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Martin D. Mohr

Chimica Mala - III

Chemikaliengeflüster





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Die Beerdigung

Eben glaubte er noch einen bitteren Geschmack im Mund zu spüren, aber dann war alles weg. Heiner konzentrierte sich auf seine Sinne - nein, da war nichts bitteres mehr feststellbar. Aber irgendetwas war eigenartig. Er blickte sich um. Hatte er sich nicht gerade eben in seiner Villa befunden? Wieso stand er jetzt auf freiem Feld? Wie kam er hierher? Das Gras gab einem leichten Wind nach, aber Heiner konnte den Wind nicht fühlen. Er befeuchtete seinen Finger und hielt ihn in die Luft - nein, kein Wind - nicht einmal die Feuchtigkeit an seinem Finger war spürbar. Aber die Bäume und Sträucher bewegten sich. Irgendwie passte das nicht. Auch das Fehlen des Vogelgezwitschers war eigenartig! Nicht, dass ihn diese Flattermänner interessieren würden, denn er hatte sich noch nie etwas aus diesem Ungeziefer gemacht, aber es war so still!

Er fühlte sich seltsam. Eben hatte er noch Durst verspürt und nach dem edlen Whiskey gegriffen, aber jetzt fühlte er sich nur noch eigenartig. Er konnte es nicht näher beschreiben. Durst? Nein. Vielleicht spürte er noch ein Verlangen. Aber auf was? Er war sich seiner Gefühle nicht im klaren. Irgendetwas hatte ihn aus der Bahn geworfen, so schien es. Die Gefühle waren intensiver als kurz zuvor. Eine Orientierungslosigkeit hatte sich eingestellt und zu ihr gesellte sich eine eigentümliche Schwerelosigkeit - nicht zu verwechseln mit der übermütigen Leichtigkeit eines Schwipses. Nein, hier war es anders. Er fühlte sein Gewicht nicht mehr. Es war ihm, als wäre er leicht wie eine Feder.

"Willkommen Heiner Reyam", sprach hinter ihm eine weibliche Stimme und er fuhr erschrocken herum. Vor ihm stand eine eigenartig gekleidete junge Frau. Ihr Haare lang und schwarz, ihre Gesichtszüge mitfühlend und ihre Kleider ... ja ihre Kleider waren so gar nicht nach der aktuellen Mode. Sie sah eher aus wie ein Hippie oder eine Indianerin. Wer war sie nur? Heiner hatte sie noch nie in seinem Leben gesehen.

"Heiner", sprach sie ihn an, "willkommen im Leben nach dem Tode."

"Wo?"

"Du bist tot", antwortete sie und wartete geduldig seine Reaktion ab. Sie wusste, dass er jetzt Zeit benötigte. Die Wenigsten begriffen sofort ihre Situation. Manche Seelen wollten ihren Tod sogar überhaupt nicht akzeptieren, eine kritische Situation zwischen den Welten.

Heiner blickte sich irritiert um.

"Tot?" wiederholte er immer wieder. Gerade eben hatte er in der Bar seiner Villa einen Drink zu sich genommen. Er hatte noch ein paar Dokumente unterschrieben, die er für die Konzernleitung von SalutemArtis vorbereitet hatte.

SalutemArtis Ltd war der Pharmakonzern, den bis vor kurzem Onkel David geleitet hatte. Er war es gewesen, der ihn nach seinem MBA-Studium als Konzernleiter bei der Chemiefirma Chem&Nova eingesetzt hatte. Von ihm hatte er alles über die Leitung eines Konzerns gelernt. Strategien und Networking waren dabei die wichtigsten Fächer.

Später hatte er sogar einen Sitz in der Konzernleitung von SalutemArtis besetzen können. Es war nicht ungewöhnlich in der Stadt, dass ein Manager einen Sitz in zwei verschiedenen Konzernen innehaben konnte. Diesen Trick hatte Onkel David eingeführt und galt als Auszeichnung für besondere Dienste. Dienste an wem? Nun an Onkel David natürlich. Er war es, der alle Geschicke der Stadt geleitet hatte: die Geschicke der Konzerne und die der Stadt. Er hatte den Sumpf, wie man diese Organisation schon nannte, aufgebaut. Der Sumpf war ein Netzwerk von Managern, welche im Golfclub ihre konspirativen Treffen hatten. Eigentlich war dieser Club das Hauptquartier, in dem Onkel David regierte. SalutemArtis war nur sein offizieller Sitz gewesen.

Seinen Neffen Heiner hatte er als Nachfolger auserkoren, seit er wenig Glück mit einem seinerzeit vielversprechenden Manager hatte. Dieser hatte sich dummerweise nach Asien abgesetzt - oder glücklicherweise - das kommt auf den Blickwinkel an. Heiner hatte das Handwerk gierig aufgesogen. Es war der Schlüssel zum Glück, zu Geld und zur Macht.

"He, wer bist Du, Mädchen? Weisst Du überhaupt wer ich bin? Also lass mich in Ruhe!" schnauzte er sie an.

Sie aber blieb ruhig und blickte ihn nur mitfühlend an.

“Natürlich weiss ich wer Du bist, Heiner”, meinte sie mit einem Ausdruck ehrlichen Bedauerns, “Du warst der CEO von Chem&Nova und warst gleichzeitig in der Konzernleitung der SalutemArtis. Dann wurde Dir die Aura Deines Onkels zu mächtig.”

“Er liess mich nicht mehr frei entscheiden”, verteidigte sich der Manager wütend.

“Du musst Dich nicht rechtfertigen. Du stehst nicht vor Gericht. Jedenfalls hast Du Dich rührend um Deinen Onkel gekümmert, nach seinem Hirnschlag.”

“Natürlich! Nach allem was er für mich getan hatte, war das selbstverständlich. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst - ein verwirrter alter Mann. Das hätte jeder getan.”

“Bestimmt”, antwortete die Frau gelassen, diesmal aber mit einem leicht zynischem Unterton, “jeder hätte sich um ihn gekümmert und dann seinen Sitz als CEO von SalutemArtis und den Vorsitz des Sumpfes übernommen.”

“Du sagst das, als ob ich ihn getötet hätte!”

“Natürlich nicht. Er lebt ja noch.”

Heiner seufzte tief. Er war der wichtigste Mann der Stadt! Er hatte das Imperium seines Onkels übernommen! Und nun sagte ihm so eine Hippie-Indianerin, dass er tot wäre? Das konnte nicht sein. Wie konnte sie es nur wagen so respektlos mit ihm zu sprechen!

   "Verschwinde!" murrte er und wandte ihr den Rücken zu.

"Mein Name ist Ninagi-wanblanka", stellte sie sich unbeirrt vor, "das bedeutet ‘Die in die Seele sieht’. Du kannst mich Ninagi nennen."

"Dann verschwinde, Ninagi."

"Du warst Heiner Reyam."

"Das bin ich noch..."

"Warst Du..."

"Ich bin der CEO von SalutemArtis, wenn Dir Hippie das was sagt. Ich brauche mich nicht von so einer Tussi wie dir anquatschen lassen. Ich soll tot sein? So ein Quatsch! Wieso kannst Du dann mit mir sprechen?"

"Weil ich ein Geist bin, der Dir helfen will."

Heiner fuhr herum.

"Was willst Du sein? Ein Geist? Zu viel LSD geschluckt, wie?"

Ninagi seufzte. Sie kannte solche Typen zu genüge. Es waren traurige bemitleidenswerte Seelen, denen sie half.

"Blicke dich mal genauer um, Heiner", forderte sie ihn auf.

"Wieso soll ich mich umsehen? Was interessiert mich der Mist? Einen Scheiss werde ich!"

"Vertrau mir."

"Nerv mich nicht!"

"Du musst nur hinsehen und erkennen", forderte sie ihn hartnäckig auf.

Heiner schaute sich um. Vielleicht würde er die Nervensäge dann bald loswerden. Sie standen auf einem Feld, na und?

"Was siehst Du noch?"

Heiner erschauerte: Gräber! Sie waren auf einem Friedhof.

"Ganz recht. Wir sind auf einem Friedhof. Heiner, heute ist Deine Beerdigung."

"Meine was?"

Heiner musste lachen.

"Wir sind im Jenseits", erklärte Ninagi, "keiner wollte Dich hier abholen. Nicht einmal Deine Mutter. Deshalb ist das meine Aufgabe."

"Woher willst Du meine Schlampe von Mutter kennen?" fuhr Heiner auf, "und mein Vater?"

"Komm mit, ich muss Dir etwas zeigen."

Ninagi ging zwischen die Gräber hindurch. Heiner zuckte mit den Schultern und meinte, dass er ja doch nichts anderes tun könne. Also folgte er ihr. Sie blieben zwischen ein paar Bäumen stehen. Vor ihnen war eine Menschenmenge um ein offenes Grab herum versammelt. Heiner erschauerte. Er konnte seine Frau und seine Kinder erkennen. Seine Schwägerin, Tante Anni, einige Verwandte und sogar der Bürgermeister waren gekommen. Da waren noch mehr Leute: die gesamte Konzernleitung von SalutemArtis und Chem&Nova (jedenfalls die ehemalige Konzernleitung), viele Manager, Kollegen und ja! Sogar Mitarbeiter aus seinem Konzern!

Alle waren sie gekommen, um ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten. Ja er war beliebt gewesen. Sie alle huldigten seiner Macht! Also war er tatsächlich tot. Ihm wurde schwindlig. Dann aber riss er sich zusammen und beobachtete die Szene weiter.

Der Bischof hielt eine kurze Rede und der Sarg wurde in die Erde gelassen. Dass alles ein wenig hastig und lieblos wirkte, war Heiner entgangen. Er war damit beschäftigt die Besucher zu beobachten. Seine Frau und seine Kinder standen gemeinsam an der offenen Grube. Er konnte ihre Gesichter nicht sehen. Bestimmt weinten sie bitterliche Tränen!

"Ich bin tatsächlich tot", murmelte er und betrachtete irritiert seine Hände.

Ninagi atmete auf. Er hatte verstanden. Zu oft hatte sie erleben müssen, dass die Verstorbenen immer noch glaubten an Leben zu sein. Das war dann immens harte Arbeit die Seelen mit viel Überzeugungskraft auf den rechten Weg zu leiten. Wenn sie nicht folgten, konnten sie in der Ewigkeit verlorengehen. Diese Seele hier schien wohl den ersten Punkt begriffen zu haben. Jetzt musste sie ihm die zweite härtere Lektion erteilen.

Nun trat jeder einzelne Besucher nach und nach ans Grab, blickte hinab, warf etwas Erde oder Blüten hinunter und kondolierte seiner Witwe. Sie trug einen Schleier. Er konnte nicht sehen, ob sie weinte. Wer war das eigentlich neben ihr? Franz? Ein guter Freund der Familie? Wieso hatte er sie und seine Kinder im Arm? Heiner ballte die Fäuste, dann aber lenkte ihn etwas anderes ab.

Hatten die Besucher bisher höflich und voller Anstand kondoliert, hörte er gerade einen Mann zu seiner Frau sagen: "Herzlichen Glückwunsch, dass sie dieses Schwein los sind."

Dann verschwand der Mann. Einige der Umstehenden blickten ihn nur schockiert nach, aber schon kam der Nächste, öffnete vor dem Grab seine Hose und pinkelte hinein. Der Urin stank vom edlen Holz in  der Tiefe empor und ätzte sich in den Stolz des Toten. Der Mann zog schweigend den Hut und schlenderte gen Ausgang. Einige Gäste riefen laut auf, andere schienen lachend zu nicken, aber niemand hatte ihn aufgehalten.

"Was geschieht hier?" murmelte Heiner mehr zu sich selbst, als zu Ninagi.

Diese antwortete, damit die Sachlage keine Fragen offen lies: "Es gibt viele Menschen, denen Du weh getan hast. Sie hassen Dich. Der Mann neben Deiner Frau ist ihr Liebhaber. Sie ist die Beziehung schon vor einigen Jahren eingegangen. Sie hat diese Beziehung gebraucht, um ein Gefühl der Geborgenheit zu haben. Sie hat Dich nur nicht wegen der Kinder verlassen..."

"...und wegen des Geldes, nehme ich an. So eine Schlampe!"

Ninagi ging nicht weiter darauf ein.

"Der Mann, der in Dein Grab uriniert hat, war ein Mitarbeiter, den Du entlassen hast."

"Den kenne ich doch gar nicht!"

"Nicht persönlich, aber durch Deine Handlungen hat er seinen Job verloren. Er ist auf der Strasse gelandet, weil er durch das Zutun Deiner Manager und Handlanger keinen weiteren Job mehr bekommen hat."

"Die bekommen doch eine saftige Abfindung!"

