Steinfest, Heinrich Gebrauchsanweisung fürs Scheitern

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Das erste Motto stammt aus:
Terry Eagleton, Hoffnungsvoll, aber nicht optimistisch
© 2016 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

 

Das Zitat auf Seite 160 stammt aus:
Rudolf Kraus, alpha[ge]bet, Verlagshaus Hernals, Wien

 

Wir bedanken uns für die freundliche Abdruckgenehmigung.

 

© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas
Covermotiv: vorne: Marcel / Stocksy (Skulptur von Henri Vidal,1896, im Jardin des Tuileries in Paris nähe Louvre)

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Zitat

Am Ende keinen Erfolg zu haben

heißt nicht unbedingt, versagt zu haben,

genauso wenig, wie tatsächlich alles gut ist,

wenn das Ende gut ist.

Terry Eagleton, Hoffnungsvoll,
aber nicht optimistisch

 

The world is divided into two classes –
invalids and nurses.

James McNeill Whistler,
amerikanischer Maler

Ein Nachwort als Vorwort oder Über den Christus an meiner Wand

Dieses Buch begann mit einem Scheitern, bevor noch der erste Satz geschrieben war. Denn eigentlich sollte es ja ein ganz anderes Buch werden. Ich hatte mir überlegt, welches Thema in der Reihe der literarischen Reise- und Lebensführer unbedingt noch zu verfassen sei, und war zu dem Entschluss gekommen, es bräuchte eine Gebrauchsanweisung für das Leben nach dem Tod. Beziehungsweise für die Reise dorthin.

Ganz verliebt in diese Idee, meldete ich dem Verlag meine Pläne, um zu erfahren, dass bereits Bruno Jonas an einem diesbezüglichen Werk arbeite und es demnächst erscheinen werde. Und das war nun auch der Fall: Bruno Jonas, Gebrauchsanweisung für das Jenseits, Piper, München 2018.

Ein österreichisches Schicksal!

Denn ich bin ja Österreicher.

In jener berühmten Travnicek-Doppelconférence von Gerhard Bronner und Helmut Qualtinger gibt es eine Szene, in welcher der von Qualtinger gespielte Travnicek davon spricht, die Schiffsschraube erfunden zu haben. Sein Gesprächspartner entgegnet, diese sei doch schon längst erfunden. Woraufhin Travnicek antwortet, ja, das habe er leider nicht gewusst. Und folgert: »Ein österreichisches Schicksal.«

Ein österreichisches Schicksal, das ziemlich gerecht über die ganze Welt mit ihren vielen irgendwie Zuspätgekommenen verteilt ist. Travniceks »Schiffsschraube« ist geradezu ein Symbol für all die Leider-nein-Millionäre und die kleinen und großen Bankrotteure, für Leute mit grandiosen Ideen, aber weniger grandiosen Umsetzungen, nicht zuletzt aber auch für die Zufrühgekommenen, für Leute, die Schiffsschrauben in die Welt gesetzt haben, bevor noch das Schiff erfunden wurde.

Okay, meine Gebrauchsanweisung für das Leben nach dem Tod konnte ich also im wahrsten Sinne »abschreiben«, weshalb ich zu überlegen begann, wovon ich sonst noch mindestens so viel Ahnung besitze wie vom Jenseits. Und kam rasch auf das Thema der Niederlage. Um aber festzustellen, dass, sobald ich Leuten von diesem Vorhaben erzählte, viele mich erstaunt fragten, ob denn nicht schon längt eine Gebrauchsanweisung für Holland auf dem Markt sei. Es bestand ein akustisches Missverständnis: Niederlande statt Niederlage. Darum wechselte ich in der Folge zum Begriff des Scheiterns, ohnehin das sehr viel bessere Thema. Die Niederlage scheint vor allem im Politischen, Militärischen und Sportlichen beheimatet und ist einer der Pole allerlei Wettbewerbe, das Scheitern aber ist fundamentaler, alltäglicher, »menschlicher«, es verbindet uns alle, basiert nicht immer nur auf Tatsachen, ist oft ein Gefühl. Niederlagen müssen wir erst einmal erleiden, um zu wissen, was das ist. Mit dem Gefühl des Scheiterns – zumal als sterbliche Wesen – werden wir bereits geboren und reagieren mit verständlicher Empfindlichkeit auf alles, was dieses Gefühl bestätigt.

Dennoch, diese Gebrauchsanweisung will natürlich auch ein lustiges Buch sein, weil in nichts so sehr wie im menschlichen Scheitern eine ungeheure Komik steckt, eine befreiende Kraft des Negativen, des Fragilen und Verbesserungswürdigen. Ein göttliches Zwinkern, das sich auf unsere niedergeschlagenen Lider senkt.

 

Ich weiß nicht so recht, warum, aber an dem Nachmittag, als ich die ersten lektorischen Kommentare zur Rohfassung dieser Gebrauchsanweisung erhalte und rein gar nicht weiß, wie ich es schaffen soll, die bereits bestehende Überlänge des Manuskripts mit all dem unter einen Hut zu bringen, was laut meinem Lektor noch fehlt oder anders besser wäre – also eine Hecke so zuzuschneiden, dass trotz faktischer Reduktion die Masse zunimmt –, in diesem Moment größter Unsicherheit fotografiere ich den Arbeitsraum in meiner Stuttgarter Wohnung, um das Foto an meine in der Wiener Heimat lebende Mutter zu schicken. Das Bild eines sehr ordentlichen, disziplinierten Raums: ein leer geräumter Tisch, dazu die brav in Reih und Glied dastehenden Bücher, natürlich auch akkurat gestapelte Türme von Manuskripten, die kein Karatemeister durchschlagen und kein Wrestler zerreißen könnte. Nicht zuletzt an der Wand eine leicht gelbliche, hölzerne Christusfigur sowie eine mit Goldfarbe bestrichene Schutzmantelmadonna.

