Verena, Sophia Monsieur Mounk und die kleinen Wunder des roten Hauses

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© 2019 Piper Verlag GmbH, München
Redaktion: Julia Feldbaum
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Das kleine Städtchen und seine Bewohner

»Monsieur Mounk ist einsam«, sagten die Mitleidigen.

»Monsieur Mounk ist seltsam«, sagten die Frauen.

»Monsieur Mounk hat ’nen Dachschaden«, sagten die Männer.

»Pass auf, sonst frisst dich Monsieur Mounk«, riefen die Kinder.

»Ein Schäfchen unserer Gemeinde«, predigte der Pfarrer.

»Ein Bürger der Stadt«, versicherte der Bürgermeister.

»Ein komischer Kauz«, meinte der Bauer.

»Ein Fleischverächter«, spuckte der Metzger verächtlich aus.

 

Wenn Monsieur Mounk die Straße entlangging, hatten alle plötzlich etwas ganz Wichtiges zu tun: Türen wurden zugezogen, Fenster mit auffälliger Unauffälligkeit leise geschlossen, die spielenden Kinder verstummten, ja, sogar die Hunde hörten auf, an ihren Knochen zu nagen, und verkrochen sich leise winselnd in ihren Hütten oder Löchern. Nur die Vöglein ließen sich nicht beirren und zwitscherten weiterhin ihre fröhlichen Liedchen.

Wenn Monsieur Mounk sein Haus verließ, so war also stets ein munterer Gesang um ihn herum. Zumindest war dies im Sommer so. Im Winter waren selbst die Vöglein fort. Bis auf einige wenige, die aber vor Kälte nicht gedachten, die kleinen Schnäbel aufzumachen. Im Winter vernahm man nur das wollig-weiche Rieseln der Schneeflocken auf der harten Erde. Dann war es sehr still um Monsieur Mounk. Aber das war es ja schließlich immer.

»Der ist das ja gewohnt und will es nicht anders«, versicherten die Dorfbewohner. »Der ist doch immer allein.«

Ja, es stimmte, Monsieur Mounk war wirklich immer allein. Aber ob er das auch so wollte?

»Natürlich tut er das.« Dies war die allgemeine Ansicht.

»Wenn er wollte, könnte er doch in die Kirche gehen«, meinte der Priester.

»Wenn er wollte, könnte er jederzeit unserem Herrenklub beitreten«, versicherte großmütig der Gemeinderat, der sehr erleichtert war, dass Monsieur Mounk dies nicht wollte.

»Schon zweimal habe ich ihm einen Kuchen vorbeigebracht, ohne auch nur ein Wort des Dankes zu hören«, empörte sich die Bürgermeistergattin immer wieder aufs Neue. Dass der eine Kuchen angebrannt gewesen und der andere mit halb verschimmeltem Obst gebacken worden war, verschwieg sie vorsorglich. Vielleicht hatte sie es auch tatsächlich vergessen. Wozu an eigene Fehler denken, wenn man sich doch so herrlich bei den sonntäglichen Kaffeekränzchen über die der anderen auslassen konnte?

»Nie gesehen«, murrten die Damen des Roten Hauses, einem ganz fürchterlich verruchten Tanzlokal am Ende des Dorfes.

Drei Stockwerke hoch und nur zwei Meter weniger in der Länge als das Bürgermeisterhaus. Von einem wütend brüllenden goldenen Drachen auf dem Dach beschützt war es mittlerweile nicht mehr aus dem Stadtbild wegzudenken. Vor langer Zeit hatten sich Nacht für Nacht hinreißende Melodien auf die Straße ergossen. Bunte Musikertruppen, Artisten und sogar vornehme Herren, begleitet von zweifelhaften Damen, waren in das gut versteckte kleine Nest gereist, um rauschende, champagnerschwere Tanzabende im Roten Haus zu feiern. Die edlen Gästezimmer, ausgestattet mit Blattgold, Pfauenfedern und Plüschsesseln, waren stets belegt gewesen. Ebenso die weniger herrschaftlichen Zimmer für die Angestellten. Denn aus dem ganzen Land und sogar von außerhalb waren sie gekommen, die Tänzerinnen, um ihre Röcke zu schwingen, ihre Taillen zu verbiegen – in der Hoffnung, das Rote Haus als Sprungbrett zu den größten Bühnen der Welt nutzen zu können.

Ja, die ersten Jahre waren durch und durch prachtvoll gewesen. Doch wie die Zeit so spielte … nichts blieb, wie es war.

Die Welt hatte sich weitergedreht, die Menschen Schiffe versenken gespielt, das Gold in den Schatztruhen war für Brot ausgegeben und der Champagner im Keller schal geworden.

Die Tänzerinnen hatten die Idee, irgendwo in der Provinz für ein paar sabbernde Bauern zu tanzen, immer weniger reizvoll gefunden. Die Musiker hatten ihre Instrumente verpfändet, um ihre Kinder zu ernähren, und die reichen Herren hatten lieber die großen, glitzernden Lokale in den großen, glitzernden Städten besucht. Pünktlich zum Glockenschlag am nächsten Morgen hatte es doch stets geheißen, mit Frauchen im Gottesdienst zu sitzen.

Das Rote Haus mit dem prachtvollen goldenen Stuck war mehr und mehr verfallen.

Die Türen quietschten unwillig, die von unzähligen Absätzen abgekratzten Dielenbretter knarrten missmutig. In den einstigen Garderoben hatten sich Schwalben und Mäuse ihre Nester gebaut. Das prunkvolle Grammofon spielte lediglich, wann es Lust hatte, und die mottenzerfressenen Samtvorhänge der Bühne ließen sich nicht mehr aufziehen, sodass diese stets einsehbar war. Keine Geheimnisse, kein aufgeregtes Räuspern mehr. Kein von einem Trompetentusch begleitetes »Vorhang öffne dich!«.

Im Keller standen nun nicht mehr die Champagnerkisten, sondern Bierflaschen. In der einst so edlen grün gefliesten Küche wurden keine Filet mignons und Petit Fours mehr veredelt. Vielmehr wurden Spiegeleier, Crêpes und grünlich schimmernder Käse auf Brot durch die Durchreiche in den einstigen Speisesaal gereicht. Auch der rotgesichtige, kugelrunde Chefkoch hatte längst das Weite gesucht.

An seiner Stelle stand nun Tinette. Ein ewig mürrisches Mädchen mit schuppigem Haar und einem lahmen Bein, das lustlos die nötigen Speisen zubereitete, die Böden mit dem immer selben Lappen wischte und Mäuse und Spinnen nur mit einem Achselzucken bedachte. Tinette war die am wenigsten interessante Person im Roten Haus, und dementsprechend wurde auch am wenigstens über sie geredet.