"Schon vergessen? Du hast ein Dokument unterschrieben, was die Abfindungen auf ein Minimum reduziert. Davon kann kein Mensch leben."

Eine einfach gekleidete Frau trat an das Grab und holte eine Schachtel heraus. Den Inhalt schüttete sie über dem Sarg aus.

"Wer ist das?"

"Die Sekretärin von Karl von Münchenstein - Deinem Vorgänger in Chem&Nova. Du hast Sie eine primitive Nutte genannt, weil sie Dir nicht ... zur Verfügung stehen wollte. Dann hast Du sie gefeuert."

"Was hat sie da ausgeleert?"

Ninagi zuckte mit den Schultern.

"Sieht wie Kompostbeschleuniger aus. Sie will wohl, dass Du schneller verrottest."

Heiner rang nach Fassung.

"So eine Nutte! Ich habe sie nicht belästigt! Sie hat...."

Ninagi blickte ihn nur mitleidig an und meinte: "Das musst Du mit Dir selbst ausmachen. Ich werde hier nicht urteilen. Ich helfe Dir nur ein wenig Gleichgewicht zu erreichen."

Sie klopfte ihm auf die Schulter.

"Wir alle haben an ein paar Dingen zu beissen", meinte sie gelassen, “damit sind wir nach unserem Tode als erstes beschäftigt. Unsere erste Aufgabe im Jenseits ist es, sich diesen Dingen zu stellen. Du scheinst jedenfalls nicht sehr beliebt gewesen zu sein ..."

"Ich war sehr beliebt!" brüllte Heiner, "ich war der Partylöwe schlechthin. Man lachte mit mir und man..."

Tränen traten in sein Gesicht.

"... und man trank mit mir. Ich schmiss eine Runde nach der anderen..."

Dann lenkte ihn wieder etwas ab.

"Moment, diesen Mann kenne ich! Das ist doch unser Gärtner!"

Ninagi seufzte.

"Deshalb wirft er auch zwei handvoll Würmer ins Grab."

Ihre Stimme war aufrichtig mitfühlend.

"Soll wohl den gleichen Effekt haben, wie der Kompostbeschleuniger", brummte Heiner grollend, "undankbares Volk! Ich habe so viel Gutes für sie getan. Wäre ich nicht gewesen, hätten sie keinen Job gehabt!"

Ninagi würdigte dieser Bemerkung keiner Antwort. Heiner musste selbst wissen, welchen Unsinn er von sich gab.

Dieser wollte schon gehen, dann aber wandte er sich nochmals seiner Beerdigung zu.

"Wo ist eigentlich Onkel David?"

"Er hält sich abseits. Sieh dort."

Ninagi zeigte auf einen Mann im Rollstuhl, der etwas abseits stand. Es war David Reyam, der ehemalige Herrscher der Stadt und einstiger CEO von SalutemArtis. Heiners Lehrer und Mentor!

"Alles umsonst", murmelte er, "dabei habe ich das mit dem Testament so gut eingefädelt. Und jetzt bin ich vor dem alten Sack tot."

Plötzlich fasste Heiner Ninagi am Arm.

"Ich will gehen", flüsterte er erschrocken, "Ninagi, wie komme ich hier weg? Ich will gehen!"

Der gute Geist reichte dem Verstorbenen die Hand und führte ihn fort. Hinaus aus dem Friedhof, fort von den Lebenden hinüber ins Jenseits.

Was hatte Heiner so sehr erschreckt?

Onkel David, der einst so herrische Mann, der geniale Stratege und jetzige Tattergreis mit einem Gehirn aus Brei hatte in ihre Richtung geschaut. Der alte Mann hatte ihn angesehen, als könne er die zwei Geister auf dem Friedhof erblicken. Vielleicht hatte er es auch. Denn es war nicht mehr klar, was er nach seinem Schlaganfall wirklich sehen konnte. Er hatte immer wieder von seinem Bruder und seiner Schwägerin - Heiners Eltern - gesprochen, als wären sie noch am Leben - ja als würden sie sich gerade im Zimmer aufhalten. Aber sie waren schon lange tot! Immer wieder hatte er behauptet, dass sie gerade das Zimmer verlassen hätten.

Hatte David seinen toten Neffen wirklich sehen können?

Was Heiner aber am meisten erschreckte:

Es war das breite befriedigte Grinsen seines Onkels.