächerlich. Und die olle Giftnatter tut noch so, als wäre sie eine Heilige.

Dorie schafft es jedoch, cool zu bleiben, schließt den Umschlag wieder und legt ihn neben seinen Teller. »Noch mal danke, Tante Annegret. Das wäre echt nicht nötig gewesen.«

Mama räuspert sich. »Wir sprechen morgen noch mal darüber, was wir wegen des Laptops machen können, ja?«

Dorie nickt brav und lächelt gequält, doch seine Anspannung ist bis hierher zu spüren. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob das mit meinem Weihnachtsgeschenk für ihn wirklich eine so tolle Idee war. Sicher, irgendwie wollte ich ihm schon einen Gefallen damit tun, aber in erster Linie hat mir die Idee gefallen, ihn damit zu provozieren. Leider fällt mir etwas zu spät auf, wie kindisch und idiotisch meine Motivation für sein Geschenk war, auch wenn er mir trotzdem vielleicht irgendwann mal dankbar dafür sein wird.

Mama nickt zufrieden und lässt seine Schultern los. »Wenn Tante Annegret die Bescherung jetzt sowieso schon eingeläutet hat, können wir doch gleich weitermachen, was meint ihr?«

»Was ist denn mit unserem Weihnachtsspaziergang?«, frage ich leicht panisch. Als Jugendlicher habe ich es gehasst, mit Dorie und unseren Eltern durchs Dorf laufen und jedem, dem wir begegneten, ein frohes Weihnachtsfest wünschen zu müssen. Jetzt wäre ich aber mehr als froh darüber, noch ein bisschen Zeit schinden zu können.

Tante Annegret schnappt nach Luft. »Warst du heute schon mal vor der Tür? Also, ich gehe da nicht noch mal raus. Da holt man sich ja den Tod oder bricht sich den Hals.«

Dorie steht auf und deutet Richtung Tür. »Ich bin gleich wieder da. Dürfen die Katzen rein, solange wir hier drin sind?«

»Ja, lass sie ruhig rein, schließlich wollen wir kein Familienmitglied ausschließen«, meint Mama fröhlich und holt ein paar bunte Päckchen aus der Vorratskammer neben der Küche. »Wenn wir das gewusst hätten, hm, Thomas?«, meint sie, als Dorie weg ist und blickt meinen Stiefvater an.

»Vielleicht kann er den Gutschein ja auch für einen neuen Laptop nehmen und wir legen so noch was dazu«, meint er hoffnungsvoll.

»Ich weiß ja, dass er der Meinung ist, so was allein schaffen zu müssen, aber er hätte wirklich was sagen können. Wie viel kostet ein neuer Laptop denn überhaupt, Marc?«, spricht Mama mich an und ich zucke unwillkürlich zusammen.

»Das kommt ganz auf das Modell und die Ausstattung an. Ein halbwegs vernünftiger mit einer ordentlichen Grafikkarte und allen wichtigen Programmen fängt bei fünfhundert Euro an, nach oben hin ist natürlich alles möglich.«

Thomas seufzt, nickt aber. »Das kriegen wir schon hin.«

»Ist das jetzt das allgemeine Mantra?«, scherze ich, doch nur Tante Annegret lacht. Ich habe mittlerweile ziemliche Bauchschmerzen, denn Mama hat recht. Dorie ist der typische Ich bitte nicht um Hilfe, weil ich niemanden mit meinen Problemen belästigen will-Typ. Keine Ahnung, wem er damit was beweisen will, schließlich ist es nicht verwerflich, hin und wieder Hilfe anderer anzunehmen. Das habe ich auch getan, um dorthin zu kommen, wo ich jetzt bin.

Mama und Thomas verdienen beide nicht die Welt, daher war ich unglaublich froh, dass mein Vater mein Studium finanziert hat, ich somit keine Schulden machen musste und er mir anschließend einen Job in seinem Unternehmen gegeben hat. Ich bin natürlich nicht gleich Junior-Chef geworden, aber die Aussicht, in ein paar Jahren eine leitende Position zu bekommen, ist definitiv da.

Trotzdem stehe ich mit meinem Geschenk jetzt dumm da, denn Dorie wird mich auf ewig dafür hassen, dass er es quasi annehmen muss, denn er ist intelligent genug, sich nicht durch falschen Stolz den Uniabschluss zu versauen.

»Okay, kann losgehen«, ruft er und kommt dicht gefolgt von den beiden Katzen, die er als knapp Dreizehnjähriger völlig verwahrlost und halb verhungert angeschleppt hat, und drei Päckchen in den Händen ins Wohnzimmer. Kaum hat er zwei Schritte in den Raum gemacht, springt Zippi an ihm hoch, während Zappi den Baum ins Visier genommen hat. »Kommt mal her, ihr Frechdachse«, sagt er lachend, stellt die Pakete ab und schnappt sich die Katzen.

»Ich nehm dir eine ab«, biete ich an und pflücke Zappi von seiner Schulter, von wo aus sie mit der Pfote wunderbar gegen eine der roten Kugeln hauen kann, und setze mich mit der Katze auf den Stuhl zurück. »Du lässt Theodor heute Nacht keine Minute schlafen, oder?«

Mama lächelt. »Zur Not liegt die Matratze ja in deinem Zimmer. Ein paar Nächte werdet ihr euch ja wohl zusammenreißen können.«

»Natürlich«, versichere ich, denn ich habe den mahnenden Tonfall meiner Mutter durchaus registriert. Zudem sind wir erwachsen und immerhin ist Weihnachten.

Dorie schnappt sich eines der mitgebrachten Päckchen und überreicht es Tante Annegret. »Frohe Weihnachten.«

Sichtlich überrascht stellt sie ihre Kaffeetasse ab und nimmt es entgegen. »Du hast ein Geschenk für mich?«

»Sicher«, meint er schulterzuckend und setzt sich wieder neben mich. »Moni hat mir doch erzählt, dass du die Feiertage mit uns verbringst.«

Gespannt beobachte ich, wie meine Tante ein hochwertiges Creme-Set auspackt, das Dorie sicherlich an seinem Arbeitsplatz gekauft hat. Sie verzieht kurz das Gesicht, als wisse sie nicht, was sie sagen soll. Ganz eindeutig hat sie damit nicht gerechnet. Ich auch nicht, muss ich zugeben.

»Okay, dann sind wir jetzt dran«, sagt Mama, als klar wird, dass meine Tante ihre Manieren vergessen hat. »Frohe Weihnachten ihr zwei.« Sie drückt jeden von uns ein flaches Päckchen in die Hand und nimmt mir die Katze vom Schoß.

Neugierig wickle ich das Papier ab und starre etwas irritiert auf das bunte Kinderbuch, das zum Vorschein kommt. »Was...?« Ich blicke zu Dorie hinüber, der ebenfalls ein Kinderbuch in den Händen hält und ähnlich verwirrt aussieht.

»Freunde?«, liest er den Titel vor und sieht zu mir rüber. »Du hast angefangen – Nein, du!« Kurz treffen sich unsere Blicke, dann sehen wir zu unseren Eltern auf.

»Sind wir immer noch so schlimm?«, fragt Dorie leise.

Mama sitzt auf Thomas' Schoß und beide lächeln uns traurig an. »Ich fürchte schon«, antwortet sie nickend. »Wir wissen ja, dass ihr sehr verschieden seid, aber es wäre schon schön, wenn wir mal ein Familientreffen ohne Streit erleben könnten.«

»Wir versuchen, uns zu bessern«, verspreche ich und sehe meinen Stiefbruder an, der schluckt, dann aber nickt.