Doch da gab es ja noch die anderen. Die Tänzerinnen. Damals wie heute wie morgen ein gefundenes Fressen. O ja, die Tänzerinnen. Denn ein paar waren tatsächlich geblieben. Sei es, weil sie sonst nirgends hingekonnt hätten, oder war es die Macht der Gewohnheit gewesen?

Jedenfalls waren sie noch immer da, und es wurde fleißig über sie geredet. Schließlich war eine jede gute Bürgersfrau der festen Überzeugung, nur zu genau zu wissen, was es mit diesen Tänzerinnen auf sich hatte. Mit ihnen und diesen grässlichen Tänzen.

Der Cancan. Schon allein dieser Name verhieß Unzucht. Und der Tanz selbst. Die Beine bis über die Ohren zu schmeißen, damit man unter die zerlumpten Spitzenröcke schauen konnte. Was anderes beherrschten die nicht, diese angeblichen Tänzerinnen.

Immer dasselbe, jeden Abend. Als ob es keine anderen Tänze gab, die man aufführen konnte. Doch das war ja noch nicht einmal das Schlimmste. Dieses seltsame, angeblich in den großen Hauptstädten übliche System der bezahlten Tänze. Das konnte sich nur ein Mann ausgedacht haben. Ein unanständiger seiner Art.

Bei der Oberaufseherin wurden kleine rote Karten verkauft, und pro Karte durfte man mit einer der Tänzerinnen, die wie Hühner an der Wand aufgereiht warteten, einen Tanz vollführen. Einen Walzer, Tango, Foxtrott, was auch immer man mochte. Angeblich eine Einrichtung für Junggesellen und Witwer. Männer, die keine eigenen Frauen hatten, die sie in ein Tanzlokal ausführen konnten.

Aber es waren nun mal nicht nur die Junggesellen und Witwer, welche dort hingingen, zumindest nicht hier. Hier trieben sich die verheirateten Männer mit ihren Freunden herum. Ohne ihre Frauen. Natürlich ohne ihre Frauen, eine anständige Frau würde niemals in ein solch unfeines Etablissement gehen. Man wusste schließlich nie. Immerhin predigte der Pfarrer jeden Sonntag gegen die Unzucht und gotteslästerliche Tanzerei. Also konnte es dort ja nicht ganz mit rechten Dingen zugehen. Und wo es nicht mit rechten Dingen zuging, da blieb eine anständige Frau fern.

Konnte man auch die Männer nicht festhalten, so konnte man wenigstens alle möglichen Informationen von ihnen einholen lassen. Denn welche Frau gut informiert war, die war die Königin beim Teekränzchen. Und sehnte sich nicht eine jede in der Tiefe ihres Herzens nach ein wenig Scheinwerferlicht und Goldstaub? Selbst wenn einem die gewünschte Bewunderung nur aus dem trüben Spiegelbild der Teetasse entgegenblickte?

Das Rote Haus und Monsieur Mounks völlige Abwesenheit in selbigem boten jedoch nicht nur den Teekränzchen, Nähkreisen und Bedürftigen-Komitees ausreichend Gesprächsstoff. Nein, auch im Roten Haus selbst war Monsieur Mounk ein niemals endendes Gesprächsthema, und an flauen Tagen wurden die roten Damen nicht müde, alle möglichen und unmöglichen Theorien zu erörtern, was denn nun mit ihm los sei. Aber zu einem Ergebnis kamen sie dabei nie. Das wäre ja auch zu langweilig gewesen.

Die Einzige, die sich nie an den Gesprächen über Monsieur Mounk beteiligte, war Lucille. Auch sie arbeitete im Roten Haus. Aber da sie sowieso etwas seltsam war, wunderte sich keiner darüber. Die meisten anderen Damen des Hauses hielten sie für arrogant. Sie sprach kaum ein Wort, und wenn ein Kunde ihr ein Kompliment machte oder seine Hand beim Tanzen ein winziges Stückchen tiefer gleiten ließ als üblich, so konnte es schon einmal passieren, dass sie ihn mit einem ganzen Schwall an Schimpfwörtern zum Teufel jagte. Sie war sogar einmal verheiratet gewesen, mit einem großen Regisseur, der am Theater der Hauptstadt engagiert gewesen war. Bei einem Vorsprechen hatten sich die beiden damals kennengelernt und sich augenblicklich ineinander verliebt. Nur zwei Wochen später war geheiratet worden, und neun Monate später war ein Baby da gewesen.

Sechs Jahre lang hatten sie glücklich und zufrieden gelebt, doch dann war der Regisseur sehr krank geworden und nur wenige Wochen später gestorben. Es lag eine gewisse Ironie darin, dass der Regisseur ebenso lange gebraucht hatte, Lucille zu verlassen, wie er gebraucht hatte, sie zu heiraten. Der armen Lucille, einsam und mittelos mit einem kleinen Kind zurückgelassen, war keine andere Wahl geblieben, als wieder in ihr Heimatdorf zurückzukehren und sich dort ihren Lebensunterhalt im Roten Haus zu verdienen. So jedenfalls die offizielle Geschichte.

Dass das Ganze in Wirklichkeit ganz anders gewesen war, darüber tuschelte das gesamte Dorf. Und das nun schon seit drei Jahren. Es war aber auch eine sehr pikante Geschichte. Da sah man es mal wieder, was dabei herauskam, wenn man jungen Mädchen ihren Willen ließ. Alle hatten dem Herrn Professor damals gesagt, dass so ein junges und schönes Mädchen wie seine Tochter in der großen Stadt nichts zu suchen hatte – und dann noch ganz allein, ohne Freunde oder Verwandte. Als wenn das noch nicht genug gewesen wäre, so hatte sie auch noch ans Theater gewollt und wie ihr großes Vorbild Sarah Bernhardt die Welt erobern. Nun, weit war sie ja nicht gekommen.

Im Grunde musste man Mitleid mit ihr haben. Mutterlos aufgewachsen hatte ihr der Vater, der Herr Professor, natürlich nichts abschlagen können. Nicht mal die Schauspielerei. Als er dann durch einen Brief, Lucille hatte es ihm nicht einmal persönlich sagen wollen, erfahren hatte, dass sie ein Kind erwartete und mit diesem Regisseur verheiratet war, hatte den armen Mann der Schlag getroffen, und noch in derselben Nacht war er verstorben.

Zu seinem Begräbnis war Lucille dann gekommen. Ganz in schwarzer Spitze und mit einem deutlich sichtbaren von der Schwangerschaft gewölbten Bauch war sie am Grabe gestanden. Der Regisseur war nicht mit dabei gewesen. Er müsse eine wichtige Premiere vorbereiten, hatte Lucilles Antwort auf die Fragen nach seinem Verbleib gelautet. Das hatte natürlich Anlass zum Tuscheln gegeben. War eine Premiere in der Stadt wirklich wichtiger als das Begräbnis des Schwiegervaters?

Schon damals hatten die Gerüchte gebrodelt. Dass der Herr Professor seiner einzigen Tochter nicht einen Grashalm hinterlassen hatte, hatte man durch die Frau des Notars erfahren, die diese Information in aller Vertraulichkeit ihren besten Freundinnen erzählt hatte.

»Nicht ein bisschen hat sie bekommen, wenn ich es euch doch sage, weder das Haus noch das Geld. Auch die Bücher und den Schmuck seiner verstorbenen Frau, alles der Kirche vermacht. Sie ist praktisch mittellos.«

Natürlich war das ganze Dorf in Mitleid mit der armen, armen Lucille geschwommen, und die Dorfbewohner hatten sich mit Einladungen zum Mittagessen nahezu überboten. Das Rennen um Lucille hatte schließlich die Frau des Bürgermeisters gewonnen, die der jungen Frau listig versichert hatte, dass ihr Mann, der Herr Bürgermeister, bestimmt etwas für sie tun könne. Etwa das Testament anfechten oder Ähnliches. Lucille, müde und schwach von der Schwangerschaft sowie von den Strapazen der letzten Tage, hatte schließlich ergeben eingewilligt.

Das Mittagessen, Rinderbraten in Honigsoße und ein Salat aus Rosenblütenblättern und Radieschen, war von den einfühlsamen und neugierigen Fragen der Bürgermeistergattin begleitet gewesen.

Wie weit es denn nun mit der Schwangerschaft sei? Warum denn der liebe Gatte nicht mitgekommen sei? Nein, wie gern man ihn doch kennengelernt hätte, wenn auch bei einem so traurigen Anlass. Ja, es sei wirklich ganz und gar unverständlich, wieso der gute Herr Professor, der doch bis zum letzten Augenblick noch bei klarem Verstand gewesen sei, sie einfach hintergangen und in seinem Testament nicht erwähnt habe. Nein, so etwas. Ob es denn Streit gegeben habe? Aber warum sie denn einfach aufstehe? Ob sie denn keinen Rosinenkuchen mehr wolle? Warum sie denn die Tür so laut hinter sich zuschmeiße? Unverschämtes Mädchen! Wo man es doch so gut mit ihr gemeint hatte. Aber man könne ja von so einer nichts Besseres erwarten. Bestimmt gab es überhaupt gar keinen Ehemann. Höchstwahrscheinlich war dieses Kind, das sie erwartete, ein Missgeschick gewesen. Und welcher Mann wollte schon eine Frau heiraten, die sich ihm ohne Ring hingegeben hatte? Keiner natürlich. Warum sonst war denn der Herr Regisseur nicht zur Beerdigung gekommen? Nicht einmal hingebracht hatte er seine hochschwangere Frau. Nein, mit dem Zug war sie gekommen. Ganz allein in diesen unmöglich hohen Schuhen, die heutzutage wohl alle Frauen in der Stadt trugen … Und diesen schweren Koffer hatte sie geschleppt. Ein anständiger Mann ließ so etwas doch nicht zu.

»Vermutlich ist er gar kein Regisseur«, hatten die Nachbarinnen des Herrn Professors untereinander geflüstert. »Wahrscheinlich ist es nur ein Kulissenschieber, und jetzt will sie ihr Gesicht wahren, indem sie behauptet, er sei ein berühmter Regisseur.«

»Und vermutlich hat er dabei noch was ganz anderes verschoben«, hatten die Männer abends im Wirtshaus gegrölt, als sie vergnügt ihre Bierflaschen geschwenkt und mit diesen klirrend auf den armen, toten Herrn Professor angestoßen hatten.

Lucille hatte nicht versucht, das Testament anzufechten. Am Abend nach dem Essen im Bürgermeisterhaus war sie in den Zug gestiegen und zurück in die Hauptstadt gefahren.

»Scheint wohl genug in der großen Stadt zu verdienen«, war einander bedeutungsvoll versichert worden. »Hat es wohl nicht nötig, um das Geld des Alten zu kämpfen.«

Die Damen im Roten Haus waren zu diesem Zeitpunkt sehr neidisch auf Lucille gewesen: auf ihre schönen glänzenden Schuhe, auf den entzückenden Hut mit Schleifchen und den modischen Schmuck, den sie am Hals getragen hatte.

»Scheint es ja gut getroffen zu haben. Die kann jetzt auf alles pfeifen und lebt in der Stadt in Saus und Braus. Hat schön auf der Bühne gestanden. Hat ’nen Mann, der gut verdient, und kriegt auch noch so ein verdammtes Balg, und das mit ’nem Ring am Finger.« Missmutig hatten die Frauen auf ihre eigenen plumpen, rissigen bemalten Hände gestarrt. Keine hatte einen Ring am Finger. »Die sehen wir hier nie wieder«, hatte Fantine prophezeit, das pummeligste der Mädchen im Roten Haus.

Recht behalten hatte sie damit nicht. Denn sechs Jahre später war Lucille in der Tür gestanden. Schmal und blass, mit tiefen Ringen unter den vom Weinen geröteten Augen. In der einen Hand einen Koffer, der aus allen Nähten platzte. An der anderen Hand ein kleines Mädchen mit blondem, strähnigem Haar, einem schlecht gekürzten schwarzen Spitzenkleid und mit einer Puppe im Arm. Dies war ein so jammervoller Anblick gewesen, dass nicht einmal die boshaftesten der Damen des Hauses eine spitze Bemerkung hatten machen können.

Sofort war Lucille in ihrer Mitte aufgenommen worden. Sie war stumm gewesen, hatte keine Ansprüche gestellt und sich mit allem zufriedengegeben. Das Zimmer mit der vergilbten Rosentapete, in dem keiner mehr hatte wohnen wollen (angeblich ging dort des Nachts ein Geist um), war Lucilles neues Zuhause geworden. Eine alte, mottenzerfressene Matratze war vom Speicher geholt und in eine Ecke gelegt worden, eine ehemals weiße Spitzengardine davorgehängt, sodass dieses Kind – keine der Damen hatte es für nötig befunden, nach dem Namen zu fragen – dort abgetrennt vom Leben hatte schlafen können. So hatte es wenigstens nicht gestört.

Die ersten drei Tage nach ihrer Ankunft hatte man Lucille in Ruhe gelassen.

»Die braucht erst mal Zeit, sich einzugewöhnen«, hatte man sich zugeflüstert. »So, wie sie hier angekommen ist, mit einer Schnur um den alten Koffer und den zerrissenen Strümpfen, als ob sie direkt vor dem Krieg geflohen wäre …«

Man war besonders freundlich zu ihr gewesen, hatte heiße Suppe und saubere Bettwäsche gebracht. Hilfsbereit hatten die anderen Damen Lucilles Koffer ausgepackt und die Kleider mit bewundernden Rufen im Zimmer verteilt – und aufgrund des Platzmangels in ihren eigenen Schränken. Die Schmuckstücke hatte die Mutter des Hauses, Madame Odette, in Gewahrsam genommen. Nur den Ehering hatte sie Lucille behalten lassen. Aber auch nur, weil Lucille auf ihre Aufforderung, ihn herauszugeben, nicht reagiert hatte.

»Die steht noch unter Schock«, hatte die allgemeine Ansicht gelautet.

Aber was war denn nun eigentlich passiert? Genau das hatten sich alle gefragt. Was für ein schreckliches Unglück war geschehen, dass die schöne, reiche Lucille nun hier war? Bestimmt hatte ihr Mann sie verlassen. Hatte sie zum Teufel gejagt. Bestimmt hatte sie ihn betrogen. Das Kind war wohl gar nicht von ihm, und er hatte es rausgekriegt.

Die Vermutungen waren immer wilder und die Damen immer unzufriedener geworden, da niemand bereit gewesen war, ihre Neugierde zu stillen. Am allerwenigsten Lucille selbst. Stumm mit über den Augen verschränken Armen war sie auf dem Bett gelegen. Auf nichts hatte sie reagiert. Keine Schmeicheleien, Bitten oder die mehr und mehr drängenden Fragen hatten sie zu einer Reaktion bewegen können.

Das Ganze hatte schließlich seinen Höhepunkt gefunden, als Madame Odette am Abend des dritten Tages – ob der um diese Zeit ungewöhnlichen Stille im Haus alarmiert –, den Tanzsaal betreten hatte. Zu ihrer grenzenlosen Verblüffung hatte sie alle Damen in einem großen unzufriedenen Haufen beieinanderstehend und eifrig diskutierend vorgefunden. Weder hatte das Grammofon als Alibi gebrummt noch hatte Lydia es für nötig befunden, sich an das marode Klavier zu setzen. Die einzigen drei Männer, die scheinbar noch nicht vergrault worden waren, hatten mit wütend zitternden Schnurrbärten vorwurfsvoll auf den tuschelnden Haufen von Tänzerinnen geblickt, die ihnen nicht die vermeintlich wohlverdiente Aufmerksamkeit schenken wollten.

Wie ein Falke war Madame Odette mitten in den flüsternden Haufen gestochen und hatte einen Schwall wütender Ermahnungen und Kniffe verteilt. Daraufhin waren einige der Damen unwillig auf die Tanzfläche getrottet, um sich, lustlos von den missmutigen Tönen des Klaviers begleitet, zu einem schlampigen Cancan aufzustellen. Auf ihre geflüsterten inquisitorischen Fragen, was denn dieser trotzige Aufmarsch zu bedeuten hätte, hatte Fantine sie schließlich über Lucilles strikte Weigerung aufgeregt, am Leben teilzunehmen. Es sei eine mordsmäßige Ungerechtigkeit, dass sie, jawohl sie, die anständigen, schwer und hart arbeitenden Künstlerinnen, diese gefallene Frau und ihr schmutziges Balg durchfüttern sollten. Das wäre ungerecht und gemein und sowieso, und wenn sich das nicht änderte, würden sie alle in Streik treten. Jawohl, in Streik! Eine flammende, kleine Rede, heftig unterstützt von Fantines wild schwingendem Doppelkinn.

Diese missgünstigen Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Denn wenn Madame Odette eines nicht hatte gebrauchen können, dann war es ein Streik. Wütend hatte sie Fantine von sich gestoßen, hatte den tanzenden Mädchen ein »Höher die Beine!« zugebellt und war schnurstracks die Treppe hinaufmarschiert, hatte Lucille gepackt und ihr ohne Zögern zwei schallende Ohrfeigen verpasst.

»Nun ist aber Schluss, Mädchen. Du bist nun einmal hier, und wenn du und dein Kind nicht auf der Straße landen und verhungern wollt, dann passt du dich jetzt endlich an. Mir ist egal, ob du in der Hauptstadt auf den größten Bühnen gestanden, mit Ministern Sekt getrunken und in weißem Crêpe de Chine geheiratet hast. Du bist nun hier. Arm, allein und ohne eine Menschenseele, die sich was aus dir macht. Also steh auf, wasch dich, zieh dir ein passendes Kleid an und komm nach unten. Wenn ich dich in zwanzig Minuten nicht im Tanzsaal sehe, dann fliegt ihr beide noch heute aus diesem Haus.«

»Er ist tot.« Lucilles Stimme war nur ein Flüstern gewesen. »Er ist tot.« Sie schrie: »Tot. Tot. Tot!!«

Madame Odette hatte aufgeblickt. Ihr eben noch zornrotes verkniffenes Gesicht war weicher geworden. Ihre dicken Arme hatten Lucilles ausgezehrten, zitternden Körper umschlungen und ihn festgehalten. Lange, lange Zeit, bis Lucilles Schluchzen nachgelassen und sie sich langsam aus der Umarmung gelöst hatte. Die beiden Frauen hatten einander angeblickt. Die eine alt und aufgedunsen, mit einer dicken Schicht billiger Schminke und großen, wissenden Augen. Die andere jung und schön, verzweifelt und gebrochen.

»Tinette wird dir frisches Wasser bringen. Ich erwarte dich dann in einer halben Stunde unten. Dort werde ich dir alles erklären, was du wissen musst.« Sie hatte Lucilles dünne Beine gemustert. »Ich bezweifle zwar sehr, dass du mit diesen Weidenruten viel zustande bringst, aber einen ordentlichen Walzer oder Tango wirst du ja wohl schaffen. Die Nummern zeige ich dir morgen. Der Cancan ist simpel, und wenn ich dich ganz an den Rand stelle, fällt schon keinem auf, wenn du es nicht so ordentlich machst.«

Mit diesen Worten hatte Madame Odette das Zimmer verlassen und die Tür fest hinter sich zugezogen.

So war es gekommen, dass Lucille, einst bewundert und beneidet, auf den größten Bühnen der Hauptstadt gefeiert, nun ein Leben im Roten Haus führte.

Kennenlernen

Die warmen Sonnenstrahlen prickelten leicht auf Yvettes Haut. Die hölzernen Dielen, auf denen sie saß, waren vom Sonnenschein aufgewärmt und knarzten leise, wenn jemand auf ihnen entlangschritt. Der Geruch des warmen Holzes und des Grases ergab eine wunderbare Mischung, die Yvette liebte und begierig einsog. Auch Madame Antoinette, der Yvette eifrig die dunklen Haare kämmte, schien genießerisch die warme Luft einzuatmen. Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Erstaunlich warm für Anfang März. An so einem Tag war es eine Schande, im Haus zu sitzen.

Das fand zumindest Yvette, die nicht verstehen konnte, warum die anderen Leute der Stadt sich lieber im kühlen Inneren einschlossen, anstatt den herrlichen Tag im Freien zu genießen. Aber da Yvette die Erwachsenen sowieso nicht verstand, machte sie sich keine großen Gedanken darüber. Es gab sowieso Wichtigeres in ihrem Leben, als über die Großen und deren Eigenarten nachzudenken.

Langsam begann sie nun, das dichte, seidige Puppenhaar zu flechten. Ihre Zungenspitze schaute zwischen den Zähnen hervor, und ihre Augenbrauen waren gekräuselt. Es war anstrengend, Madame Antoinettes gewaltige Haarfülle zu bändigen. Yvette war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie ein großer Schatten vor ihr stehen blieb. Erst als sie den ersten Zopf zu Ende geflochten und ihn mit einer dünnen Klammer befestigt hatte, blickte sie auf. Vor ihr stand der seltsame Monsieur Mounk, der immer allein durch die Stadt lief und mit keinem redete. Yvette hatte ihn schon oft gesehen, nur – anders als die übrigen Kinder – war sie nicht schreiend weggelaufen. Warum sollte Monsieur Mounk ihr etwas tun? Dazu gab es keinen Grund. Also brauchte sie sich auch nicht zu fürchten. Auch jetzt, als er so vor ihr stand, den Kopf schräg geneigt und seine grauen Augen auf Madame Antoinette geheftet, hatte sie keine Angst. Neugierig blickte sie zu ihm auf.

»Warum trägt deine Puppe schwarz?«

Die Frage kam so unvorbereitet, dass Yvette der Mund offen stehen blieb. Sie lächelte verlegen und drückte Madame Antoinette noch ein bisschen fester an sich.

»Sie ist traurig«, erklärte sie jedoch ernst.

Monsieur Mounk nickte langsam. Er schien es zu verstehen. »Warum ist sie traurig?«

»Ihr Mann ist gestorben.«

Wieder nickte Monsieur Mounk. Sein Mund verzog sich. Er verneigte sich leicht. »Mein herzliches Beileid.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging langsam die Straße entlang.

Verblüfft blickte Yvette ihm hinterher. Dann lächelte sie vergnügt und begann, sich mit Madame Antoinette über das gerade stattgefundene Gespräch zu unterhalten. Madame Antoinette gefiel Monsieur Mounk gut. Er hatte nicht gelacht, und das war selten für die Erwachsenen. Dies war eindeutig eine schätzenswerte Eigenschaft. Darin waren sich die beiden einig.

Als die Sonne unterzugehen begann und ihre goldenen Strahlen die Schatten länger werden ließ, ging Yvette zurück ins Rote Haus. Die Haustür war nur angelehnt, sodass sie nicht an der Schnur ziehen musste, sondern der stets murrenden Lydia aus dem Weg gehen konnte, die sonst an die Tür gekommen wäre. So ging sie in den dunklen Flur, der ihr immer etwas Angst einjagte. Aus dem Tanzsaal drang das Poltern der schweren Männerschuhe, gepaart mit Alicias schrillem Gelächter und den verstaubten Tönen des Grammofons. Vertraute Geräusche. Langsam stieg sie die knarrende Treppe zum oberen Stockwerk hinauf.

Lucille war bestimmt auch dort unten. Wie immer um diese Zeit. Dann tanzte sie untergehakt mit den anderen Frauen in einer Reihe. Warf ihre Beine in die Luft, hob die Röcke. Das weiße Gesicht vor Anstrengung noch weißer und spitzer als sonst. Und dann, dann tanzte sie mit den Männern. Eng aneinandergeschmiegt. Der Blick starr, der Mund ein gerader Strich. Doch sie tanzte. Drehte sich wie eine Ballerina in der Spieluhr. Immer wieder. Immer wieder. Einmal, es war ganz am Anfang gewesen, war Yvette hinunter in den Tanzsaal gelaufen und hatte den Mann, der mit Lucille tanzte, in die Hand gebissen. Fest, so fest sie konnte. Schreiend war er davongestolpert. Die blutende Hand an die Brust gepresst, hatte er Yvette mit der schlimmsten Prügel ihres Lebens gedroht.

Yvette seufzte bei der Erinnerung. Sie hatte Lucille doch nur beschützen wollen. Beschützen vor dem Mann, der sie so fest umklammert gehalten hatte. Sie an sich gepresst hatte, als wäre sie ein mit Sägespänen gefüttertes, willenloses Stoffbündel. Das dumpfe, nagende Gefühl kehrte wieder in ihren Magen zurück. Der Stein, der schwer und hart hin und her rollte, versuchte, die Kehle hinaufzukriechen. Erinnerungen waren etwas Gefährliches. Sie bauten Steine, die in deinem Innersten festsaßen. Es war gleichgültig, wie alt man war, ob hundert oder sechs Jahre. Dein Geist erinnerte sich an alles. Vergaß nichts, ließ dich nichts vergessen.

Yvette schluckte. Diese dumme Erinnerung schon wieder. Diese Bilder. Die Fäuste, die wie in Zeitlupe näher zu kommen schienen. Näher und immer näher, bis sie plötzlich verschwunden waren. Aufgelöst wie durch einen Zaubertrick, und dafür kam der Schmerz. Dieses Gefühl, als wäre alles kaputt. Kein Knochen mehr da, wo er hingehörte. Als wäre ihr Körper nur noch ein Sack, in dem die Knochen lose herumflogen. Man war so hilflos. So machtlos. Konnte nicht kämpfen, konnte sich nur ducken, sich verstecken.

Wie oft hatte Lucille ihn weggezerrt. Weggezerrt, ihn gebissen und weggestoßen von ihr. Immer und immer wieder. Yvette würgte. So oft hatte Lucille ihr zu helfen versucht, und was hatte sie getan? Sie hatte sich nur geduckt. Hatte es nie geschafft, etwas gegen ihn zu tun. Gegen ihn. Den Regisseur. Den Mann, der einst ihr Papa gewesen war. Der nun nicht mehr ihr Papa war. Nicht mehr. Nie mehr. Denn er war tot. Tot und begraben. Weit weg. Und doch hatte Yvette an jenem Abend geglaubt, er sei wieder da. Auferstanden aus seinem Grab wie ein Untoter, um sie zu suchen. Zu finden und wieder zu quälen. Der Mann mit dem dunklen Haar, dem dünnen Bart – wie eine Schnur –, die riesigen Hände wie Klauen verkrümmt um Lucille. Er hatte sie so fest gepackt, so fest, als wollte er sie in der Mitte durchbrechen. Es war die Panik gewesen. Die schrille, kreischende Panik. Er durfte Lucille nichts tun, sie nicht kaputt machen und mitnehmen. Es hatte so gutgetan, ihn zu beißen. Mit all ihrer Kraft hatte sie ihre Zähne in seine Hand gegraben. Mit all ihrer Kraft, bis er losgelassen hatte. Seine Hände von Lucille genommen und sie weggestoßen hatte. Da hatte sie auch sein Gesicht gesehen. Ein hässliches, triefäugiges Gesicht. Er war es nicht gewesen. Nicht der Regisseur. Nur irgendein Mann. Irgendeiner. Aber nicht er.

Ein Klirren von unten ließ Yvette zusammenfahren. Mit einem Ruck straffte sie die Schultern. Schluss. Daran wollte sie jetzt nicht denken. Nicht jetzt, nicht heute. Nicht nach einem so schönen Tag. Langsam öffnete sie die Tür und trat in das dunkle, von Staub und verwelkten Rosen stickige Zimmer. Lucille hatte sie an jenem Abend nicht ausgeschimpft. Sie hatte sie an sich gedrückt. Ganz fest. Ganz fest. Hatte sie in die Arme genommen, als verstünde sie nur zu genau Yvettes Gedanken. Und während sie das strähnige Haar ihrer Tochter gestreichelt hatte, hatte Yvette versprechen müssen, nie wieder nach unten zu kommen. Nie wieder in die Nähe des Tanzsaals, in die Nähe der Männer. Ganz leise hatte sie künftig sein wollen, leise wie ein Mäuschen.

»Warum tust du das?«, hatte Yvette gefragt und sich dabei noch fester an Lucille geschmiegt.

Lucille hatte lange geschwiegen. Dann hatte sie aufgeseufzt. »Weil wir etwas essen müssen. Weil wir ein Bett zum Schlafen brauchen. Weil wir überleben müssen.«

Sie waren eingeschlafen. Eng aneinandergeschmiegt. Die Wärme und Nähe der anderen spürend, den Geruch der anderen einatmend. In dieser Nacht waren sie nicht allein gewesen, und das hatte sich als sehr tröstlich erwiesen.

Seit dieser einen Nacht hatte Yvette nie wieder am Abend den Tanzsaal betreten.

Seufzend ließ sie sich auf das ungemachte Bett sinken und drückte Madame Antoinette an sich.

 

Am nächsten Morgen saßen sie gemeinsam beim Frühstück – Haferbrei mit Milch und etwas Brot. Lucille schlürfte schwarzen Kaffee und zerkrümelte ihr Brot mit den Fingern. Als Yvette ihr von dem gestrigen Erlebnis mit Monsieur Mounk erzählte, blickte sie neugierig und verwirrt auf.

»Monsieur Mounk?«, fragte sie. »Wer ist das?«

»Der Mann, der immer durchs Dorf geht und mit keinem redet«, sagte Yvette, während sie einen großen Bissen von ihrem Brot nahm.

Lucille schien immer noch völlig verwirrt, und als Yvette nach dem Frühstück mit Madame Antoinette zum Spielen nach draußen gelaufen war, ging sie zu Madame Odette.

Die Dame des Hauses saß, in einen billigen chinesischen Morgenmantel gekleidet, die Beine wie ein kleines Kind baumelnd, auf dem Rand der Bühne. Zwischen ihren Fingern qualmte bereits die erste Zigarette, die in einer elfenbeinfarbenen Zigarettenspitze steckte. Ihr strähniges Haar, das an manchen Stellen bereits grau war, hing ihr schlaff und ungekämmt auf die Schultern. Die Augen waren müde, und die Falten um ihren Mund schienen mit jedem Tag tiefer zu werden.

Lucille näherte sich ihr vorsichtig. »Madame Odette?«, fragte sie zögernd. »Wer ist Monsieur Mounk?«

Madame Odette hob ihre Augen und musterte Lucille, die in ihrem roten Kleid und den nackten Füßen jung und hübsch aussah. Sie seufzte unzufrieden. Warum war das Leben nur so ungerecht und ließ die Frauen so schnell altern? Sie wollte Lucille gerade mit einer müden Handbewegung wegwinken, als Lucilles Frage sie auffahren ließ.

»Wiederhol das!«, forderte sie Lucille auf.

»Wer ist Monsieur Mounk?«

Madame Odette lehnte sich zurück und blies versonnen eine Rauchwolke an die Decke. »Warum willst du das wissen?« Ihre Stimme klang müde. Erinnerungen kamen in ihr hoch. Erinnerungen an eine Zeit, als sie noch jung und voller Hoffnung gewesen war.

»Er hat mit Yvette gesprochen.«

Madame Odette glaubte, sich verhört zu haben. »Er hat mit Yvette gesprochen?« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Das ist unmöglich. Er spricht mit keinem.«

»Yvette lügt nicht«, fuhr Lucille auf.

Madame Odette überhörte den Einwurf. Immer noch konnte sie das eben Vernommene nicht fassen. Monsieur Mounk?! Der ewig stumme Schatten, der durch die Stadt wanderte, vor dem die Kinder schreiend davonliefen und der noch nie hier gewesen war. Sie fasste Lucille, die mit gerunzelter Stirn dastand, scharf ins Auge. »Was haben sie miteinander gesprochen?«

Lucille zuckte mit den knochigen Schultern. »Er wollte wissen, warum Madame Antoinette Schwarz trägt.«

Einen Augenblick lang wurde Madame Odettes Blick leer. Ihre Stirn legte sich in nachdenkliche Falten, als sie darüber grübelte, von welcher Madame Antoinette Lucille da redete. Die plötzliche Erkenntnis ließ ihre müden Augen für einen Augenblick aufleuchten, dann lachte sie unfreundlich. »Na, dann haben sich ja zwei gefunden.«

Mit diesen Worten schloss sie die Augen und ließ den Kopf nach hinten sinken. Ein deutliches Zeichen, dass die Audienz für sie beendet war.

Wütend verließ Lucille den Raum. Das Gespräch mit Madame Odette hatte sie nicht weitergebracht. Im Gegenteil, jetzt waren nur noch mehr Fragen offen. Die anderen Frauen des Hauses konnten ihr auch nicht helfen.

»Der spinnt doch.«

»Hier war er noch nie.«

»Ich weiß nichts.«

Dies waren die einzigen Antworten, die sie bekommen hatte. Langsam stieg die Ungeduld in ihr hoch. Die ganze Geschichte schien ihr nicht geheuer, und so beschloss sie, der Sache selbst auf den Grund zu gehen.

Von der Garderobe nahm sie ihren grauen Mantel, der das Rot ihres Kleides vollständig bedeckte. Der kleine schwarze Hut und die geputzten Schuhe gaben ihr ein ordentliches Aussehen. Die Tür des Hauses fiel krachend hinter ihr ins Schloss, als sie sich auf die Suche nach Yvette machte. Das helle Licht der Sonne blendende Lucille, sodass sie einen Moment stehen blieb und die Augen mit der Hand beschattete. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte, da sie Yvette nie gefragt hatte, wo sie zum Spielen hinging. Und Yvette hatte nie etwas erzählt.

So lief Lucille also kreuz und quer durch die Stadt. Sah in verlassene Hinterhöfe und Keller, schritt über die Wiese hinter der Kirche und lief schließlich über den überfüllten Marktplatz, wo die Bauern aus der Umgebung ihre Waren anpriesen. Frischer Käse, Milch, Eier, Karotten, Kohl, Äpfel – alles, was das Herz erfreute, lag dort auf Brettern oder in mit Stroh gepolsterten Weidenkörben.

Lucille blieb einen Augenblick stehen und sah sich um, ob sie irgendwo die schüchterne Gestalt Yvettes entdeckte, die an den Äpfeln roch oder die bunte Vielfalt an Genüssen betrachtete. Doch sie konnte sie nirgends erblicken. Lucille seufzte. Yvette zu finden, bevor diese am Abend nach Hause kam, schien so gut wie unmöglich zu sein.

»Hey, Lucille …«

Die freundliche Stimme hinter ihr ließ sie herumfahren. Monsieur Grenoble stand hinter einem der Stände, der zum Bersten voll mit Kartoffeln und Birnen beladen war. Das so selten zu sehende Lächeln erschien auf Lucilles Gesicht. Wie alle Frauen des Roten Hauses mochte sie Monsieur Grenoble, der lustig und vergnügt war und beim Tanz stets eine fröhliche, gänzlich den Takt missachtende Melodie vor sich hin pfiff.

»Wie geht’s?«

»Danke, danke, gut.« Geräuschvoll zog Monsieur Grenoble die Nase hoch: » Ich hab’s im Rücken, muss wohl mal wieder ein bisschen Bewegung in die alten Knochen kriegen.« Verschmitzt grinste er Lucille zu, die lächelnd die Augen senkte. »Womit kann ich dir denn eine Freude machen, mein liebes Mädchen?«, fragte er nun und deutete auf die prachtvolle Auswahl auf seinem Tisch. »Eine zuckersüße Birne, die den ganzen Winter über in meinem Keller gereift ist?«

Lächelnd schüttelte sie den Kopf.

»Sieh sie dir nur an: dieser zarte rosa Hauch auf der grünen Fläche. Wie sie glänzt und wie sie duftet.« Genießerisch hob er die Birne an seine große rote Nase. »Hach, ein wunderbarer Geruch. Oder hier …« Er legte die Birne zur Seite. »Feinste Kartoffeln, groß und fest. Wunderbarer Kartoffelbrei wartet nur darauf, aus ihnen gemacht zu werden.«

Lucille wehrte lachend ab: »Nein danke. Aber du könntest mir mit etwas anderem helfen.«

Monsieur Grenoble war sofort ganz Ohr.

»Ich bräuchte ein paar Auskünfte über Monsieur Mounk.«

»Monsieur Mounk?« Die buschigen Augenbrauen von Monsieur Grenoble schossen nur so in die Höhe.

»Was willst du denn von dem Nachtgespenst?«

Lucille lächelte verhalten. »Nur ein paar Auskünfte, mehr nicht.«

Monsieur Grenoble grinste breit, sodass sich sein Gesicht in tausend Fältchen legte: »Ach, ihr Frauen, ihr wollt immer das, was ihr nicht bekommen könnt. Aber gut, ich fürchte nur, dass ich dir auch nicht viel mehr sagen kann als die anderen.«

»Die sagen ja überhaupt nichts«, unterbrach ihn Lucille vorwurfsvoll.

»Also gelebt hat der schon immer hier in der Stadt, seine Mutter ist ganz früh gestorben. Die Treppe hinuntergefallen oder gestoßen worden … oder so was.«

»Gestoßen worden?« Lucille war fassungslos.

»Na, alles war damals ein bisschen verschwommen. Warum sollte jemand, der kerngesund ist, einfach so ’ne Treppe runterfallen? Noch dazu wenn er so jung, gesund und na ja … steinreich war. Sein Vater war danach jedenfalls völlig aus dem Häuschen gewesen. Der war Advokat oder so. Wurde dann aus der Kanzlei rausgeworfen und in so ein Irrenheim gesteckt.«

»Warum denn das?« Lucille glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen.

»Na ja, hat offenbar die Rechte eines Stuhls oder so verteidigen wollen. Jedenfalls war er nicht ganz sauber.« Monsieur Grenoble tippte sich bedeutungsvoll an die Stirn. »Manche haben dann behauptet, dass er seine Frau geschubst hat, um an ihr Geld zu kommen, und dann über seiner Schuld wahnsinnig geworden ist. Na ja … Ich hab’s nie so richtig geglaubt. Wenn man die beiden gesehen hat.« Er pfiff bei der Erinnerung anerkennend. »Die waren so richtig am Turteln. Nicht nur nach der Hochzeit, auch, als sie ihr Kind schon hatten. Wie zwei frisch Verliebte sind sie immer Arm in Arm entlanggelaufen.« Seine Augen funkelten bei der Erinnerung. »Jedenfalls … nachdem sein Vater im Irrenheim war, hat irgendein Onkel von Mounk sich dann um ihn gekümmert, ihn auf ein teures Internat und auf Universitäten geschickt. Hatte wohl keine Kinder und ihm dann bei seinem Tod auch noch seinen eigenen Batzen an Geld hinterlassen. Eines Tages kam er dann allein zurück, und seitdem wohnt er halt hier.«

»Und was macht er so? Ich meine, was arbeitet er?«

Monsieur Grenoble zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ich glaub, der sitzt den ganzen Tag nur zu Hause. Manchmal läuft er durch die Stadt, aber reden tut er mit keinem.«

Lucille schnaubte. Das waren ja Neuigkeiten.