Ich bin in einem atheistisch geprägten Haushalt aufgewachsen. Es war kein militanter Atheismus, der da gepredigt wurde, kein linker, kein philosophischer, mehr ein Atheismus der Verwunderung darüber, dass Menschen auf die Idee kommen, in einer sichtbaren Welt Vorstellungen über das Unsichtbare zu entwickeln. In erster Linie aber bestand ein Aufbegehren gegen den Umstand, aus einer Kirche austreten zu müssen, in die man willentlich ja noch gar nicht eingetreten war. Und im Falle der katholischen Kirche auch gar nicht wirklich austreten kann, der Austritt ist nur eine Illusion jener ewig Getauften, die sich quasi das Begehen ihrer kirchenrechtlichen Straftat – der Apostasie – dadurch versüßen, in Zukunft keine Kirchensteuer mehr bezahlen zu müssen. Nur logisch, dass meine Eltern mich gar nicht erst taufen ließen.

Ich schicke also dieses Foto meines Arbeitsplatzes und Arbeitsraums an meine Mutter, wie um mir zu beweisen, dass, obgleich Chaos in meinem Kopf herrscht, in meiner Wohnung Ordnung und Übersicht walten. Vielleicht auch bin ich ihr einfach mal wieder eine Nachricht schuldig, habe mich aber völlig leer geschrieben. Darum ein Foto, das zwar nicht mehr als tausend Worte sagt, ein paar aber schon.

Ein Foto, das in der Folge auch meine Mutter zu ein paar Worten anregt.

Dass in meiner Wohnung ein Christus hängt, irritiert sie natürlich. So wie alle Eltern, die sich fragen, was sie bloß falsch gemacht haben in ihrer Erziehung. Der Friedensaktivist, dessen Sohn Offizier wird, mag es so wenig fassen wie die Immobilienmaklerin, deren Tochter eine Karriere beim Mieterschutzbund anstrebt. Umgekehrt wundert es kaum jemanden, wenn Kinder aus einer Familie, in der die Erwachsenen ständig alle Zimmer vollqualmten, froh sind, wenn sie den Rest ihres Leben in raucherfreien Zonen verbringen können.

Meine Mutter ist mir nicht böse. Sie wundert sich nur, umso mehr, als ich noch immer ungetauft bin, noch immer konfessionslos, aber zu Hause einen Christus hängen habe. Die goldene Schutzmantelmadonna kann man noch verstehen, sie ist aus Mariazell und vermittelt schon sehr stark dieses »Wenn es nichts nützt, schadet es zumindest nicht«. Einmal in Mariazell gestrandet – Atheist hin oder her –, nimmt man halt gern ein Andenken mit.

Der einfache, fast weiße Christus hingegen, in seiner Haltung des Gekreuzigten, aber ohne Kreuz, ist zu fundamental, zu ernst, zu schmucklos. Noch dazu in diesem Arbeitszimmer hängend, über den Stößen von Manuskripten.

Meine Mutter schreibt mir dazu das Folgende: »Welche Beziehung hast Du zum Jesus? Imponiert er Dir als Mensch? Oder ist es das Leid, welches man ihm angetan hat?«

Eine wirklich gute Frage. Ist es das Leid, an dem ich so hänge?

Man denkt nur selten daran, weil man sich derart an den Gekreuzigten gewöhnt hat. Aber es ist doch verwunderlich, dass die Menschheit, die so gerne in Heldenposen und Siegesräuschen, in Triumphgesten und Führerkulten denkt, einen ihrer wichtigsten »Superhelden« in einem Moment schrecklichster Demütigung und offenkundiger Hilflosigkeit zeigt. Ihn im Augenblick seines Scheiterns dokumentiert, ja, dieses Scheitern zum grundlegenden »Markenzeichen« macht: das Kreuz (immerhin das Todeswerkzeug der Feinde) sowie den gekreuzigten Menschen. Statt etwa die so viel würdevollere, geradezu triumphatorische Auferstehungsszene. Abgesehen von all den für einen Superhelden typischen Handlungen des Übermenschlichen, übers Wasser laufen und Ähnliches.

Aber nein, es ist der ans Kreuz Genagelte, Verblutende, Sterbende, der zumindest nach Markus und Matthäus seinen Gott fragt, warum er ihn verlassen hat, und den es laut Johannes ganz menschlich dürstet und welcher laut dem späten Lukas – schon etwas übermenschlicher – um Vergebung für jene bittet, die ihn überhaupt erst in diese Lage gebracht haben. Dieser wunderfähige Mann, der auf dem Kreuz verbleibt, anstatt von ihm herunterzusteigen, wie von einigen erwartet und erhofft. Und den wir Abertausende Male verbildlicht genau in diesem Moment seines Scheiterns festhalten.

Ist das der Grund, dass er hier an meiner Wand hängt? Gottes Sohn als ein an der Menschheit Gescheiterter. Der dabei aber – ich muss es einfach sagen – eigentümlich schön ist. Bei aller Qual, bei aller Erniedrigung, bei allem geradezu anmaßenden Gewicht, das darin besteht, die Sünden der Menschen auf die eigenen Schultern zu nehmen. Und zwar gleich mal für die nächsten zweitausend Jahre, in denen ja einiges geschehen wird abseits von Liebe und Fürsorge und freundlichem Umgang beim Anstellen an den Futtertrögen der Welt.

Die Welt ist Scheitern.

Der Mensch ist Scheitern.

Und all das besitzt eine Schönheit, die zu definieren sich dieses kleine Buch auf den Weg macht. Wie auch einiges an Hässlichkeit.

Die gescheiterte Hoffnung

Denke nicht ans Gewinnen, doch denke darüber nach,
wie du nicht verlierst.

Funakoshi Gichin,
Die 20 Regeln

Denke nicht ans Verlieren, doch denke darüber nach,
wie du nicht gewinnst.

Unbekannter Mann

Als ich vielleicht zehn, elf Jahre alt war, fiel mir ein Buch über Segelboote in die Hände. Dieser Bildband war sicher der Ausgangspunkt vieler in meiner Jugend angefertigter Zeichnungen derartiger Boote, so wie dieses Buch vielleicht auch sehr viel später dazu beigetragen hat, dass einige Segelszenen in meinen Romanen auftauchten. Ich selbst war allerdings nur ein einziges Mal segeln, so mit vierzehn etwa, ein Wochenendausflug mit meinem oft absenten Vater und meinem Bruder. Ein Ausflug, der seinen Höhepunkt darin fand, dass wir auf dem für seine geringe Wassertiefe bei gleichzeitiger Gefährlichkeit bekannten Neusiedler See kenterten. Wir waren nicht die Einzigen. Überall auf dem von starkem Wind aufgepeitschten Wasser sah man die liegenden Boote von Ausflüglern. Es hatte etwas von einer Regatta für Waagrechtsegler.

Mein Vater war ein aus vielen Demütigungen heraus entstandener Mann des Siegens, den dieses Missgeschick schrecklich ärgerte und der keinesfalls vom Bootsverleiher gerettet werden wollte, welcher an diesem Tag sein Geschäft weniger mit dem Verleih der Boote als ihrer Rückholung machte.

Wir standen da im Wasser, die Füße im weichen Schlamm wie in einer saugenden Muschel, und versuchten unter den Anweisungen meines Vaters, das Boot wieder in die Senkrechte zu befördern. Ich meine, mich an meine Angst zu erinnern, Angst vor dem Wasser, Angst, etwas falsch gemacht zu haben, Angst, dieses Boot nie und nimmer zum »Aufstehen« bewegen zu können. Eher schien mir das Boot wie eines dieser in Wildwestfilmen umgeschossenen Pferde, einerseits. Andererseits empfand ich mit großer, berauschender Plötzlichkeit, wie sich hier ein ersehnter Zustand einstellte: Familie zu sein. In diesem Moment des Scheiterns und der Angst spürte ich eine große Nähe zu dem während seiner seltenen Besuche mir stets so fremden Erzeuger. Einen verrückten Moment lang dachte ich mir, dass dieser »Unfall« uns auf ewig zusammenschweißen würde. Aber klar, wir mussten natürlich zusehen, der Schmach des Abgeschleppt-und-aus-dem-Wasser-gezogen-Werdens zu entkommen, schafften es tatsächlich, das »Pferd« wieder auf die Beine zu befördern, wären dann aber beim Hineinklettern beinahe erneut gekentert … Fast wünschte ich mir eine kleine, uns verbindende Komödie wiederholten Kenterns.

Doch wir blieben oben und begannen, mit einem Eimer und bloßen Händen das Wasser aus dem Inneren des Boots zu schöpfen. Um in der Folge unter einigen Mühen an einen Ufersteg zu gelangen, ein Abflauen des Windes abzuwarten und schließlich die Rückfahrt anzutreten. Es gelang. Sehr zum Erstaunen des Bootsverleihers, der gehofft hatte, uns kostenpflichtig retten zu müssen. Nachher erhielt diese Geschichte innerhalb der Familienhistorie diverse Ausschmückungen, die den Sturm heftiger, die Situation dramatischer und den Ärger des Bootsverleihers ärgerlicher erscheinen ließen. Ich dachte noch lange an diese gewisse familiäre Verbundenheit, als wir da mit einem Mal im Wasser standen. Das Glück im Moment des Scheiterns und weniger im Moment des Gerade-noch-davongekommen-Seins.

Es war also drei, vier Jahre davor, als ich auf besagtes Buch übers Segeln stieß, einen Band mit vielen tollen Bildern, auf denen die Ozeane, über welche die Schiffe fuhren, wie eine Bühnenfassung des romanhaften Neusiedler Sees wirkten. Was mich dabei am meisten faszinierte, waren gar nicht so sehr die großen Jachten und gewaltigen Dampfer, sondern die im wahrsten Sinne handlichen Boote der Einhandsegler. Wobei ich noch lange vermutete, dies würde eben nicht nur bedeuten, dass hier ein Mann oder eine Frau ganz alleine segelte, sondern vor allem, dass er oder sie das Steuerrad immer nur mit einer Hand bediente. Dies hatte in meiner Vorstellung eine ungemeine Würde und Souveränität. Wie man sich einen großen Bildhauer denkt, der eine Figur mit nur einer Hand modelliert, in der anderen aber elegant eine Zigarette hält. Und zwar vor lauter Überheblichkeit mit seiner schlechteren Hand – also mit der schlechteren Hand die Figur modelliert, mit der besseren die Zigarette hält.

Eine der Abbildungen in diesem Buch ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Darauf ist ein kränklich blasses Boot bei ruhiger See zu erkennen. Blass und verlassen. Ich weiß noch, dass die Bildunterschrift irgendwelche Hinweise darauf lieferte, wie sehr das Einhandsegeln nicht allein den menschlichen Körper herausfordere, sondern eben auch den menschlichen Geist, und zu immensen psychischen Problemen führen könne. Man bedenke die Isolation über einen so langen Zeitraum.

Genau das musste dem »einhändigen« Mann zugestoßen sein, der auf diesem Boot gewesen war, das mich, den Zehn- oder Elfjährigen, so fasziniert hatte. Ein trauriges Boot. Und erst sehr viel später würde mir der Anblick eines anderen Fahrzeugs der Meere ein ähnliches Gefühl vermitteln. Ein Schiff, das man kaum sieht, derart ist es von arktischen Eisblöcken zugedeckt. Und doch ist es gerade mittels seines Verschwindens das zentrale Objekt.

So, wie ich lange glaubte, Einhandsegler seien in lässiger Weise nur ihre Rechte oder Linke gebrauchende Gelehrte der Einsamkeit, so dachte ich auch lange, dass der Titel dieses bestimmten Bilds von Caspar David Friedrich Die gescheiterte Hoffnung laute. Und unter diesem Titel ist es ja auch heute noch bestens bekannt. Allerdings ist seit 1965 kunsthistorisch erwiesen, dass es sich bei diesem Titel um eine Verwechslung handelt und er, der Titel, sich eigentlich auf das bereits 1822 entstandene Polarbild Ein gescheitertes Schiff auf Grönlands Küste im Wonne-Mond (auch Misslungene Nordpolexpedition oder Die zertrümmerte Hoffnung) bezieht. Darauf ein ähnlich von Eisschollen zerdrücktes Schiff zu sehen ist. Ein Wrack, auf dessen Resten man den Schiffsnamen lesen kann: Hoffnung. Dieses Bild gilt allerdings sei 1868 als verschollen. Während das allgemein bekannte zweitgemalte seit 1905 in der Hamburger Kunsthalle hängt und nun Das Eismeer heißt. Was aber nichts daran ändert, dass man bei seinem Anblick meint, die »gescheiterte Hoffnung« zu sehen, möglicherweise sogar ein Schiff, das den gleichen Namen trägt wie jenes auf dem davor gemalten und nun verschollenen.

Ich glaube, es ist dies wirklich ein Gemälde, das in den Köpfen der Europäer festsitzt. Bewusst oder unbewusst. Sowohl in Kombination mit dem Namen des Malers und seiner Bedeutung als auch in Form einer irgendwo aufgeschnappten Abbildung. Es ist geradezu die gemalte Hymne auf das Scheitern. Im Falle des Künstlers selbst bezieht sich dies auf die vielen nicht erfüllten Hoffnungen in der Zeit des Vormärz sowie auf den Umstand von Friedrichs damals bereits verblassendem Stern. Es brauchte darum das 20. Jahrhundert mit seiner Begeisterung für die Leere, um die betörenden Einsamkeitsbilder dieses Künstlers wieder in den Blickwinkel eines großes Publikums zu rücken.

Ohne noch viel über den Hintergrund dieses Bilds zu wissen, empfand ich schon beim ersten Mal, als ich es in der verkleinerten Form einer Kunstkarte sah, dennoch die tiefe Wahrheit seiner Aussage. Wie sehr eben die Hoffnung an das Scheitern gebunden ist. Wie banal eine Welt wäre, in der sämtliche Hoffnungen sich erfüllten. Weil nämlich in einer solchen Welt Bilder wie dieses von Friedrich gar nicht entstehen würden. Es braucht das Unglück, um darüber berichten zu können. Und natürlich schafft das Unglück die Kunst und die Philosophie. Und eigentlich alles, was ständig damit beschäftigt ist, das Unglück zu verhindern oder es erträglich zu machen oder auch nur es zu begreifen. Unentwegt geschehen Fehler, erfolgen Irrtümer, passieren Missgeschicke.

Man wird mir entgegenhalten, dass doch auch vieles gut geht. Ja, es geht aber darum gut, weil wir so verzweifelt wie verbissen gegen die Natur des Schlechtgehens ankämpfen. Die Welt ist ununterbrochen dabei, auf einer Bananenschale auszurutschen. Und ununterbrochen dabei, Bananenschalen aus dem Weg zu räumen.

 

Als ich mich jetzt an dieses Bild einer verlassenen Segeljacht erinnere und dabei an die Traurigkeit, aber eben auch Rührung, die der Anblick in mir auslöste, beginne ich zu recherchieren und stoße auf einen Mann namens Donald Crowhurst. Und bin mir bald sicher, dass es sich bei ihm um jenen Einhandsegler handelt, dessen verlassenes Boot, ein Trimaran namens Teignmouth Electron, mir als Kind ein Gefühl gab für die bittere Süße des Scheiterns.

Obgleich ich also den Namen des Boots und den Namen des Mannes zu diesem Boot bald kenne, kann ich gleichzeitig in der Menge von Fotos, die das Internet anbietet, nicht das eine Bild aus dem Buch meiner Kindheit ausmachen. Viele ähnliche, aber nicht dieses eine. (Es bereitet uns zwischenzeitlich auch eine gewisse Freude, etwas nicht zu finden. Etwas nicht zu finden erscheint fast wie ein Beweis dafür, dass es wirklich existiert oder existiert hat.)

Was ich freilich gleich entdecke, sind die vielen Hinweise darauf, es komme soeben ein Film mit Colin Firth in der Rolle des Donald Crowhurst in die Kinos, ein Film nach einer wahren Begebenheit. Was immer ein wenig so klingt, als würde sich jemand für ein Ausweiden der Realität entschuldigen.

Spiegel Online hatte siebenundvierzig Jahre nach den Ereignissen getitelt: Der Mann, der sich um den Verstand segelte. Während die FAZ zwei Jahre später sich zu einem Er wollte Meer aufschwang. Dürfte auch ich einen derartigen Titel auswählen, ich würde sagen: Der Ed Wood des Segelns.

Das Faszinierende an dieser Geschichte ist sicherlich die Blindheit des Akteurs für die Realitäten. So wie die extreme Vermessenheit, mit der er sich an einem Weltereignis beteiligte.

Als die Sunday Times 1968 eine Trophäe namens Golden Globe für die erste Nonstop-Einhand-Weltumsegelung auslobt sowie einen beträchtlichen Geldpreis für den, der dabei am schnellsten sein würde, gehen neun »einhändige« Männer ins Rennen. Darunter mit dem Briten Donald Crowhurst ein absoluter Amateur und Dilettant. Ein Wochenendsegler, der im Zuge solcher Hybris zum »mystery sailor« wird.

Dieser mysteriöse Segler sticht als letzter der Mitbewerber mit seinem Trimaran von Teignmouth aus in See, mit einem Boot, das erst kurz zuvor fertiggestellt worden war und schon bei der Überfahrt zum Startort erhebliche Probleme bereitet hatte. Statt der veranschlagten drei Tage war eine ganze Woche benötigt worden. Ähnlich wie mit diesen Hunden, die, mehrere Querstraßen bevor man den Tierarzt erreicht, ihre Körper versteifen und in erstarrter Haltung und mit gespreizten Beinen über den Gehweg geschleift werden müssen. Denn bei aller Dramatik, diese Geschichte trägt auch die Züge einer Allerweltsgeschichte, bei der nämlich ein kleines Scheitern ein großes vorbereitet.

Da ist ein Mann, der hat Familie, und er hat Schulden. Er ist Besitzer einer winzigen Firma, die ein einziges Produkt herstellt, ein Funkpeilgerät. Und er ist ein Freizeitsegler. Er hat also etwas Ahnung von der Materie, aber das haben eben auch Leute, die einen Führerschein besitzen, trotzdem jedoch keinen eigenen Formel-1-Stall gründen, um Ferrari oder Mercedes das große Geld streitig zu machen.

Es wurde oft gesagt, Crowhurst sei während dieser Fahrt verrückt geworden, doch ich denke, das war er schon vorher. Auf eine bürgerliche Weise. Natürlich musste er wegen seiner angespannten finanziellen Situation ein Wagnis eingehen. Er hätte eine zweite Firma gründen können, um damit die erste zu retten, er hätte auswandern, eine Bäckerei eröffnen, Heilmasseur werden oder in die Fabrik gehen können. Aber es ist ähnlich wie beim Lotto. Es braucht ein Spiel, um an die eigene Rettung zu glauben. Alle Übertreibungen auf der Welt besitzen den Charakter eines Spiels. Das gilt für den Aktienhandel wie für das Immobiliengeschäft, für das Anhäufen von Positionen wie für das Aufstellen von Rekorden. Im Spiel wirkt die Übertreibung als das Normale. Und dazu wird es ja auch. Doch bei aller behaupteten Risikoabwägung ist der Spielende eigentlich immer ein Hasardeur. Der Spieler verachtet nicht das Scheitern, aber er verachtet, es in Erwägung zu ziehen.

Es existiert neben dem aktuellen Spielfilm mit Colin Firth auch ein sehr genauer und intensiver Dokumentarfilm mit dem Titel Deep Water. Darin eine ganz wunderbare Szene, als Crowhurst am letztmöglichen Tag, dem 31. Oktober 1968, ins Rennen geht (und jeder andere Tag als der letztmögliche hätte ihm widersprochen). Man sieht aber nicht einen trainierten, drahtigen, in irgendeiner Weise an den Unser-aller-Seemann erinnernden Jacques-Yves Cousteau, sondern einen leicht schwammigen Enddreißiger, der den gleichen hellen Pullover mit V-Ausschnitt und die gleiche dünne Krawatte trägt wie schon zuvor in einigen seiner Interviews. Im Arm einen Pappkarton, als hätte er gerade seinen Schreibtisch aufgeräumt, dazu eine Aktentasche aus Leder, prall gefüllt. Man könnte darin die Jausenbrote für die nächsten drei Wochen vermuten. In der Tat, der Mann sieht aus wie ein kleiner Beamter, der kurzfristig sein Büro wechselt. Vom Lande zu Wasser.

Als er auf dem Weg zum Boot seiner Familie begegnet, blickt seine Frau ihn mit einem Ausdruck an, der zu besagen scheint: »Schatz, willst du den Unsinn nicht lassen?« Dann aber zuckt sie mit der Schulter und fragt ihn: »How many can you manage?« Sie meint nicht die Seemeilen, sondern die gemeinsamen Kinder. Wie viele von ihnen noch kurz an Bord kommen dürfen. Es sind dann alle vier, die drei Jungs und das Mädchen samt der Mutter, die in einem kleinen Boot hinüber zur Jacht fahren. In der wackeligen Schaluppe hat sich etwas Wasser gesammelt, darin sich der Himmel spiegelt. Eine Prozession.

Crowhursts Frau mag gehofft haben, ihr Mann werde es nicht einmal schaffen, überhaupt nur aus der Bucht hinauszugelangen. Und damit zwar tragikomisch, aber ohne Beeinträchtigung seiner Gesundheit auf dieser ersten Seemeile scheitern. In der Tat präsentieren die schwarz-weißen Filmaufnahmen einen Mann, der gleich zu Beginn größte Schwierigkeiten mit einem der Segel hat. Er wirkt gänzlich deplatziert, verlassen und verzweifelt. Geradezu zeichentrickhaft linkisch ob einer Realität, die sich aus starkem Wind und wildem Wasser und dem Umstand zusammensetzt, dass der Mensch auf dem Meer eigentlich so wenig verloren hat wie in den hohen Lüften oder in einem Computerprogramm.

Aber es muss sein!

Gleich darauf liefert uns die Kamera Bilder – und zwar mit einem Mal in Farbe –, die zeigen, wie es auch gehen kann: aufgeblähte Segel, ein rasch dahinziehendes Schiff, der nackte, muskulöse, braun gebrannte Körper von Bernard Moitessier, dem Favoriten des Rennens. Hier haben wir unseren Cousteau! Eine harmonische Verbindung von Mensch und Vehikel. Eine Symbiose, die wie auf einer ungemein elastischen Schiene übers stark bewegte Meer dahinzuziehen scheint.

Sodann wieder Originalaufnahmen, die von Crowhurst stammen. Diesmal ebenfalls in Farbe, aufgenommen mit einer 16-mm-Kamera. Aber was für Farben?! Farben wie auf einem Gemälde von Maria Lassnig: Angstfarben, Krankheitsfarben, Farben der Verstörung, als wäre alles – Mann, Boot, Meer und Himmel – infiziert.

Immerhin offenbart sich Crowhurst in diesen blassen »Ein-Hand-Filmen« als der erwünschte Seemann. Er spielt ihn. Seine Logbücher hingegen sollen später die Wahrheit enthüllen, etwa die immensen technischen Schwierigkeiten eines unwilligen Boots und einer ungenügenden Ausrüstung. Schwierigkeiten, die sich auf eine verrückte Weise bereits ankündigt hatten, als bei der Einweihung der Teignmouth Electron die obligate Champagnerflasche nicht zerschellen wollte und dies erst beim dritten Versuch gelang, nachdem ein Helfer die Flasche mit aller Gewalt gegen den Bug gedonnert hatte.

Es ist schwer zu beweisen, wann genau Crowhurst begann, sich eine Hochstapelei zu überlegen, die darin bestehen sollte, im Atlantik zu verbleiben und mittels falscher Daten betreffs seiner zurückgelegten Wegstrecken eine Weltumsegelung vorzutäuschen. Ich glaube, dass er diese Möglichkeit bereits im Kopf hatte, als er in See stach, nicht als eine Möglichkeit des Betrugs, sondern eine Möglichkeit, seine Inszenierung fortzuführen. Denn eine Inszenierung war es ja von Anfang an, auch dank eines von ihm engagierten PR-Beraters und Journalisten. Die mitfiebernde Welt wollte betrogen werden.

Natürlich war Crowhurst nicht nur ein Lügner, sondern auch ein verzweifelter Mensch, der sich in dem Dilemma befand, bei einer Weiterfahrt in gefährliche Gewässer zu geraten und mit größter Wahrscheinlichkeit zu kentern, bei einer demütigen Rückkehr nach England hingegen das für den Menschen am schwersten zu ertragende Gefühl aushalten zu müssen: die Scham.

Die Angst vor der Peinlichkeit, vor der Demütigung, der Schmach, verführt uns ständig dazu, uns Ausreden einfallen zu lassen. Also Bauchschmerzen vorzutäuschen, um nicht über eine Hürde springen zu müssen. Ausreden und Gegenmittel. Was tun wir nicht alles – von Beruhigungspillen angefangen über Yoga, Atemtechniken bis hin zum wohl probatesten Mittel, nämlich der Arroganz –, um eine Schüchternheit, die eigentlich ganz natürlich ist, zu kaschieren. Unsere roten Backen während einer Rede verschwinden zu lassen, dieselben roten Backen, die wir bei kleinen Kindern so süß finden, die uns aber spätestens ab der Pubertät als Ausdruck einer Inkontinenz erscheinen. Als stünde uns eine Form von Bettnässerei ins Gesicht geschrieben.

Das ist nicht übertrieben.

Als ich diese Zeilen schreibe, lese ich die Nachricht, in den USA habe sich ein Kandidat für das Amt des Bundesrichters als ahnungslos und inkompetent erwiesen, als eine Lachnummer. Spiegel Online titelt genüsslich Trumps Richterkandidat blamiert sich mit Wissenslücken. Und tatsächlich, wenn man sich die Videos von der Anhörung ansieht, präsentieren sie uns einen stotternden, lavierenden, verunsicherten Mann, der seine ungenügende Erfahrung und seine fehlenden Kenntnisse etwa in Fragen zentraler Rechtsprinzipien öffentlich eingestehen muss. Videos, die dann prompt im Internet zu »Rennern« werden. Die Schadenfreude ist groß, immerhin betrifft es einen Kandidaten des amtierenden amerikanischen Präsidenten, und dieser Präsident ist ja selbst ein Meister der Wissenslücken, aber eben ein Meister, ein Großmeister, der es versteht, den leeren Raum solcher Lücken wort- und gestenreich auszuschmücken, zu tapezieren. Während der in gänzlich ungeschmückten Lücken sich verlierende Richteranwärter ein Bild des Elends abgibt und nach dem Fiasko seine Kandidatur zurückzieht.

Natürlich, ich bin kein Freund dieses Präsidenten, der auf eine faszinierende Weise zu den widerwärtigsten Menschen auf unserem Planeten zählt, und gleich bei der Überschrift überkommt mich Freude. Als ich dann aber das zum »Renner« gewordene Video sehe, wie hier ein Mensch die Folter einer Befragung erfährt, diese ganze erniedrigende Schulzimmersituation, noch bereichert dank einer weltweiten Ausstrahlung, empfinde ich eine tiefe Scham. Und so geht es uns doch allen, oder? Klar, wir lachen und höhnen oder schütteln angewidert oder fassungslos die Köpfe, aber im Grunde leiden wir in solchen Momenten mit dem Erniedrigten mit. Unser Spott ist unsere Tarnung dafür, wie nahe uns diese von einem anderen erlebte Demütigung geht, weil sie unseren eigentlichen Kern, unsere fundamentale Angst bildet.

Jede schamvolle Situation – die eigene wie die bei einem Fremden erlebte – ist eine Erinnerung an diesen Kern, ein Widerhall. Ein Widerhall, der noch stärker wird, wenn diese Scham in den Gesichtern unserer Nächsten eine Entsprechung findet. In den Gesichtern unserer Eltern, unserer Kinder, unserer Partner, all der Menschen, die wir enttäuschen, indem wir das Falsche tun, einen Fehler begehen, peinlich sind, komisch, lächerlich, absurd. Wenn wir ertappt werden, etwas vorzugeben, was wir nicht sind. Das ist ja der Schlamassel, sich nicht mit der Souveränität dessen bewegen zu können, der man tatsächlich ist – und das wäre dann eben auch eine Souveränität im Umgang mit den eigenen Fehlern und Makeln –, sondern in einer Verstellung auftreten zu müssen, einer Verkleidung, auf unsichtbaren Stelzen balancierend, die ihre Unsichtbarkeit einbüßen, sobald wir von ihnen herunterfallen.

Max Frisch schreibt in einem seiner Tagebücher: »Selbstvertrauen ist nicht komisch, stolpern ist nicht komisch; nur beides zusammen.«

Es muss für Crowhurst unerträglich gewesen sein, wie er da im Meer festsaß. Zusätzlich zur Lüge des raschen Weiterkommens hatte er verbotenerweise auch noch Land anlaufen müssen, um eine dringend nötige Reparatur an seinem Boot vorzunehmen. Eine Rückkehr nach England unter dem Vorwand, die Welt umrundet zu haben, wurde immer undenkbarer. Man würde den Schwindel durchschauen. Crowhurst musste sich ausmalen, wie es sein würde, mit einer solchen »Entblößung« vor seine Frau und seine Kinder hinzutreten.

Am Ende des Romans Der Schüler Gerber, verfasst von Friedrich Torberg im Jahre 1930, stürzt sich der Prüfling Kurt Gerber aus dem Fenster des Schulgebäudes, und zwar noch bevor das Ergebnis seiner Matura bekannt gegeben wird. Es ist die unerträgliche Schuld, die er gegenüber dem Vater empfindet, einem Vater, der wie alle Väter nur will, dass der Sohn Erfolg hat, dass er weiterkommt, nicht stecken bleibt in einer maturalosen und darum sauerstoffarmen Sphäre. Darum liegt die böse Ironie auch gar nicht darin, dass Gerber – wie sich nach seinem Tod herausstellt – die Matura bestanden hätte. Er stirbt ja nicht an einer bloß befürchteten ungenügenden Mathematiknote, sondern an der Vorstellung, was er mit dieser ungenügenden Note seinem Vater antun könnte. Welche tiefe Scham er beim Vater auslösen würde. Die im vertrauten Fremden ausgelöste Scham ist wohl die größte.

 

Nachdem der renommierte Segler Knox-Johnston als erster aller Teilnehmer die Welt umsegelt hatte – allerdings bereits im Juni gestartet und damit recht lange unterwegs gewesen war – und nachdem fünf andere Bewerber ausgefallen waren, blieben nur noch drei im Rennen für den Preis des Schnellsten. Doch ausgerechnet der mit deutlichem Abstand in Führung liegende Cousteau’sche Franzose Moitessier verzichtete mit der Überheblichkeit und dem Schöpferwillen eines Künstlers, der er sicherlich war, kurz vor der zweiten Überquerung des Äquators darauf, weiter Richtung Plymouth zu segeln. Er ließ den Sieg achtlos liegen und entschied sich, umzukehren und Tahiti anzusteuern. Wenn Crowhurst der Ed Wood unter den Einhandseglern war, dann war Moitessier logischerweise ihr Gauguin. Ein Mann, der tatsächlich mittels eines Verzichts ein Kunstwerk schuf. Wie Kunst ja oft genau dadurch zustande kommt, dass etwas weggelassen wird.

So ergab sich die absurde Situation, dass nur noch der Südafrikaner Nigel Tetley sowie Donald Crowhurst für den dotierten Preis der schnellsten Nonstopumsegelung infrage kamen. Beide im Sattel eines Trimarans sitzend.

Klar, Crowhurst hatte sein Boot kaum noch so richtig zugeritten. Seine Idee bestand nun darin, das Dilemma dadurch zu lösen, dass er zwar auf dem gleichen Weg nach England zurückkehren wollte, auf dem er es verlassen hatte, aber erst hinter Tetley als Zweiter ins Ziel kommen wollte. Er meinte zu Recht, dass die Aufmerksamkeit und damit auch die Überprüfung etwa der Logbücher ganz dem Erstplatzierten zuteilwerden würde. Er hoffte auf den Schatten des Siegers, um in diesem Schatten stehend ohne Ehrverlust sein Abenteuer beenden zu können. Finanziell ruiniert, das schon, aber immerhin jene Würde beibehaltend, die praktisch den zweiten Kern in unserem Wesen bildet. Den Gegenpol zur Scham.

Wenn es einen Deus ex Machina gibt, gibt es wohl auch einen Diabolus ex Machina, also einen Teufel aus der Maschine. Denn so wenig der Teufel sich in die hausgemachten Kriege, den Waffenhandel oder in die Pornografie mischen mag, er setzt dennoch böse kleine Wendungen in das Leben der Menschen. Wendungen, die zu perfiden Pointen führen.

Tetley hatte zwar bereits seinen Ausgangspunkt erreicht und damit die Welt umsegelt, aber es fehlten ihm noch 9300 Kilometer, um das Rennen wirklich zu Ende zu führen. Dabei hätte er sein bereits stark angeschlagenes Boot schonen müssen und wäre dazu auch bestens in der Lage gewesen. Er hätte in der allergemächlichsten Weise seinem Sieg entgegensegeln können. Stattdessen vermutete er den Konkurrenten Crowhurst dicht hinter sich – die Lüge hatte jetzt vollkommen die Realität erobert – und fuhr darum bis ans Limit. Versuchte in großer Sorge um den Sieg, alles aus seinem Boot herauszuholen. Aber das Boot konnte nicht mehr. Es brach auseinander, sank, und Tetley musste von Bord.

