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Heinrich Ricking / Viviane Albers

Schulabsentismus

Intervention und Prävention

2019

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Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Umschlagmotiv: © Roman Bodnarchuk/shutterstock.com

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2019

ISBN 978-3-8497-0308-0 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8197-2 (eBook)

© 2019 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

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Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

info@carl-auer.de

Inhalt

Einleitung

1Formen und Begriffe

1.1Erscheinungsformen von Schulabsentismus

1.1.1Schulschwänzen

1.1.2Angstbedingte Schulmeidung/Schulverweigerung

1.1.3Elternbedingte Schulversäumnisse/Zurückhalten

1.1.4Zusammenfassung

1.2Beobachtungskriterien zu den einzelnen Formen

1.3Reflexionsimpulse zur Einordnung in die Erscheinungsformen von Schulversäumnissen

Selbstreflexion in der Interaktion mit Schülern, die Schulversäumnisse zeigen

2Rechtliche Rahmenbedingungen

3Schulversäumnisse: Häufigkeit und Verteilung

4Schulische Prävention und Intervention

4.1Bedeutsamkeit schulischer Prävention

4.2Elemente schulischer Prävention und Intervention

4.2.1Präventive Ansatzpunkte auf pädagogisch-unterrichtlicher Ebene

Ziel: Partizipation

Haltung und Gegenstandsverständnis

Lehrer-Schüler-Beziehung

Fehlzeiten wahrnehmen und registrieren

Fallklärung

Warnsignale beachten

Hochwertiger Unterricht und kompetente Klassenführung

Sicherheit und soziale Einbindung

Sozialkompetenz fördern

Lernerfolge

Mentoring

Schüler und Eltern beraten

Experte im Kollegium

Rückkehrgestaltung

Intensive Elternkooperation

4.2.2Präventive Ansatzpunkte auf organisatorischer Ebene

Monitoring von Schulversäumnissen

Zielsetzung systematischer elektronischer Erfassungssysteme

Exkurs: Botschaften an Schüler

Exkurs: Botschaften an Lehrkräfte

5Schulische Handlungskonzepte

5.1Aufmerksamkeit für Anwesenheit und Anwesenheitskontrolle

Ziel: Sensibilisierung und Aufmerksamkeit für das Schulbesuchsverhalten der Schüler

5.2Dokumentation von Fehlzeiten

Ziel: Verstehens- und Handlungsräume schaffen durch Verknüpfung statistischer Informationen mit pädagogischen Fragestellungen

5.3Unterrichtsversäumnissen unverzüglich nachgehen

Ziele: Signal an den Schüler senden (»Deine Anwesenheit zählt«), Voraussetzungen für ein gutes Management von Schulabsentismus schaffen

5.4Gespräche mit dem Schüler und den Erziehungsberechtigten führen

Ziele: Interesse zeigen am Schüler und seiner Lebens- und Lernsituation, Klärung der Bedingungen und Risiken für Schulversäumnisse

Wichtige Fragen für das Gespräch mit den Eltern und/oder dem Schüler (Ricking 2014)

5.5Schulische Maßnahmen planen und umsetzen

Ziel: Fallorientierte, individuelle Entwicklung von Unterstützungsmaßnahmen

5.6Kooperative Förderung unter besonderer Berücksichtigung außerschulischer Dienste

Ziele: Interdisziplinäre Betrachtung des jeweiligen Schülers und seiner Problemlagen sowie gemeinsames Entwickeln der besten Lösungswege

5.7Rückkehrgestaltung

Ziele: Reintegration in die Schule, Rückkehr zu regelmäßigen Schulbesuchsgewohnheiten

5.8Rechtliche Zwangsmaßnahmen

Ziel: Durchsetzung der Schulpflicht

Exkurs: Alternative Beschulungseinrichtungen

Ziel: Bildungs- und beziehungswirksame Alltagssituationen schaffen

6Mögliche Hürden im schulischen Rahmen

7Hinweise für die Zusammenarbeit mit Eltern

Exkurs: Botschaften an Eltern

Schluss

Literatur

Über die Autoren

Einleitung

Sie als Lehrkraft nehmen eine Schlüsselrolle dabei ein,
die Schulanwesenheiten Ihrer Schüler zu fördern!
Die gute Nachricht: Es obliegt nicht Ihnen allein
.

Die regelmäßige Anwesenheit von Schülern im Unterricht ist essenziell für einen guten schulischen Erfolg. Zu oft realisieren Schüler1, Eltern und Schulen nicht, wie schnell sich Schulversäumnisse – ob entschuldigt oder nicht – aufaddieren und in schulische Probleme münden. Sie führen häufig dazu, dass z. B. Drittklässler nicht richtig lesen können, Sechstklässler Fächer nicht bestehen oder Neuntklässler die Schule ganz abbrechen. Aber Schulabsentismus beschränkt sich in den Auswirkungen nicht auf den Bereich der Schule, sondern zeigt erhebliche Langzeitfolgen, u. a. einen geringen oder fehlenden Schulabschluss, die deutlich erschwerte berufliche Integration, eingeschränkte Verdienstmöglichkeiten oder ein hohes Risiko für Kriminalität (Kearney 2016; Ricking u. Schulze 2012; Sutphen, Ford u. Flaherty 2010). Schulabsentismus umreißt als Fachbegriff alle Verhaltensmuster, bei denen Schüler ohne ausreichende Berechtigung der Schule fernbleiben. Dabei verletzen sie nicht nur die Schulpflicht und begehen so eine Ordnungswidrigkeit, sondern blockieren i. d. R. auch den eigenen Lernfortschritt und begrenzen ihre Zukunftschancen. Die besondere Relevanz dieser Frage ergibt sich somit aus den Konsequenzen für die Lebensperspektive der Betroffenen (Stamm et al. 2009).