»Ja, wir versuchen es.«

Thomas grinst. »Mehr verlangen wir ja gar nicht. Und nun klappt die Bücher auf.«

Ich schlage das Buch auf und muss lachen, als ein Kinogutschein und einer für meinen bevorzugten Onlineshop zum Vorschein kommen, die auf dem Schmutztitel eingeklebt sind. »Danke schön.«

Dorie bedankt sich ebenfalls, steht auf und holt ein großes Paket unter dem Baum hervor, das er unseren Eltern überreicht. »Frohe Weihnachten.«

»Oh, Theo«, flüstert Mama, als sie das Papier gelöst hat und aufblickt. Tränen glitzern in ihren Augen. Sie steht auf und schlingt ihre Arme um seinen Hals. »Es ist wundervoll.«

»Freut mich, dass es dir gefällt«, murmelt er in ihre Haare und umarmt sie fest.

Ich sehe zu Thomas hinüber, der ebenfalls feuchte Augen hat und das in einem Goldrahmen eingefasste Bild zu mir umdreht. Es ist ein selbst gemaltes Familienportrait und man sieht Dories Talent in jedem einzelnen Pinselstrich. Mit meinem schnöden Essensgutschein für das Zwei-Sterne-Restaurant kann ich da natürlich nicht mithalten.

Als Mama sich von Dorie lösen kann, bleibt mir nichts anderes übrig, als aufzustehen und meine Geschenke zu holen. Ich atme noch mal tief durch, dann schnappe ich mir den Umschlag für Mama und Thomas und das Paket für Dorie.

»Frohe Weihnachten«, wünsche ich, drücke Mama an mich und übergebe dann den Umschlag, bevor ich mich zu meinem Stiefbruder umdrehe, der sein letztes Geschenk in den Händen hält und sich zu den Katzen runtergehockt hat.


 

Kapitel 2

 

 

»Do- Theodor?«

Überrascht sieht er auf. »Ja?«

»Frohe Weihnachten.« Ich halte ihm das Paket hin.

Er stutzt und richtet sich auf. »Was? Wieso schenkst du mir was? Wir haben uns noch nie was geschenkt.«

»Ähm... ja. Na, du hast ja offenbar auch was besorgt«, sage ich schulterzuckend und deute auf das kleine Päckchen in seiner Hand.

Er folgt meinem Blick und schluckt. »Das... sind Leckerlis für Zippi und Zappi.«

»Oh.« Peinlich berührt starren wir beide zu den Stubentigern runter, die sich an seinem Bein hochziehen und die Nasen zum Päckchen ausstrecken. »Na, macht ja nichts. Frohe Weihnachten«, wünsche ich noch mal, nehme ihm das Katzengeschenk weg und drücke ihm meins in die Hand. »Wollen wir mal schauen, was da Leckeres drin ist?«, frage ich reichlich dämlich an die Tiere gewandt und setze mich zu ihnen auf den Boden, woraufhin sie sofort anfangen, auf mir herumzuklettern, um an das Päckchen zu kommen.

»Was zum Teufel? Du spinnst wohl!«, ertönt Dories erboste Stimme.

»Wow, Marc!« Das war meine Mutter und zumindest sie legt eine angemessene Begeisterung an den Tag.

»Ich habe bei Facebook gelesen, dass dein Laptop kaputt ist«, erkläre ich seufzend, verschweige aber, dass es mir zu dem Zeitpunkt Genugtuung verschafft hat, mir vorzustellen, dass nach Weihnachten ein Rickson auf seinem Schreibtisch steht, der ihn täglich an den Menschen erinnert, den er am wenigstens mag, was ihn sicher ärgert. »Nimm ihn einfach und schreib deine Arbeit fertig.«

»Nein! Wie kommst du dazu, verdammt?«

»Hab ich doch gesagt«, antworte ich seufzend, stütze die Unterarme auf meine angezogenen Knie und sehe zu ihm auf. »Ich hab's bei Facebook gelesen.«

»Ich hab auch auf Facebook geschrieben, dass mein Lieblingsshirt seit der letzten Wäsche hinüber ist, gehst du deswegen nächste Woche mit mir shoppen?«, entgegnet er wütend.

»Paul hat es ruiniert, also soll er es auch ersetzen«, rutscht es mir raus, bevor ich mich zurückhalten kann, was ein Fehler war, denn Dories Augen werden riesig.

»Stalkst du mich etwa?«

»Blödsinn!«, entgegne ich genauso aufgebracht und springe auf die Füße. »Was kann ich dafür, wenn du jeden Mist postest und irgendjemand, den wir beide kennen, es liked?«

»Es gibt da eine Funktion, die sich Beiträge verbergen nennt. Schon mal gehört?«

Wütend gehe ich einen Schritt auf ihn zu und bohre meinen Zeigefinger in seine Brust. »Sei froh, dass ich es mitbekommen habe, sonst müsstest du deine Arbeit weiterhin in einem überfüllten Computerpool schreiben.«

Er schlägt meine Hand weg und schnaubt. »Und wenn schon. Ich brauche deine Almosen nicht, du selbstgefälliger Arsch.«

»Jetzt beruhigt euch mal, Jungs.« Thomas tritt zwischen uns und schiebt uns ein Stück auseinander. »Ich bin mir sicher, dass Marc dir lediglich eine Freude machen wollte, Theo.«

»Ja, na sicher. Warum sollte er das tun, wenn nicht, um es mir jahrelang unter die Nase zu reiben? Wäre ja nicht das erste Mal.«

»Fängst du jetzt auch noch von diesen dämlichen Actionfiguren an? Verdammt, ich war fünfzehn und wollte dich ärgern!«

»Und woher soll ich wissen, dass du das jetzt nicht auch willst? Vermutlich ist das Ding virenverseucht und schrottet meine Arbeit komplett, sobald ich sie öffne.«

Erbost darüber, dass er mir so etwas zutraut, balle ich die Fäuste. »Das nimmst du zurück!«

»Also, Theodor!«, ruft Mama dazwischen. »Das würde Marc niemals tun.« Sie blickt zu mir rüber. »Oder?«

Entsetzt schnappe ich nach Luft und blicke von einem zum anderen. Thomas hält seinen Sohn fest, der mich mit hasserfüllten Augen anfunkelt. Mama blickt besorgt zwischen mir und dem Tisch, auf dem der Laptop liegt, hin und her und Tante Annegret sitzt auf dem Sofa, stopft Kuchen in sich rein und starrt mich abwartend an.

Ich straffe die Schultern und richte meine Aufmerksamkeit auf meinen Stiefbruder. »Weißt du was? Vergiss es. Ich wollte dir einen Gefallen tun, aber offenbar war das eine wirklich dämliche Idee. Ich hätte wissen müssen, dass du gleich so austickst.«

»Oh, komm schon, jetzt stell mich hier nicht als Dramaqueen hin«, giftet er. »Ist es so abwegig, dass ich dir deine Worte nicht abkaufe? Wann, bitte schön, wolltest du mir je einen Gefallen tun? Du kannst mich nicht mal leiden.«

»Das stimmt... nicht.« Fuck. »Herrgott, nimm den Laptop oder lass es bleiben. Ist mir mittlerweile völlig egal.«

Dorie presst die Lippen aufeinander und hadert ganz eindeutig mit sich. »Ich bezahle ihn«, bringt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Seufzend verdrehe ich die Augen. »Von mir aus.«

»Was hat er gekostet?«

»Dreihundert.«

Unsere Eltern wechseln einen verwirrten Blick und auch Dorie runzelt die Stirn. »Blödsinn«, entgegnet er und ich kann die Irritation in seiner Stimme hören. »Wie viel hat er wirklich gekostet?«

»Dreihundert!«, wiederhole ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Mit fünfzig Prozent Personalrabatt. Dafür hast du gleich ein ordentliches Schreibprogramm drauf und kannst Filme in vernünftiger Qualität gucken.«

»Personalrabatt?«, keucht er. »Also hat dein Vater die Hälfte davon bezahlt?«

»Was? Quatsch!«, schnaube ich belustigt. »Im weitesten Sinne vielleicht, aber er weiß ja nicht mal was davon, also –«

»Also doch!«, fällt Dorie mir ins Wort, gibt ein Geräusch, halb Knurren, halb Stöhnen, von sich, wirbelt herum und ist im nächsten Moment zur Tür hinaus.

»Theodor, wo willst du denn jetzt hin?«, ruft Mama ihm nach.

Im nächsten Augenblick fällt die Haustür krachend ins Schloss. Eine Weile stehen wir schweigend im Wohnzimmer. Selbst die Katzen haben aufgehört, sich um ihr Päckchen zu streiten und es auseinanderzupflücken.

»Also, Moni, ich muss schon sagen, der Kuchen ist wirklich lecker. Davon musst du mir unbedingt mal das Rezept geben.«

Ungläubig starren wir Tante Annegret an, die gerade wieder nach dem Tortenheber greifen und sich das vorletzte Stück auftun will. Ich schnappe den Kuchen vom Tisch und trage ihn in die Küche, schließlich hat Mama ihn für Dorie und mich gebacken und wir haben jeder erst ein Stück gegessen.

Seufzend stütze ich mich auf der Arbeitsplatte ab und blicke aus dem Fenster in den dunkelgrauen Schneeregen hinaus. Was für ein beschissener Heiligabend. Hätte ich mich bloß an die unausgesprochene Regel gehalten, dass Dorie und ich uns nichts schenken. Aber nein, ich musste ja mein Ego die Oberhand gewinnen lassen und diesen blöden Laptop zusammenstellen. Dabei braucht er ihn wirklich dringend. Ich glaube, mit der Hilfe unserer Eltern hätte ich ihn dazu überreden können, ihn anzunehmen, aber ich hätte das mit dem Personalrabatt wohl verschweigen sollen.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter und ich blicke zu Thomas auf. »Er kriegt sich schon wieder ein.«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich wollte nur mal nett sein.«

Thomas schweigt und mir ist klar, dass er mir nicht wirklich glaubt. Wie auch? Dorie und ich streiten ununterbrochen miteinander, seit wir uns kennen. Keiner von uns wollte je nett sein oder dem anderen gar einen Gefallen tun. Unsere Urlaube und Familienfeste waren für alle Beteiligten eine Qual und auch im Alltag haben wir uns entweder ignoriert oder lautstark gefetzt. Ein normales Zusammenleben war nie wirklich möglich und in den letzten sechs Jahren haben Dorie und ich nur noch miteinander zu tun gehabt, wenn es unumgänglich war. An den Geburtstagen unserer Eltern, zu Ostern und Weihnachten.

»Warum hast du ihm das Gerät wirklich geschenkt?«, will meine Mutter wissen, die plötzlich auf der anderen Seite neben mir auftaucht.

Ich zucke wieder mit den Schultern, denn ich schäme mich für die Wahrheit und will sie nicht aussprechen. »Er brauchte einen neuen und ich sitze an der Quelle«, antworte ich daher ausweichend.

»Du hättest uns Bescheid sagen können, dann hätten wir ihn gekauft.«

»Mhm. Wäre wohl besser gewesen.«

»Aber du wolltest ihm den Computer lieber selbst schenken?«

Ich stöhne genervt auf. »Ist doch jetzt eh zu spät.«

Thomas klopft mir auf die Schulter, dann geht er ins Wohnzimmer zurück. Meine Mutter bleibt jedoch neben mir stehen und auch wenn ich immer noch zum Fenster rausstarre, spüre ich ihren Blick auf mir.

»Marc?«

»Ja?« Ich wappne mich für eine Schimpftirade und blicke sie an, doch sie sieht nicht wütend oder traurig aus, sondern lächelt, was mich irritiert. »Was ist?«

»Bleib dran, ich bin mir sicher, dass es sich lohnt.« Mit diesen Worten wendet sie sich um und lässt mich sprachlos und verwirrt in der Küche stehen.