Texte aus Kursen zum „Biografischen Schreiben“ (2017–2019) im Rahmen der Werkstatt 50plus der Ev. Erwachsenenbildung im Ev. Kirchenkreis Tecklenburg in Kooperation mit der WunderWorteWerkstatt, zusammengestellt und bearbeitet von Claudia Berghorn

WunderWorteWerkstatt

Auf meinem Weg

Frauen erzählen aus ihrem Leben

Einige Worte vorab

Seit nunmehr sechs Jahren besteht eine Kooperation der WunderWorteWerkstatt mit der Evangelischen Erwachsenenbildung im Evangelischen Kirchenkreis Tecklenburg: Im Rahmen der Werkstatt 50plus bieten wir Kurse in „Biografischem Schreiben“ an. Bereits im Jahr 2016 entstand aus dieser Zusammenarbeit eine erste Anthologie von autobiografischen und biografischen Texten, die von den Teilnehmerinnen der Schreibkurse verfasst wurden: „Vom Glück zu schreiben“. Damals waren vierzehn Autorinnen aus dem Münsterland vertreten. Seither hat sich der Kreis der Autorinnen auf zwanzig vergrößert, und wir freuen uns sehr, nun einen weiteren Sammelband mit Lebensgeschichten und Gedichten vorstellen zu können.

Diesmal haben wir uns mit dem Motiv der „Lebensreise“ beschäftigt: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Und was geschieht unterwegs? Ist der Weg wirklich das Ziel, und setzt das Ziel auch ein Ende? Diese und viele weitere Fragen haben als Anregung für unser Schreiben gedient. Als Leiterin der Kurse hatte ich wieder das große Glück, die Teilnehmerinnen zu begleiten und sie darin zu unterstützen, die Geschichten ihres Lebens zu erinnern und sprachlich zu gestalten.

Wie individuell jede Lebensreise verläuft, zeigen die hier versammelten Texte, denn sie sind so unterschiedlich wie die Autorinnen selbst: Die älteren von ihnen sind Anfang der 1930er Jahre geboren, die jüngsten Ende der Sechziger. Die einen stammen aus dem Münsterland, die anderen sind zugezogen. Manche haben den Zweiten Weltkrieg, Flucht und Vertreibung noch selbst erlebt, viele sind von „Kriegskindern“ erzogen worden. Was aber alle Autorinnen verbindet, ist die Liebe zum Schreiben – und die Freude daran, dass wir wieder ein Stück unseres Weges gemeinsam gehen durften.

„Auf meinem Weg“: Unter diesem Titel haben wir eine Auswahl von Texten zusammengestellt, mit denen wir Sie mitnehmen möchten auf unsere Lebensreisen. Dabei umfasst die erzählte Zeit mehr als hundert Jahre: Die Geschichten schlagen einen Bogen von 1907 bis heute.

Vielleicht haben Sie ja die eine oder andere Situation in Ihrem Leben ähnlich – oder ganz anders? – erlebt, und vielleicht bekommen Sie beim Lesen ja sogar Lust darauf, auch einige Ihrer eigenen Lebensgeschichten aufzuschreiben. Das würde uns sehr freuen! Aber jetzt: Leinen los – die Reise beginnt!

Münster, im Oktober 2019

Claudia Berghorn

Inhaltsverzeichnis

Einige Worte vorab

Kapitel 1 – Herkunft: Die frühen Jahre

Wie es dazu gekommen ist, dass es mich gibt – Marga Lenger

Warum bin ich? – Gaby Steinriede

Wo komme ich her? – Andrea Fröhlking

Die Verpackungskuppelei – Lyddia van Dyke

Braune Augen – Brunhilde Konermann

Aufbewahrt – Leni Huesmann

Bei uns zu Hause in unserer Straße – Hildegard Horstmann-Vollprecht

Am Ende stand das Glück – Magdalena Imig

Unser kleines Nest – Annette Gerling

Mein Elternhaus – Simone Wagner

Ich erinnere mich – Andrea Fröhlking

Glauben lernen – Karola Glinka

Kindergottesdienst – Marianne Vinmans

Früh übt sich – Marianne Vinmans

Ein schöner Sommertag – Marianne Vinmans

Heuernte im Frühsommer – Ulrike Beninga

Im Lupinengarten – Hildegard Horstmann-Vollprecht

Acht Jahre und ein Gänseblümchenkranz – Theresa Scholz-Hoffmann

Der Duft der Kindheit – Hanna Brundiek-Vennemer Vaterkind – Hanna Brundiek-Vennemer