Schulabsentismus umfasst in allen Schulformen und Jahrgängen auffindbare Verhaltensmuster von Kindern und Jugendlichen, die oft in problematische Lebens- und Lernbezüge eingebunden sind. Das gelegentliche Aussetzen des Schulbesuchs – selten und in geringem zeitlichen Umfang – kommt bei einem großen Teil der Schülerschaft vor und wird zumeist als Bagatelle oder vorübergehende und entwicklungstypische Randerscheinung interpretiert. Schwierig wird es, wenn sich die Fehlzeiten häufen und in der schulischen Leistungsbilanz niederschlagen, wenn weitere problematische und eskalierende Verhaltensmuster damit einhergehen und generell die psychosoziale Entwicklung des Heranwachsenden gefährdet ist. Dabei ist von einem beträchtlichen Anteil der Schulpflichtigen auszugehen, die bereits deutlich erkennbare und z. T. verfestigte schulabsente Verhaltensmuster aufweisen. Die Untersuchungsergebnisse bestärken die Einschätzung von Schulabsentismus als Wegbereiter sozialer Negativkarrieren mit kumulierenden und interagierenden Lebensproblemen, überschattet von psychischen, psychiatrischen und familiären Schwierigkeiten (Ricking u. Dunkake 2017).

Daher sollte es ein pädagogisches Ziel sein, der Prävention von Schulabsentismus einen hohen Stellenwert einzuräumen, schulaversive Entwicklungen möglichst zu verhindern und desintegrative Verhaltensmuster nicht voll wirksam werden zu lassen (Michel 2005; Ricking 2007). Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die mangelnde Teilhabe an schulischer Bildung erschwert ein integriertes Leben in der heutigen Gesellschaft eminent. Schüler, die trotz Schulpflicht nur unregelmäßig oder gar nicht mehr am Unterricht teilnehmen, verschlechtern zumeist ihre Lebensperspektiven deutlich (Ricking u. Schulze 2012).

Lehrkräfte nehmen eine Schlüsselrolle in der Vermittlung regelmäßiger Schulbesuchsgewohnheiten ein. Infolgedessen ist die Prävention von Schulversäumnissen bzw. ihre Reduzierung im pädagogischen Handeln keinesfalls als nachrangig zu betrachten. Jede Fehlzeit ist ernst zu nehmen – ob entschuldigt oder nicht. Die Handlungsbereiche einer Lehrkraft erstrecken sich vom Erkennen schülerbezogener Erscheinungsformen über Kenntnisse schulrechtlicher Vorgaben bis zum Wissen über Handlungsmaßnahmen schulischer Prävention und Intervention.

Die folgende Abbildung soll die zentralen Handlungsbereiche einer Lehrkraft zusammenfassen und gibt gleichermaßen einen Überblick über die folgenden Inhalte:

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Abb. 1: Zentrale Handlungsbereiche (eigene Darstellung)

Die Autoren bedanken sich herzlich bei Frau Maj-Britt Klein für Ihre tatkräftige Unterstützung.

1Zur besseren Lesbarkeit verwenden wir bei der Bezeichnung von Personengruppen nur die männliche Form. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter gleichermaßen gemeint.

1Formen und Begriffe

1.1Erscheinungsformen von Schulabsentismus

Der Erfolg präventiver und interventiver Handlungsmaßnahmen bei Schulversäumnissen ist davon abhängig, wie spezifisch sie an die unterschiedlichen Erscheinungsformen angepasst werden. Die folgende Klassifikation von Schulabsentismus bezieht sich auf die ursächlichen Faktoren, legitimiert sich durch deutlich unterscheidbare Bedingungen und ist international anerkannt (Thambirajah, Grandison a. De-Hayes 2013; Hallam a. Rogers 2008; Kearney 2001, 2016; Reid 1999, 2014; Ricking, Schulze u. Wittrock 2009). Demnach lassen sich grundlegend drei Erscheinungsformen voneinander abgrenzen: (1) Schulschwänzen, (2) angstbedingte Schulmeidung und (3) elternbedingte Schulversäumnisse/Zurückhalten, bei dem die Fehlzeiten von Eltern herbeigeführt oder toleriert werden.

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Abb. 2: Synoptischer Blick auf die Erscheinungsformen (Ricking 2014)

Um sich als Lehrkraft den Fragestellungen des Schulabsentismus gegenüber gut zu positionieren, ist es unabdingbar, sich eingehend mit diesem vielschichtigen Phänomen auseinanderzusetzen. Dabei ist das Problem Schulabsentismus nicht einfach einzuschätzen bzw. zu diagnostizieren. Individuelle Problemkonstellationen setzen sich aus dem Zusammenwirken von Bedingungsfaktoren beim Schüler, der Familie, der Schule und den Peers zusammen und resultieren schließlich in Schulmeidung. Übergänge in neue sozial-ökologische Kontexte (Transitionen) – wie Umzüge oder Schulwechsel – stellen ein besonderes Risiko für gefährdete Schüler dar. Beeinträchtigungen im Lernen und/oder Verhalten wie auch psychische Störungen sind als weitere Risikofaktoren für Schulabsentismus und Schulabbruch zu nennen.

Schulabsentismus umfasst als Oberbegriff alle Formen und Intensitäten illegitimer Schulversäumnisse (Ricking et al. 2009). Es ist somit ein facettenreiches Phänomen mit vielen möglichen Ursachen, Entwicklungsverläufen, Intensitäten und Folgen und lässt sich folgendermaßen definieren: