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Schauplätze des Geschehens:

In Frankfurt-Fechenheim macht Jeannette ihrem verdutzten Freund Karlo eine heftige Eifersuchtsszene. Karlos Date mit der hübschen Polizistin Conny in einer Kneipe am Offenbacher Markt befeuert Jeannettes vage Vermutungen zusätzlich. Karlo bekommt Ärger in einer zwielichtigen Kneipe im Frankfurter Bahnhofsviertel, und eine Kühltruhe mit makabrem Inhalt reist von Offenbach in die Rhön.

Ex-Hauptkommissar Gehring verschwindet im Bermudadreieck zwischen Kaiser-, Mosel- und Münchener Straße, und höchst makabre Wetten eines Wettbüros in der Frankfurter Kaiserstraße setzen dem Ganzen die Krone auf.

Bisher sind zwölf Bände der Karlo-Kölner-Reihe im Verlag Vogelfrei erschienen:

Karlo und der letzte Schnitt
Karlo und der zweite Koffer
Karlo und der grüne Drache
Karlo und das große Geld
Karlo geht von Bord
Geschenke für den Kommissar
Liebe, Tod und Apfelsekt
Miezen, Mord und Malerei
Lottoglück für eine Leiche
Kalte Liebe, heißer Tod
Killerküsse und Karossen
Der Tod nimmt keine Wetten an

Alle Bände sind auch
als E-Book erhältlich

Der Autor

Peter Ripper, Jahrgang 1954, selbstständiger Werbefachmann, Gitarrist bei einer Frankfurter Rockband und begeisterter Motorradfahrer, widmet sich seit einigen Jahren vorwiegend der Schriftstellerei und der Fotografie.

Er lebt in Langenbieber in der Rhön.

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© 2019 bei Vogelfrei-Verlag
36145 Hofbieber
Internet: www.vogelfrei-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten

Peter Ripper

Der Tod nimmt
keine Wetten an

Kriminalroman

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Inhalt

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Schluss

Auf ein Wort:

Vorwort

Eine Wette entsteht zumeist aus dem Bedürfnis der Menschen, recht zu haben. Allerdings schließt man Wetten auch ab, um auf unkomplizierte Weise zu Geld zu kommen.

Im Idealfall zu viel Geld.

Beim Wetten ist es bedauerlicherweise wie bei allen anderen materiellen Bestrebungen: Soll etwas Nennenswertes dabei herauskommen, müssen entweder der Einsatz oder das Glück entsprechend hoch sein. Das bedeutet das Riskieren von Geldmitteln oder eben der Einsatz an Arbeit, Zeit oder zündenden Ideen.

Die zündende Idee hat jedoch meist derjenige, der die Wetten anbietet, nicht der, der hofft, damit reich werden zu können. Es ist nun einmal so: Beim Spielen müssen viele verlieren, damit wenige gewinnen können.

Dieses Prinzip gilt für alle Wettmöglichkeiten. Ob es das biedere Lottospiel ist, bei dem Millionen Menschen jede Woche ihr Geld verlieren, nur weil ab und zu eine Handvoll Leute einen größeren Betrag gewinnt, oder ob es sich um risikoreiche Spezialwetten handelt, die unbedachte Spieler durchaus in den Ruin treiben können.

Der französische Staatsmann Georges Pompidou sagte einmal: „Ein Ruin kann drei Ursachen haben: Frauen, Wetten oder die Befragung von Fachleuten.“

Eine gewonnene Wette ist also nichts anderes als der Sieg des Zufalls über die Wahrscheinlichkeit, oder anders ausgedrückt: Ein Angler wartet Stunden, ein Spieler sein Leben lang.

Wobei der Protagonist unserer Geschichte, Karlo Kölner, nicht die geruhsame Beschäftigung des Angelns gewählt hat, sondern dieses Mal eher im Trüben fischt. Und dies auch noch in stürmischen Gewässern.

Dass er dabei unversehens selbst zum zappelnden Fisch in einem überaus schmutzigen Teich wird, ist das Prinzip seines aufregenden Lebens. Die spannende Frage dabei ist: Kommt er wieder unbeschadet ins Trockene?

Möchten Sie darauf wetten?