Kapitel 2 – Aufbruch: Alles beginnt jetzt

Morgen gehe ich zur Villa Morgan – Ursula Steinriede

Ende einer Kindheit – Lyddia van Dyke

Das Gebetbuch – Ulrike Verrieth

Meine Konfirmation – Ulrike Beninga

Als ich zum ersten Mal meine Tante aus Russland zu Besuch bekam – Marga Lenger

Aufbruch – Leni Huesmann

Ein Sonntag Anfang der 60er Jahre – Ulrike Beninga

Aufbruch – Vera Neumann

Date – Brunhilde Konermann

Erste Berufswahl – Ulrike Beninga

Alles beginnt jetzt – Gaby Steinriede

Aufbruch in die Eigenständigkeit – Simone Wagner

Mein Jahr in Frankreich (1981/82) – Anke Fleddermann-Ratz

Alles neu – Andrea Fröhlking

Endlich Vollzeit-Rentnerin, oder: Nie mehr … – Magdalena Imig

Neue Lebensphase – Brunhilde Konermann

Kapitel 3 – Unterwegs: Leben eben

Immer wieder sonntags – Simone Wagner

Weihnachten – Ulrike Verrieth

Pierre Brice – Anke Fleddermann-Ratz

Otto ist tot – Lyddia van Dyke

Alpenstraße gesperrt – Ursula Steinriede

Dreierlei – Claudia Berghorn

Prekariat – Vera Neumann

Wo ist Oma? – Annette Gerling

Ein Hauch von Welt – Annette Gerling

Besondere Söhne – Andrea Fröhlking

Am Fenster – Karola Glinka

Blätterregen – Brunhilde Konermann

Geliebt hab ich ihn – Ulrike Beninga

Kapitel 4 – Ankunft: Bei mir zu Hause

Zweimal über den Ozian und zurück – Theresa Scholz-Hoffmann

Erwachsenwerden – was heißt das eigentlich? – Marga Lenger

Ankunft – Ursula Steinriede

Heimat – Marga Lenger

Sehnsucht nach dem Meer – Claudia Berghorn

Ankommen – Anke Fleddermann-Ratz

Erkenntnis – Leni Huesmann

Mutternacht – Hildegard Horstmann-Vollprecht

Meine Reise zu mir selbst – Magdalena Imig

Jubiläen – Andrea Fröhlking

Zeitreise – Ulrike Verrieth

Bei mir zu Hause – Simone Wagner

Sommersonntagmorgen im Freibad – Claudia Berghorn

Song „Ich will leben“ – Gaby Steinriede

Anhang

Verzeichnis der Autorinnen und ihrer Texte

Danke!

Kapitel 1
Herkunft: Die frühen Jahre

Unser Leben beginnt mit dem Zufall unserer Herkunft: Wir werden hineingeboren in eine Zeit und in eine Familie; wir wachsen auf an einem Ort, der durch diese Zeit und diese Familie bestimmt wird. Es ist dieser Zufall, der uns prägt, denn unsere Herkunft entscheidet darüber, wie unsere Lebensreise beginnt.

Beim Nachdenken über unsere Herkunft haben wir vor unserer Zeit angefangen und uns gefragt, wie wir überhaupt in dieses Leben gekommen sind. Und wir erinnern uns an unsere frühe Kindheit – gern an die schönen Erlebnisse, aber auch an weniger schöne.

Wie es dazu gekommen ist, dass es mich gibt

von Marga Lenger

Meine Eltern lebten auf dem Land in den Niederlanden, im nördlichen Teil der Provinz Drenthe. Sie wohnten ungefähr 20 Kilometer voneinander entfernt.

Vater war zu Hause der Älteste von drei Kindern. Er wohnte mit seinen Eltern, mit Bruder und Schwester in einem Geschäftshaushalt. In diesem Geschäft wurden Fahrräder und Radios verkauft und repariert. Vor dem Haus stand eine Tanksäule, und im Haus war noch eine Telefonzentrale. Vater arbeitete bei der PTT (Post Telefon Telegrafie). Er legte Telefone und Telefonleitungen an.

Mutter wohnte mit ihren Eltern und drei Brüdern auf einem Bauernhof. Auf dem Hof gab es Kühe, Pferde, Schweine, Hühner und Katzen. Zum Hof gehörte einiges an Land mit Weiden und Äckern: Äcker für Getreide, Futterrüben, Kartoffeln und Bohnen, soweit ich weiß. Mama erzählte uns immer, wie sie als Schulkind – sie ging nur vier Jahre zur Grundschule – in den Ferien dabei helfen musste, Kartoffeln zu roden und Bohnen zu pflücken. Auch beim Schweineschlachten musste sie helfen. Ihre Aufgabe war es dann, das Blut zu rühren, damit es nicht klumpte und weiter verarbeitet werden konnte. Sie sorgte aber meistens dafür, dass sie dann gerade nicht zu Hause war.

Getroffen haben sie sich zum ersten Mal beim Tanzen in dem Ort, in dem mein Vater lebte. Meine Mutter, anscheinend die Unternehmungslustigere und Interessiertere von beiden, fragte meinen Vater nach seinem Namen. Er stellte sich vor als Mannus Kah (sprich „K“). Das gefiel meiner Mutter gar nicht, sie fühlte sich auf den Arm genommen. Natürlich wollte mein Vater dann auch den Namen meiner Mutter wissen. Da antwortete meine Mutter ganz kess: „Geertje B.“ (sie heißt Bathoorn). Vater musste erklären, was das mit seinem Namen auf sich hatte, und dass er leider nicht mit mehr Buchstaben und Lauten dienen konnte.

Nach diesem Abend, oder vielleicht war es auch ein Nachmittag, sind meine Eltern abwechselnd aufs Rad gestiegen, um sich gegenseitig zu besuchen.

Mein Vater war dort, wo meine Mutter wohnte, etwas Besonderes. Er trug einen Hut, keine Schirmmütze wie die Leute in ihrem Dorf. Außerdem redete mein Vater auffällig viel, was den Verdacht nahe legte, dass es sich bei ihm um einen Anwalt handeln könnte oder sonst jemand Studierten.

Nach einiger Zeit hatten meine Eltern vor zu heiraten und begannen, nach einer Wohnung zu suchen. Es war kurz nach dem Krieg, und Wohnungen waren rar. Auf dem Amt hörten sie, dass es besser sei, erst zu heiraten, dann würden sie bestimmt schneller eine Wohnung bekommen. Also wurde geheiratet. Vater trug einen Anzug, den er dann auch weiter zu wichtigen Anlässen anziehen konnte. Mutter hatte ein dunkelblaues, langes Kleid aus Wollkrepp an, dazu einen weißen Schleier. Das Kleid wurde nach der Hochzeit auf Wadenlänge gekürzt, so dass sie es als Sonntagskleid tragen konnte.

Die Wohnung ließ aber noch auf sich warten. So radelten meine Eltern weiter hin und her, um sich zu sehen. Beide wurden nacheinander tüchtig krank. Mutter bekam Diphtherie, und als sie wieder gesund war, bekam Vater Pleuritis, eine Rippenfellentzündung.

Nach über einem Jahr gingen beide wieder zum Amt. Der Beamte meint dieses Mal: „Ja, wenn ein Kind unterwegs ist, dann klappt es bestimmt schneller“. Da wunderte Mutter sich über den Beamten. Sie fragte, wie das denn wohl gehen solle, wo doch jeder noch bei seinen Eltern wohne.

Irgendwann bekamen sie schließlich eine Zweizimmerwohnung in der Stadt Assen, wo mein Vater auch arbeitete. Dort wurde als erstes meine dreieinhalb Jahre ältere Schwester geboren. Danach, am 7. Dezember 1955, wurde ich dann geboren, einen Tag nach dem Geburtstag von „Sinterklaas“. Es war eine schwere Hausgeburt. Meine Lungen mussten erst einmal gründlich von Schleim befreit werden, bevor ich laute Lebenszeichen von mir geben konnte. Bei der Geburt wog ich 5200 Gramm, hatte viel langes schwarzes Haar und unten schon zwei Zähne. Meine Mutter musste oft erklären, wieso das große Baby noch so faul herum lag. Sie erklärte: „Marga sieht älter aus, als sie ist.“ Heute sagt man das glücklicherweise öfter anders herum.

Als ich selbst schon Kinder hatte, erzählte meine Mutter, dass sie und Vater sich oft gewundert hätten, wieso ich mich so gerne etwas bunter als üblich anzog. Sie meinte, das habe bestimmt daran gelegen, dass ich an dem Abend gezeugt wurde, als sie sich die Operette „Der Zigeunerbaron“ angeschaut hatten. Mutter wirkte bei diesem Bekenntnis sichtlich schüchtern. Es war nicht üblich, dass sie sich über solche Sachen mit uns unterhielt.

Das Haus, in dem wir damals wohnten, wurde für den Bau einer Umgehungsstraße abgerissen. Als Kind habe ich die Wohnung nicht bewusst kennen gelernt. Ich war wohl noch zu klein, als wir dort wegzogen in ein größeres, frei stehendes Haus mit Garten. Vor einigen Jahren habe ich dann einmal meine Geburtsadresse gegoogelt. Ich fand tatsächlich ein Bild des Hauses und dazu die Information, dass dort Carel Samuel Nathans gewohnt hatte. Er wurde am 8. Februar 1944 in das Judenlager bei Westerbork und dann nach Auschwitz deportiert. Ich war sehr betroffen, als ich erfuhr, dass ich in einer Wohnung geboren wurde, in der ein Jude gewohnt hatte, der wahrscheinlich Auschwitz nicht überlebt hatte. Wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, wäre ich wohl woanders geboren worden, und mein Leben wäre womöglich ganz anders verlaufen.

Warum bin ich?

von Gaby Steinriede

Wenn ich mich daran zurück erinnere, wo und wie ich als Kind gelebt habe, dann kommt mir der Gedanke: „Warum bin ich?“

Ich bin, weil es meine Eltern gab!!

Aber wie konnte es dazu kommen, dass sie sich trafen?

Meine Mutter Erika wurde 1926 in Königsdorf in Oberschlesien geboren. Dort lebte sie mit ihren Eltern und zwei jüngeren Geschwistern auf einem Bauernhof.

Mein Vater Franz wurde als uneheliches Kind 1924 in Ibbenbüren geboren. Er wurde in der Ehe seiner Mutter vom Stiefvater geduldet, jedoch im Gegensatz zu seinem fünf Jahre jüngeren und ehelich geborenen Halbbruder nicht anerkannt. Welchen Namen er bis zur Adoption durch seinen Erzeuger trug, ist mir nicht bekannt.

Mein Vater wollte fort von zu Hause, und meine Mutter wollte bleiben, dort wo sie geboren wurde und wo sie den elterlichen Hof mit bewirtschaftete. Sie fühlte sich auf dem Land mit den Tieren wohl. Mein Vater wurde Seemann und begann, die Welt zu bereisen.

Warum also gibt es mich heute?

Der Zweite Weltkrieg und Adolf Hitler waren maßgeblich an meiner Entstehung beteiligt! Ich mache mir darüber so meine – oft widersprüchlichen – Gedanken. Was bedeutet es für mich, dass es mich ohne den Weltkrieg nicht gäbe? Ein Krieg, der die Ursache dafür ist, dass es viele Menschen mit ihren Familien nicht mehr gibt?

Ich wurde 1958 in Ibbenbüren geboren, weit weg von der Heimat meiner Mutter, zurück in der Heimat meines Vaters.

Glück oder Unglück? Ich denke: Beides!

Durch den Krieg wurde die Familie meiner Mutter vertrieben. Irgendwann erreichten sie Ibbenbüren und bekamen eine kleine Wohnung zugewiesen. Diese Zweizimmerwohnung kenne ich noch ganz genau. Solange meine Oma noch selbständig leben konnte, habe ich dort viel Zeit alleine mit meiner Oma verbracht.

Mein Vater wurde als Soldat eingezogen und kam zur Marine. Wie er mir später oft erzählte, wurde er zweimal „abgeschossen“. Er meinte damit, dass sein Kriegsschiff, ein U-Boot, von Torpedos getroffen wurde und sank. Er konnte sich bis zur Rettung 24 Stunden über Wasser halten, indem er bewegungslos auf dem Rücken lag. Er nannte es „Leichenschwimmen“, das bedeutet, mit geringer Kraftanstrengung auf dem Wasser zu liegen. Diese Technik brachte er meiner Schwester und mir schon im Kindergartenalter bei. Ihm war es sehr wichtig, dass wir gute Schwimmer wurden und auch seine Überlebenstechnik gut beherrschten. Obwohl er sehr viel arbeitete, ging er mehrmals in der Woche mit uns Schwimmen. Noch bevor ich in die Schule kam, sprang ich im Hallenbad von jedem Sprungbrett und im Mittellandkanal von Brücken, Laderampen oder aus einem fahrenden Motorboot. Wenn unsere Mutter aus Angst vorm Schwimmen im Kanal unsere Badeanzüge versteckte, meine Schwester und ich deshalb todunglücklich waren, schmunzelte mein Vater und meinte, wir haben doch Unterbuxen an! So konnte unsere Mutter das Schwimmen im Kanal doch nicht verhindern.

Diese unterschiedliche Sichtweise meiner Eltern bezüglich der Sicherheit von uns Kindern ist nur ein Beispiel für die vielen Widersprüche in unserer Erziehung. Diese Widersprüche wurden verstärkt durch unsere beiden Großmütter, die mit meinen Eltern, meinen beiden Geschwistern und mir in unserem gemeinsamen Haushalt lebten, sehr weit weg vom Rest der Welt: Das Haus, in dem wir lebten, war auf unserer Straße das einzige mit einer Hausnummer und mit Leben darin. Außer uns gab es nur noch die Leichenhalle gegenüber, ohne Hausnummer. Unsere „Nachbarn“ auf dem Friedhof luden mich oft ohne Worte zu sich ein und beschwerten sich nie bei irgendwem über mich.

Meine beiden Großmütter waren sehr an allen Regeln im Haus beteiligt. Das oberste Gebot lautete: „Erwachsene haben immer Recht!“ Obwohl meine Eltern sich auch Gedanken über unsere Erziehung machten, wurde doch meistens aus der Situation heraus erzogen und uns Kindern keine Rechte zugestanden, denn Kinder hatten sich zu fügen.

So gab es einige Regeln meiner Familie, die mich später gefühlsmäßig praktisch zwangen, das genaue Gegenteil von dem zu tun, was von mir erwartet wurde. Eine dieser Regeln, gegen die ich unbedingt rebellieren musste, als ich es dann konnte, war, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen. Der Kirchgang war für mich eine Last, so dass ich mir als Kind und auch noch als Jugendliche nicht eingestehen konnte, dass ich die Messe auch irgendwie schön, beruhigend und besinnlich fand.

Meine Omi hatte mit der Religion wenig am Hut und schlief sonntags immer aus. Oma hingegen war sehr religiös. Sie bestand darauf, dass wir jeden Sonntag nicht nur sehr pünktlich die Kirche besuchten, sondern auch auf nüchternen Magen die heilige Kommunion empfingen. Da meine Eltern immer erst ganz knapp beim Kirchengeläut in unserem alten VW-Käfer zur Kirche fuhren, wollte Oma zu Fuß zur Kirche gehen, damit sie vor dem Geläut schon eine Viertelstunde zum Einbeten hatte.

Um Oma nicht alleine laufen zu lassen, wurde mir die Aufgabe übertragen, sie jeden Sonntag in der Frühe zu Fuß zur Kirche zu begleiten. Mit leerem Magen, durch die Kälte und die lange Zeit des Ausharrens, wurde mir dort oft schlecht. Einmal bin ich sogar umgekippt, was mir aber nicht ersparte, am darauf folgenden Sonntag wieder mit Oma zur Kirche zu gehen.

Wo komme ich her?

von Andrea Fröhlking

Vielleicht ist es dem Wohlwollen meiner Tanten geschuldet, dass es mich gibt?

Als ältere Schwestern meiner Mutter waren sie es, die sie auf ihren ersten Tanzabend mitnahmen, obwohl sie eigentlich noch zu jung war. Sie setzten sich für sie ein und umgarnten meinen Großvater mit ihrem Charme und guten Worten, so dass er ihr erlaubte mitzugehen.

Für meine Mutter war dieser erste Dorfabend aufregend. Sie zog ihr bestes Kleid an und toupierte ihre Haare mithilfe ihrer Schwestern, die sich glücklich schätzten, das Nesthäkchen der Familie in die Gesellschaft einführen zu dürfen.

In meiner Vorstellung kicherten sie fröhlich und erwartungsvoll und halfen einander, hübsch auszusehen, bevor sie sich auf den Weg machten, den Berg hinabzusteigen, ins Dorf.

Am Tanzsaal angekommen, werden sie durch beschlagene Scheiben geschaut haben in Erwartung auf einen schönen Abend. Vielleicht haben die ersten Gäste draußen gestanden und die frische Luft genossen, bevor es wieder hineinging in den Saal? Vielleicht haben sie sich hier zum ersten Mal gesehen, meine Eltern?

Mein Vater mit gegeltem Haar, groß und schnieke anzuschauen in seinem dunklen Anzug und mit der brennenden Zigarette in der Hand? Und meine Mutter mit frischem, rosigem Teint und glockig geschwungenem Rock?

Im Saal wird es laut gewesen sein von der Musik aus einer Jukebox und dem Stimmengewirr vieler Menschen, die sich auf dem knarzigen Holzboden im Tanz drehten.