Crowhurst hatte in dieser Situation die Qualität eines Gespenstes besessen, eine immaterielle Qualität. Allerdings war nun seine Chance dahin, als ein vom Sieger eingeschatteter Zweiter einzulaufen. Als Erstplatzierter hingegen würde er streng befragt und würden seine Logbücher überprüft werden, nicht zuletzt von Leuten, die ohnehin schon länger vermuteten, etwas an der Sache sei faul. Sein Schwindel würde sich somit kaum aufrechterhalten lassen.

Dass Crowhurst im Zuge dieser teuflischen Einmischung tiefer in den Wahnsinn geriet, ist mehr als logisch. Es ist ein Wahnsinn, an dem wir alle auf die eine oder andere Weise entlangschrammen und angesichts dessen sich die Scham besonders gut eignet, in die Sphäre wilder Gedanken zu kippen.

Crowhurst kritzelte seine »wilden Gedanken« zu Papier, darunter auch, wie es heißt, »random thoughts«. Ein Vorgang, für den es im Deutschen das schöne Wort spintisieren gibt. Oder noch besser herumspintisieren. In Schleifen denken. In Dekorationen.

Es heißt, Crowhurst sei am 1. Juli 1969 zusammen mit dem Schiffschronometer sowie einem der gefälschten Logbücher über Bord gegangen und ertrunken. Das Boot selbst habe keinerlei Hinweise dafür geliefert, dass etwa eine hohe Welle den Einhandsegler von Bord gespült habe. Hingegen entdeckte man die Dokumente seines Versagens unter Deck sowie seine Versuche, dieses Versagen in ein Gelingen umzudichten. Vieles davon habe seinen geistigen Verfall dokumentiert. »Insgesamt über 25 000 Wörter«, heißt es.

Stimmt, sehr viele Wörter werden gerne als Beweis für einen Irrsinn angeführt.

Crowhursts Leiche tauchte niemals auf. Hingegen fand man durchaus die Leiche seines Konkurrenten Nigel Tetley. Drei Jahre später. Im einem Wald nahe Dover von einem Baum herunterhängend, die Hände am Rücken zusammengebunden und den Körper mit Reizwäsche bedeckt, besser gesagt mit Lingerie, was ein so viel schönerer Begriff ist. Vielleicht darum, weil die französische Sprache über weit weniger Potenzial an Scham verfügt. Jedenfalls führten die Untersuchungen des zuständigen Pathologen zur Annahme, eine misslungene masochistische Praxis habe den Tod bewirkt und nicht etwa eine ungewöhnlich inszenierte Form von absichtsvollem Suizid.

Wenn man sich Tetley auf alten Fotografien ansieht, mag man meinen, er sei ein Mann gewesen, den nichts so schnell habe umhauen können. Doch die verrückte Niederlage im Golden Globe Race dürfte ihn doch sehr mitgenommen haben. Verständlich. Wer möchte auf diese Weise verlieren, von einem Gespenst gejagt? Die tausend Pfund Trostpreis, die er nach Aufklärung aller Umstände erhielt, investierte er in den Bau eines neuen Boots, völlig besessen von der Idee, seine Weltumsegelung zu wiederholen und diesmal in der ordnungsgemäßen Weise zu beenden. Was ihm nie gelang. Stattdessen tödlicher Sex mit einem Baum.

 

Bezüglich Crowhurst bin ich mir wirklich nicht so sicher, ob er sich tatsächlich wie berichtet umgebracht hat. Oder auch nur Opfer eines Unfalls wurde. Ich stelle mir vor, dass er ähnlich wie Moitessier einen dritten Weg wählte. Weder sich der Scham ergab noch die Flucht in den Tod antrat, sondern zu all den Irreführungen – und nichts wäre konsequenter – eine letzte anfügte, indem er seinen Tod vortäuschte (weil kein Sturm ging, musste es eben nach Selbstmord aussehen) und ganz einfach das Boot wechselte. Zuerst das Boot und dann den Ort. Nicht auszuschließen, dass er an Bord eines Schiffs ging, auf dem Leute waren, die ein Geheimnis für sich behalten konnten. Oder auch gar nicht ahnten, ein solches Geheimnis überhaupt mitzutragen. Auch nicht auszuschließen, dass er mit einem kleinen Schlauchboot an Land paddelte, immerhin befand er sich nicht unweit der Azoren (ich gehe nicht so weit, zu sagen, er sei an Land geschwommen).

Ich stelle mir vor, dass Crowhurst heute, fünfundachtzigjährig, auf irgendeiner Azoreninsel oder auf Madeira, auf Lanzarote oder an einer verlorenen Ecke von Casablanca lebt und sich nicht ohne Vergnügen in einem kleinen Kino oder auf seinem Computer ansieht, wie er von Colin Firth gespielt wird.

Was übrigens eine schöne Frage ist, von wem ein jeder von uns gerne gespielt werden würde, auch wenn er kein Sigmund Freud oder Niki Lauda oder eine Königin von England ist. Ich meine eine realistische Wahl. Eine, die nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist, wenn etwa ein kleiner dicker Mann sich wünscht, von Christian Bale verkörpert zu werden. So sehr das in Filmen auch vorkommen mag, siehe Salma Hayek, die die Malerin Frida Kahlo spielt. Oder Hannah Herzsprung in der Rolle der Liesl Karlstadt. Man stelle sich vor, man würde das Leben von Martin Heidegger mit Til Schweiger in der Hauptrolle verfilmen oder umgekehrt Til Schweigers Leben … ich sage mal, von Peter Sloterdijk in der Rolle des Til Schweiger.

Colin Firth ist natürlich ein großartiger Schauspieler und spielt auch ganz großartig, und sollte Crowhurst leben, ich glaube, er wäre sehr zufrieden, sich im Körper dieses grandiosen Oscarpreisträgers wiederzufinden. Und doch, Firth als Crowhurst, das ist eigentlich der abschließende große Schwindel in dieser ganzen Geschichte.

Bad luck und Very bad luck

bad luck.