Einige Tage zuvor
Frankfurt am Main

Prolog

Als er gegen zwei Uhr in der Nacht zu seinem Wagen wankte, war klar, dass er eigentlich nicht mehr fahren durfte. Zwar vertrug der große schmale Mann eine ganze Menge, das änderte jedoch nichts am erhöhten Promillestand.

Es war ihm durchaus klar, dass er auf seinem Heimweg nicht in eine Verkehrskontrolle geraten sollte, und so fuhr die Sorge mit, die Polizei könne heute Nacht auf seiner Strecke aktiv sein. Nachdem er die Innenstadt hinter sich gelassen hatte, wurde er ruhiger.

Bald hatte er es nach Hause geschafft.

Als er in das kleine Waldstück einbog, wurde es dunkler. Erst hier bemerkte er, dass sein rechter Scheinwerfer ausgefallen war. Nur mit Mühe durchdrangen seine Blicke die Dunkelheit. Der schwarze Schlapphut behinderte zudem seine Sicht. Er nahm die rechte Hand vom Lenkrad, um sich den Hut vom Kopf zu ziehen.

Der Mann sah kurz zur Seite und legte die Kopfbedeckung neben sich auf den Beifahrersitz. Eine kleine Unaufmerksamkeit, nicht mehr. Als er den Blick zurück auf die Straße lenkte, erschien wie hingezaubert ein Schatten vor der Motorhaube.

Er hatte keine Chance.

Das dumpfe Geräusch des Aufpralls ging ihm durch Mark und Bein. Der Zusammenstoß rüttelte das Fahrzeug kräftig durch. Irgendetwas geriet unter die Räder, zwei heftige Stöße versetzten den Wagen ins Taumeln.

Erschrocken trat der Mann auf die Bremse, und der Wagen begann stärker zu schlingern. Mit viel Glück bekam er das Fahrzeug am Straßenrand zum Stehen.

Einen Augenblick lang blieb er geschockt hinter dem Steuer sitzen.

Was war das gewesen?

Ein Tier? Gab es hier, so nah bei der Stadt, Tiere? Ein Reh, ein Hirsch, ein Wildschwein?

Oder … er verbot sich, weiterzudenken.

Er stieg aus dem Wagen. Schloss die Fahrertür. Drei, vier Schritte ging er zurück, bis er das Heck seines Fahrzeugs erreicht hatte.

Zwanzig Meter hinter dem Wagen sah er ein Bündel liegen. Die Trunkenheit wich der nackten Angst. Er rieb seine Augen und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Aus dem Bündel ragten zwei längliche Gegenstände. Zwei blaue Stoffröhren.

Jeans? Beine? Schuhe?

Und, am oberen Teil des Bündels, zwei weit auseinandergestreckte … Arme?

Das war kein Wildschwein!

Ein Schüttelkrampf erfasste seinen Körper. Immer wieder sah er nach rechts, nach links, nach rechts, nach links.

Und wieder zurück.

Er schrak zusammen. Hatte sich da im Gebüsch etwas bewegt? War da jemand?

Er starrte in die Finsternis.

Doch niemand war zu sehen.

Der Mann warf sich herum. Kopflos riss er die Fahrertür auf und schlug die Türkante gegen sein linkes Knie. Der Schmerz raubte ihm fast die Besinnung, und ein wütender Schrei entfuhr ihm.

Er hüpfte auf einem Bein, rieb sich dabei fluchend das malträtierte Gelenk, dann fiel er auf den Fahrersitz. Mit dem Handrücken wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn. Seine Hände bebten, als er den Zündschlüssel drehte.

Nichts wie weg von hier!

Der Motor heulte gequält auf, als er das Gaspedal durchtrat und die Kupplung kommen ließ.

In wilder Fahrt entfernte er sich vom Unglücksort.

Zu Hause angekommen, stellte er den Wagen in die Garage und verschloss sie aufmerksam. In der Wohnung griff er sich eine Flasche Bier. Er brauchte keine drei Minuten dafür, sie zu leeren.

Der Gerstensaft brachte ihm keine Ruhe.

Hatte ihn jemand beobachtet?

Nein, das war nicht möglich. Niemand war zu sehen gewesen. Kein anderer Wagen hatte die Unfallstelle passiert.

Niemand wusste von dem Unfall.

Wirklich?

Er wankte ins Schlafzimmer, legte sein Handy auf den Nachttisch, zog sich aus und ließ sich aufs Bett fallen. Nach kurzer Zeit begann er zu frösteln. Er kroch unter die Decke, drehte sich auf die Seite und zog hilflos die Beine an.

Als sein Telefon mit unpersönlichem Piepsen eine Nachricht anzeigte, beschloss er, es einfach zu ignorieren.

Eine Stunde lang wälzte er sich hin und her, fand keinen Schlaf, schwitzte, fror … mechanisch griff er nach dem Telefon und rief die Nachricht auf. Er kniff die brennenden Augen zusammen, das helle Display blendete unangenehm im Dunkeln. Dann fing er an zu lesen.

Sein Herz begann zu rasen.

Mittwoch, 20. April
Frankfurt-Fechenheim

1

„Wie heißt sie eigentlich?“

Jeannette Müller stand mit dem Rücken zum Küchentisch, an dem ihr Lebensgefährte Karlo Kölner saß und gerade im Begriff war, mit der Kuchengabel ein Stück Sachertorte aufzuspießen.

Das kaum wahrnehmbare Vibrieren in Jeannettes Stimme ließ Karlos Alarmglocken schrillen. Was mochte nur in ihr vorgehen?

Als sie sich mit der Kaffeekanne in der Hand zu Karlo umwandte, erschienen ihre Lippen ein wenig dünner als gewöhnlich. Ein Hauch von Besorgnis befiel Karlo, als er sah, dass ihre rechte Hand beim Befüllen seiner Tasse leicht zitterte.

„Wie heißt wer?“ Karlo schaute seine Freundin verständnislos an.

„Na, deine Polizistin, wer denn sonst?“

Deine Polizistin? Karlo zuckte unmerklich zusammen. Er wollte etwas erwidern, doch ein leichter Frosch im Hals ließ ihn innehalten. Würde er jetzt einfach drauflosreden, liefe er Gefahr, ein schuldbewusstes Krächzen zu produzieren. Allerdings, so dachte er, ließe ihn ein verstohlenes Räuspern ebenfalls unsicher erscheinen.

Karlo entschied sich deshalb, erst einmal die Kehle freizuspülen. Er nahm einen kräftigen Schluck des verführerisch duftenden Kaffees. Und bereute es sofort.

Heiß! Heiß! Heiß!

Karlos Augen wurden groß wie Untertassen, sein Mund klappte unwillkürlich auf, er verschluckte sich und fing an zu husten und zu prusten.

Der Kaffee verteilte sich in einem feinen Sprühnebel über den Küchentisch.

Toll!

„Aha!“, ließ der Kommentar auch nicht lange auf sich warten. „Der Herr hat ein schlechtes Gewissen?!“ Es war weniger eine Frage als vielmehr eine Feststellung.

Und dieses verstörende Vibrato in Jeannettes Stimme war stärker geworden.

Karlos Laune sank, und er wurde ärgerlich. Er kämpfte mit sich, um nicht aufzubrausen. „Du und deine verdammte Eifersucht“, entfuhr es ihm dennoch.

„Was heißt hier Eifersucht? Nur weil ich Anlass habe, an dir zu zweifeln, bin ich noch lange nicht eifersüchtig.“

„Eine eifersüchtige Frau zweifelt immer nur an sich selbst“, schnappte er und machte eine kleine Pause. „Sag mal, was meinst du überhaupt?“, fragte er dann. „Wieso meine Polizistin?“

Conny Katzenbachs Bild erschien vor seinem inneren Auge. Sie war eine attraktive Frau – keine Frage.

Sehr attraktiv.

Und ja, während des letzten Falls, den er mit Privatdetektiv Gehring bearbeitet hatte, war ihm die Katzenbach des Öfteren begegnet. Sie hatte ihn sogar bei einem Treffen mit seinen Freunden vom Motorradclub in Frankfurt-Oberrad besucht. Die hübsche Polizistin fuhr selbst ein Zweirad, eine Triumph Thruxton mit fast hundert PS. Das war etwas anderes als sein altes MZ-Gespann aus vergangenen DDR-Tagen. Er erkannte das neidlos an. Karlo musste zugeben, dass ihn diese junge Kommissarin durchaus beeindruckt hatte.

Sehr beeindruckt.

Wenn er ehrlich war, musste er sogar eingestehen, dass er sich ein wenig in die taffe Beamtin verguckt hatte. Mit ihren raspelkurzen schwarzen Haaren und ihrer nahezu perfekten Figur hatte sie ihn durchaus emotional ins Schlingern gebracht. Er hatte überdies den Eindruck gewonnen, dass auch sie nicht uninteressiert an seiner Person gewesen war.

Aber es war nichts passiert, und Karlo hatte sich diesbezüglich nichts vorzuwerfen.

Seine Entrüstung war deshalb nicht gespielt, als er aufgebracht hinzufügte: „Ich habe kein schlechtes Gewissen!“

„Nein? Hast du nicht? Da sieh mal an! Dann macht es dir gar nichts aus?“

Karlo verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. „Was macht mir nichts aus?“

„Dass du kein schlechtes Gewissen hast. Es macht dir nichts aus, mich mit dieser Bullenschlampe zu betrügen.“

Nun war es auf dem Tisch.

„Bullenschlampe? Sag mal, spinnst du jetzt komplett? Was ist das für ein Umgangston? Und warum in aller Welt sollte ich dich betrügen?“

„Das weißt du wohl selbst am besten.“

„Gar nichts weiß ich. Weil ich nichts gemacht habe. Frau Katzenbach ist eine nette Frau, Frau Katzenbach ist eine noch bessere Polizistin, und ja, Frau Katzenbach sieht ziemlich gut aus. Aber damit hat es sich auch schon.“

Jeannettes Gesicht bekam eine tiefrote Farbe, als sie Karlo anzischte: „Frau Katzenbach hier, Frau Katzenbach da. Ist ja ein toller Name. Und sie fährt auch noch Motorrad? Weißt du was? Geh doch einfach zu ihr, tu dir keinen Zwang an. Und weißt du noch etwas? Ich lasse mich scheiden!“

Karlo runzelte die Stirn. Scheiden?

„Äh, also, Jeannette, weißt du“, stammelte er verständnislos, „wir sind gar nicht verheiratet.“

„Könnten wir aber schon lange sein, wenn du mich bloß mal gefragt hättest“, schäumte Jeannette. „Aber so ist es ja besser für dich und deine Eskapaden. Und außerdem: stell dich nicht so dumm. Du weißt ganz genau, was ich meine!“

Bevor Karlo eine passende Antwort in den Sinn kam, stürmte die kleine blonde Frau aus der Küche. Karlo hörte, wie sie wütend an der Garderobe hantierte. Nur Sekunden später fiel die Wohnungstür krachend ins Schloss.

Einen Augenblick saß er wie gelähmt am Küchentisch. Dann hastete er zur Wohnungstür und riss sie auf.

„Heiraten ist die erste Dummheit, die man macht, wenn man glaubt, vernünftig geworden zu sein“, brüllte Karlo ins leere Treppenhaus. Seine Erwiderung kam einige Sekunden zu spät. Von der Straße hörte er den Wagen seiner Lebensgefährtin mit quietschenden Reifen aus der Parklücke fahren.

Eine halbe Stunde nach der unersprießlichen Diskussion saß Karlo in der Bluesmühle an der Theke und hielt sich am Henkel eines Guinness-Glases fest. Der Wirt, Harry Weber, stellte ihm einen kleinen Jameson daneben.

„Geht aufs Haus“, erklärte er gönnerhaft, bevor er die fleischigen Hände vor seinem ausladenden Bauch faltete und Karlo mit einer Mischung aus Neugierde, Mitgefühl und Geschäftssinn in die Augen blickte.

„Hunger?“

Kopfschütteln.

„Ärger?“

„Hm!“

„Weiber?“

„Hm!“

„Drüber reden?“

Kopfschütteln.

Der dicke Wirt nickte unmerklich und wandte sich diskret ab.

Karlo kippte den Whisky, goß verdrossen einen Schluck des dunklen irischen Gebräus nach. Es wollte ihm nicht recht schmecken. Zum Glück. Sich vollzusaufen war keine Alternative.

Doch irgendwie war er nervös, fühlte sich fiebrig, ruhelos, aufgewühlt. Aber nein! Kein Grund, sich die Lampen auszuschießen.

Trotz dieser Erkenntnis war Karlo verstimmt.

Er stand auf, legte einen Zehner auf die Theke und verließ die Kneipe.

Fünf Minuten später stand er vor der Haustür von Jeannettes Wohnung, in der er nun schon wieder längere Zeit mit seiner Freundin zusammen wohnte.

Direkt vor der Tür, zwei Parkplätze vor seinem geliebten alten MZ-Motorradgespann, stand der Wagen, den er sich vor einigen Wochen geleistet hatte: Ein völlig neu aufgebauter Ford Granada. Als Cabrio umgebaut. Amethystfarben, elfenbeinfarbene Ledersitze, Klimaanlage …

Karlos Laune besserte sich merklich, als er sich hinters Steuer fallen ließ, den Motor startete und dem brabbelnden Sound des Sechszylinders lauschte. Die Auspuffanlage von Martinelli, reines Edelstahl, tat, was sie am besten konnte. Karlo trat kräftig auf das Gaspedal und genoss das wütende Fauchen der Maschine.

Fast zwei Stunden war Karlo durch Frankfurt kutschiert, noch immer verfinsterten dunkle Wolken seine Gedanken. Vielleicht sollte er doch ein wenig unter Leute gehen. Aber in der Bluesmühle kannten ihn alle, und Jeannettes Sprunghaftigkeit war allgemein bekannt. Er wollte sich nicht zum Gespött machen, indem er zum hundertsten Mal die gleiche Geschichte erzählte. Außerdem war er nicht sicher, ob Jeannette irgendwann dort auftauchte. Und vor versammelter Mannschaft wollte er sich nicht noch eine Szene von ihr machen lassen. Vor allem nicht, wenn sie dermaßen unberechtigt war.

Also neutrales Terrain.

Er war einfach losgefahren und hatte seinen Orientierungssinn auf Autopilot geschaltet. Daher hätte er nicht sagen können, welche Macht ihn ins Frankfurter Bahnhofsviertel gelotst hatte.

In der Weserstraße, ganz in der Nähe des Hauptbahnhofs, fand er einen kostenlosen Parkplatz. Er stellte den Wagen ab, verschloss ihn und begann, sich ziellos durch die Straßen treiben zu lassen.

Es war schon einige Jahre her, dass er sich in dieser Gegend zu Hause gefühlt hatte. Enttäuschung breitete sich aus, als ihm die zahlreichen Veränderungen bewusst wurden.

Karlos feine Antennen spürten, dass nun ganz andere Leute hier das Sagen hatten. Vorbei die Romantik des Zwielichtigen, des Dubiosen. Die bösen Jungs, die aus den protzigen Autos stiegen, waren anders, ihre Sprache auch. Osteuropäische Sprachfetzen wehten vorüber, schwarzafrikanische Dealer versuchten, ihn mit vielsagenden Blicken und Gesten zu ködern.

Auf unangenehme Weise fühlte er sich beobachtet, abgeschätzt, fast nackt.

Und alleine. Alleine in der Menge.

Was ihn hier plötzlich umtrieb, war keine Angst, nein, es waren eher Bedenken. Konnte man Leute nur durch seine Anwesenheit provozieren? Er fühlte sich zur falschen Zeit am falschen Ort. Ein Fremdkörper. Alle schienen ihn anzustarren, ihm nachzuschauen. Er lief weiter, versuchte, niemandem ins Gesicht zu sehen.

Wen ich nicht sehe, der sieht mich auch nicht.

Doch dann.

Diese Kneipe da, an der Ecke, sah ziemlich normal aus. Auch ihr Name klang beinahe so wie früher. Die Schiffschaukel. Ganz sicher führte sie damals, zu Karlos wilden Zeiten, einen anderen Namen, aber Namen kamen und gingen mit ihren Besitzern oder Pächtern. Er konnte sich nicht erinnern.

Neugierig blieb er vor der Gaststätte stehen und suchte unsicher Rat beim Einzigen, der im Augenblick bei ihm war.

Bei sich selbst.

Mittwoch, 20. April
Frankfurter Bahnhofsviertel

2

Eigentlich wollte Karlo Kölner nicht in diese Kneipe gehen. Und eigentlich hätte er auch nicht erwartet, dass es solche Kneipen hier am Bahnhof noch gab. Dummerweise passieren die schlimmsten Dinge oft dann, wenn man sich vornimmt, dieses oder jenes nicht zu tun. Man verkrampft, und dann überrollen einen die Ereignisse – so ist das nun einmal.

Karlo Kölner stolperte also die Stiegen hoch, zog die Tür der Eckkneipe auf und trat ein.

Abgestandene, feucht-stickige Luft schlug ihm entgegen. Die abscheuliche Mischung aus Zigarettenqualm, Bierdunst und Schweißgeruch stand im Raum wie ein ungewaschener Eisbär, und wenn einer der Gäste von der Toilette kam, zog er eine beißende Fahne von Klosteinduft und Urin hinter sich her. Der Wirt hinter der Theke guckte Karlo feindselig an und machte keine Anstalten, ihn nach seinen Wünschen zu fragen.

Auf einem bedenklich wackeligen Barhocker hockte, in Gesellschaft einiger anderer zweifelhafter Figuren, ein hünenhafter Fettwanst, einen Kopf größer als Karlo, die ersten drei Hemdknöpfe offen, ein fettes Goldkettchen über dem Brustpelz, vielleicht ein bisschen älter als Karlo, aber mit gefährlichen Augen, schwarzem, zurückgegeltem Haar, so wie früher, in diesen alten Schwarzweißfilmen.

Na, Sie wissen schon.

Kneipen dieser Art, schoss es Karlo durch den Kopf, betritt man nur in Gesellschaft seines großen Bruders.

Seines ganz großen Bruders.

Doch Karlo war alleine.

„So ein Pech aber auch!“

Karlo hörte seine eigene Stimme wie durch eine Wand aus Styropor. Er wühlte demonstrativ in seinen Hosentaschen. „Hab gar kein Geld dabei“, flunkerte er fahrig. „Bin wohl in die falsche Hose gestiegen. Na, was soll’s.“ Verlegen grinste er in die obskure Runde. „Dann gehe ich eben wieder!“

Und wollte sich schnell dem Ausgang zuwenden.

Die Ausrede hatte offenbar nicht sonderlich überzeugend geklungen.

Oder der Dicke suchte Streit. Karlo hatte kein gutes Gefühl, als der monströse Riese beängstigend geschmeidig vom Barhocker glitt.

„Meine Gesellschaft passt dir wohl nicht, Freundchen?“

Karlos Lippen wurden zu zwei dünnen Strichen. Er zog die stickige Luft durch die Zähne und schaute dem Dicken prüfend in die Augen. Manche Leute grinsen aufreizend, wenn sie einen provozieren wollen. Sie schauen wütend, sie schauen drohend, oder sie versuchen wenigstens gefährlich auszusehen.

Der Fleischberg jedoch verzog keine Miene.

Karlo wurde es mulmig. Er vollführte eine viertel Drehung nach rechts, Richtung Ausgang und wollte schnell an dem Dicken vorbeihuschen.

Der Gegelte war schneller.

Er trat Karlo in den Weg und rülpste ihm ins Gesicht. Karlo verschlug es den Atem. Es roch ekelhaft säuerlich, eine Mischung aus billigem Fusel, kaltem Rauch, Erbrochenem, schalen Zwiebeln und verdorbener Leberwurst. Schleimige Reste zähen Speichels klebten in seinen Mundwinkeln wie angetrocknete Gummilösung.

Karlo musterte dieses menschliche Gebirge von oben bis unten, und eine Gänsehaut kroch über seinen Rücken. Er trat einen Schritt zurück und begann laut zu fantasieren, plapperte von der Bewährung, die er noch hätte, dass er sich nicht prügeln dürfe, sonst würde er prompt wieder einfahren.

All so einen Mist eben, den man erzählt, wenn man absolut nicht weiter weiß.

Der Dicke verzog sein Gesicht, es war wohl ein Grinsen. Dann ging er einen weiteren Schritt auf Karlo zu. Karlo atmete durch, spannte seinen Körper und bemühte sich, böse zu gucken.

Was jetzt kam, war der Mut der Verzweiflung.

„Geh mir aus dem Weg, du fette Schwuchtel!“, fauchte er mit angewidertem Blick.

Mann, das saß!

Die restliche Besatzung an der Theke hielt die Luft an.

Das Gesicht des Dicken wurde drei Stufen dunkler, er glotzte Karlo fassungslos an, als hätte der sein Goldkettchen im Klo runtergespült. Diesen Augenblick der Überraschung nutzte Karlo und schlug ihm einen rechten Haken seitlich ans Kinn, so hart er nur konnte.

Ganzer Körpereinsatz. Karlo dachte, seine Hand splittere in tausend Stücke.

Der Fleischberg stand wie ein Fels, schaute Karlo an, überrascht, fast neugierig. Gar keine Wirkung, dachte Karlo, verdammte Scheiße, der rührt sich gar nicht. Was soll jetzt werden, mein Himmel?

Und dann passierte es!

Ohne den Gesichtausdruck zu verändern, langsam, ganz allmählich, sackte der Hüne nach halblinks weg. Änderte dann wieder die Richtung, fiel nach hinten, mit seinem klebrigen Gelschädel gegen einen ungepolsterten Barhocker. Ein komisches Geräusch ertönte, eine Mischung zwischen einem lauten „Knacks“ und einem scharfen „Platsch“, so etwas hatte Karlo vorher noch nie gehört.

Dann lag der Dicke reglos am Boden.

Welch ein Hammerschlag, dachte Karlo selbstgefällig und rieb sich verstohlen die schmerzende Hand.

Die Atmosphäre in der Kneipe gefror erneut.

Kein Laut, keine Bewegung, nichts.

Lange Sekunden vergingen.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Ein kleiner hässlicher Kerl Mitte zwanzig, mit Frettchengesicht und einem Gitarrenkoffer in der Hand, enterte den verqualmten Raum. Sein Blick kämpfte sich misstrauisch durch den Smog.

„Verflucht, was ist denn hier los?“

Er starrte auf den gefällten Riesen am Boden, musterte zuerst Karlo mit großen Augen und blickte dann fragend in die Runde.

„Hey, der Neue hier hat den Baron plattgemacht“, dröhnte eine heisere Stimme von der Theke her.

„Wurde auch mal Zeit“, schallte es hinter den Zapfhähnen hervor.

Karlo Kölner stand wie angewurzelt mitten im Raum, den Mund weit offen.

Mit einem Mal brach ein schallendes Gelächter aus. Drei, vier Figuren lösten sich von der Theke, klopften Karlo auf die Schulter und schauten ihn bewundernd an. Der kleine Kerl hatte seine Gitarre an einen Tisch gelehnt und kam ebenfalls auf Karlo zu.

„He, Chef, wie heißt du?“

„Kölner“, krächzte Karlo mit trockener Kehle, „Karlo Kölner.“

Der Kleine hielt Karlo die Hand hin. „Macht nichts“, sagte er trocken, „was willst du trinken?“

Vorsichtig ergriff Karlo die angebotene Hand. „Wenn du meinst – ein Bier?“

Der Kleine grinste verschlagen. „Man nennt mich Pinky. Und du hast den Baron flachgelegt? Respekt! Da haben wir doch einen verdammt guten Grund für einen Drink …“

Eine Viertelstunde verging. Man könnte auch sagen: zwei lauwarme Wodka pur und zwei Pils später.

Der Baron lag immer noch flach.

Keiner scherte sich darum.

Karlo blies die Backen auf. Er wollte nur noch schnell raus aus dieser Kaschemme. Aber er bekam keine Chance. Immer wieder stand ein neues Getränk vor ihm. Doch zuallererst musste er dringend pinkeln. Er ging zur Toilette und hielt angewidert die Luft an. Der Gestank hier war kaum zu ertragen.

Als er zurück in den Gastraum kam, war der Baron verschwunden. Erschrocken blickte er um sich, ob der Riese in einem Hinterhalt auf ihn lauerte, um sich für den rechten Haken zu bedanken. Nervös drehte er sich einmal um sich selbst, schaute sichernd in alle Ecken, doch der Baron blieb verschwunden.

Er deutete auf den Platz, an dem der Baron noch vor drei Minuten gelegen hatte.

„Wo ist er?“

„Weg.“ Der Wirt zuckte mit den Achseln.

„Was heißt weg?“

„Weg heißt weg.“

„Aber …“

„Frag nicht so blöd. Hier!“ Der Wirt stellte ein frisches Bier und einen Wodka auf die Theke. „Setz dich hin und trink erst mal einen.“

Karlo erklomm den Barhocker und kippte den klaren Schnaps ohne sichtliche Regung. Der Wirt schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Und du bist also Karlo?“

„Richtig.“ Karlo trank sein Bier aus.

„Ich bin hier der Wirt.“

„Aha“, brummte Karlo. „Als hätte ich es geahnt.“

Der Wirt hielt ihm die Hand hin. „Meine Freunde nennen mich Stunt.“

Karlo ergriff die Hand. „Alles klar, Stunt.“ Karlos Neugier war geweckt. „Sag mal, Stunt, warum nennt ihr den Dicken eigentlich den Baron?“

Stunt ließ einen trockenen Lacher los. Es hörte sich eher an wie ein Husten. „Er ist ein verschissener Adliger.“

„Was?“ Karlo verstand nicht.

„Na, ein Adliger eben. Ein von und zu Dingsbums, von Sowieso … ach, was weiß ich denn. Kann mir Namen nicht merken. Auf jeden Fall nutzt es ihm nichts. Total runtergekommen, der Bursche.“ Sein Gesicht hellte sich auf. „Von der Hatz. So heißt er. Aber egal – er hat seine Chance nicht genutzt.“

„Was für ’ne Chance?“

Seine Chance eben. Hat nicht jeder eine Chance? Irgendwann mal im Leben?“

„Bist ’n Philosoph, Stunt, was?“

Stunts Gesicht umwölkte sich.

„Hey, Pinky!“ Die kratzige Stimme des Mannes, der direkt neben Karlo an der Theke hockte, unterbrach das Gespräch. „Warum spielst du uns nicht einen?“

„Ja, genau“, fielen die anderen ein, „mach mal ’n bisschen Musik.“ Leben kam in die Bude.

„Genau. Spiel doch mal West Virginia. Von diesem Typen da, diesem amerikanischen Heino“, kam es betrunken von einem der Tische im Gastraum.

Pinky schaute genervt. „Der Song heißt nicht West Virginia. Der heißt Country Roads. Und der amerikanische Heino hieß John Denver und ist mit seinem eigenen Flugzeug über der Monterey Bay in Kalifornien abgestürzt. Täte dir auch gut.“

„Isser denn tot?“

„Mindestens“, grinste Pinky zurück. „Und ich hasse dieses Lied. Das hab ich schon eine Million Mal gespielt, und es hängt mir langsam zum Hals raus.“

„Ach, jetzt komm schon. Lass mal was hören …“

Karlo hatte sich anstecken lassen und war neugierig geworden. Er liebte gute Blues- und Rockmusik. „Ja, Mensch, Pinky, lass mal hören. Zeig doch mal, was du so draufhast.“

Pinky zögerte kurz, dann rutschte er vom Barhocker. „Na gut. Weil du neu bist. Und weil du den Baron umgenietet hast. Ich mach’s für dich. Aber nur zwei Lieder. Dann will ich in Ruhe was trinken.“

Begeisterter Applaus.

Der Kleine holte eine chromglänzende Akustikgitarre aus dem Koffer, hängte sie um und begann, sie zu stimmen.

„Ah, eine Dobro“, ließ Karlo vernehmen. „Hab ich lange nicht mehr gesehen.“

„Du kennst dich aus? Bist du Musiker?“

„Nein, nein. Das nicht. Aber ich kenne einige Musiker sehr gut. In meiner Stammkneipe ist ab und zu mal Livemusik. Vielleicht kann ich mal ’nen Gig für dich klarmachen.“

„Warum nicht?“ Pinky zog sich einen Barhocker in die Mitte der Kneipe und rutschte mit einer Pobacke auf den blankgewetzten Sitz. Dann begann er zu spielen.