Womöglich war es mein Vater, dessen Blick auf das hübsche Gesicht meiner Mutter fiel und der sich ein Herz nahm, sie zum ersten Tanz aufzufordern?

Mein Vater, der als Vollwaise ohne seine Eltern aufwachsen musste und den Weg hinauf ins Haus meiner Mutter bestimmt mit Herzklopfen antrat, als er sich dort zum ersten Mal meinem strengen Großvater vorstellte?

Es folgten Jahre des Kennen- und Liebenlernens, des Versprechens, einander zu heiraten, des Hausbaus und der Hochzeit, nach der ich mich endlich auch gemäß kirchlichen Vorstellungen auf den Weg machen durfte. Meine Geburt war schwierig, so dass sich im Nachhinein als glücklich erwies, dass meine Mutter als erste Tochter der Familie in einem Krankenhaus entbinden durfte und nicht zu Hause wie ihre Schwestern. Weil ich ohne fremde Hilfe den Geburtskanal partout nicht verlassen wollte, brauchte es Zange und Saugglocke, um mich zu holen. Als mein Vater sein erstes Kind erblickte, war er von dem deformierten Schädel seiner Tochter so erschrocken, dass er zunächst annahm, ich sei behindert.

Die Verpackungskuppelei

von Lyddia van Dyke

Meine Eltern hätten sich nie kennengelernt, wenn es B & K nicht gäbe. Für alle, die nicht aus Lengerich kommen: Es gibt zwei Abkürzungen, die hier jeder kennt. W & H steht für Windmöller und Hölscher, die Verpackungsmaschinen herstellen, und B & K für Bischof und Klein, die Verpackung produzieren. Zumindest war das früher so, die Kernkompetenzen der Firmen können sich mittlerweile geändert haben. Unumstößlich war und ist es hingegen, dass Studenten und Schüler immer klamm sind und sich während der Ferien Arbeit suchen.

B & K war in den fünfziger Jahren für Suchende dieser Art eine gute Adresse. Meine Eltern, die damals noch nicht wussten, dass sie meine Eltern werden würden, arbeiteten beide bei B & K.

Eines Tages stupste eine Freundin meine Mutter an und sagte, sie solle Material aus dem Keller der Halle holen. Meine Mutter stöhnte und beklagte sich, das sei so schwer. Ihre Freundin, die frisch verlobte Irmgard, meinte, das würde schon leichter werden, sie solle sich mal den jungen Mann anschauen, der gerade die Kellerdecke strich.

Irmgard, die Kupplerin des Schicksals, hatte wohl im Hinterkopf, dass meine Mutter sich vor wenigen Monaten von ihrem Freund Georg getrennt hatte. „Dann muss ich mich ja mit der schweren Kiste an der Leiter vorbei zwängen“, meinte meine Mutter – sie wollte wirklich nicht. Irmgard erwiderte: „Musst du nicht, da ist keine Leiter.“ Entweder war meine Mutter nun der Überzeugung, dass Irmgard endgültig von allen guten Geistern verlassen war – Verliebtsein hat so seine Tücken – oder sie war neugierig geworden.

Sie ging in den Keller, und da war der junge Mann, der aufgrund seiner Größe von 1,96 Metern gar keine Leiter brauchte, um die Kellerdecke zu streichen. Ich weiß nicht, wie die Begegnung aussah, so etwas erzählen Mütter ihren Töchtern nicht unbedingt. Ich schaue mir die Fotos der beiden aus dieser Zeit an und tippe auf eine beidseitige, auf Vaters Seite farbverschmierte Götterdämmerung.

Anders als so oft in den 50er Jahren haben die beiden erst spät geheiratet, denn sie wollten zuerst ihre Berufsausbildung abschließen. Meine Mutter, zwei Jahre jünger als mein Vater, hatte zwei Jahre ihrer Schulzeit nachzuholen, die durch den Zweiten Weltkrieg und die Flucht aus dem Osten verloren gegangen waren. Mein Vater, Student der Jurisprudenz, braucht auch noch Jahre, um das Studium abzuschließen. Ein Jurastudium ist langwierig, das hat sich im Laufe der Zeit nicht geändert.

Nach seinem zweiten Staatsexamen und der anschließenden Unterzeichnung des ersten Arbeitsvertrags konnte dann das Aufgebot bestellt werden. Aller Sentimentalität zum Trotz fand der Polterabend nicht bei B & K statt.