»Willst ihn wohl zum Sprechen bringen, was? Wenn du das schaffst, kannst du direkt mit ihm im Zirkus auftreten«, scherzte Monsieur Grenoble, doch Lucille war zu zerstreut, um auf den scherzenden Ton einzugehen. Die Gedanken schwirrten nur so durch ihren Kopf.

In diesem Moment trat die Bürgermeisterin an den Stand heran und warf einen abwertenden Blick auf Lucille, ehe sie lautstark nach Kartoffeln und Birnen verlangte.

Und noch ehe Lucille protestieren konnte, hatte Monsieur Grenoble ihr zwei der süß duftenden Birnen in die Hand gedrückt, bevor er sich mit einem höflichen Lächeln der Bürgermeisterin zuwandte.

Langsam schlenderte Lucille zum Roten Haus zurück. Die Gedanken flogen wild durch ihren Kopf.

 

Auch als die ersten Töne des Klaviers erklangen, während sich verschwitzte Hände um ihre Taille legten und Alicias spitze Ellenbogen ihr in die Rippen stießen, schwirrten ihre Gedanken noch immer um das, was sie am Nachmittag erfahren hatte. Worauf hatte Yvette sich da eingelassen? Was war dieser Monsieur Mounk nur für ein Mensch?

Als sie die Haustür hörte, entwand sie sich geschwind den mächtigen Armen ihres Tanzpartners und eilte die Treppe nach oben in ihr Zimmer. Yvette, die nur wenige Sekunden zuvor das gemeinsame Zimmer betreten hatte, drehte sich erschrocken um. Lächelnd musterte Lucille ihre Tochter. Die Sonne hatte ihre Nase rot werden lassen, und das Haar war vom schnellen Laufen noch verstrubbelter als sonst. Madame Antoinette hingegen war ordentlich und gepflegt wie immer.

»Oh, Birnen, darf ich?«

Yvette hatte sich aufs Bett geworfen und griff, als Lucille lächelnd nickte, freudig nach einer der Birnen, die auf dem hölzernen Nachtkästchen lagen.

Die Frucht knackte zwischen ihren Zähnen, und der süße Saft lief ihr übers Kinn. Lucille setzte sich neben ihre Tochter und löste vorsichtig die Bänder, die Yvettes dünne Zöpfe mehr schlecht als recht zusammengehalten hatten.

»Wie war dein Tag?«

»Gut.«

»Was Besonderes geschehen?«

»Nö, nichts.«

»Hat jemand mit dir gesprochen?«

Yvette blickte verwundert auf: »Natürlich.«

Lucille zwang sich, ruhig zu bleiben: »Wer denn?«

Yvette hob den Kopf und blickte nachdenklich zur Decke: »Marie, Madame Antoinette, Clodette …«

»Ich meine«, unterbrach Lucille ungeduldig die Aufzählung ihrer Tochter, »ob jemand Fremdes mit dir gesprochen hat?«

»Nein.«

Erleichtert ließ Lucille sich zurücksinken und drückte Yvette fest an sich. Yvette schmiegte ihren Kopf in die weiche Kuhle unter der Schulter ihrer Mutter und wunderte sich, warum die Erwachsenen immer so seltsame Fragen stellten. Als ob es in dieser Stadt Fremde geben würde.

 

Am nächsten Tag ermahnte Lucille Yvette ausdrücklich, mit keinem Fremden zu sprechen und immer in der Nähe des Roten Hauses zu bleiben.

Yvette wunderte sich über die plötzliche Besorgnis, willigte aber schnell ein. Die Sonne schien wieder kräftig vom Himmel, und sie wollte so schnell wie möglich aus dem Roten Haus verschwinden, ehe Madame Odette bemerkte, dass sie beim Frühstück das neue Tischtuch mit ihrer Frühstücksmilch beschmutzt hatte.

So lief sie also, die Ermahnungen hinter sich lassend, aus dem Haus. Eilig bog sie in die verschiedenen Straßen ein, darauf bedacht, so schnell es ging aus der Sichtweite ihrer Mutter zu kommen. Und falls ihr doch jemand folgte, Madame Odette oder die gemeine Alicia, so würde sie diese bestimmt abschütteln, wenn sie nur schnell genug um so viele Ecken wie möglich bog.

Bald ging Yvette die Puste aus. Ihr Herz schlug schnell. Sie war nun am Stadtrand angekommen. Nach links hin lagen nur noch die kahlen Maisfelder, nach rechts die große Festwiese und dahinter der Wald.

»Wollen wir heute in den Wald gehen?«, fragte sie Madame Antoinette. Doch diese verneinte. »Oder möchtest du zum Krämer und schauen, ob es wieder neue Bonbons gibt?« Doch auch dies verneinte Madame Antoinette. »Dann lass uns mal ans andere Ende gehen, drüben wo die Bäume anfangen, da steht noch ein Haus«, flüsterte sie leise.

»Das mit den Blumen auf den Fensterläden?«, fragte Madame Antoinette.

Yvette war sich nun sicher und murmelte: »Gut, wir besuchen das Haus mit den Blumen, da waren wir noch nie.«

Fest drückte sie Madame Antoinette an sich, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Eigentlich war es gar nicht weit, nur über die Wiese und hinter die erste Biegung des Waldes. Natürlich konnte man auch die Straße entlanglaufen, aber da kam dann vielleicht Tinette vorbei, die Besorgungen gemacht hatte, und der begegnete man lieber nicht. Außerdem war die Wiese eh viel schöner. Vereinzelt hatte schon das Gras zu sprießen begonnen, und viele Schneeglöckchen schoben ihre Köpfe aus der Erde und hielten sie der Sonne entgegen.

Bestimmt blühen jetzt alle, weil sie die Sonne sehen wollen, dachte Yvette, während sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, um keines der Blümchen versehentlich zu zertreten.

»Im Sommer können wir dann wieder den Honig aus den Glockenblumen trinken«, flüsterte sie Madame Antoinette zu. Diese nickte erfreut. Naschen, das taten sie nämlich beide gern. Unter den Bäumen wurde es merklich kühler. Die Tannen schienen die Sonne zu verdecken. Ein letztes Aufbäumen des Winters gegen den fröhlichen Einzug des Frühlings.

Yvette beschleunigte ihren Schritt und beeilte sich, wieder in die Sonne zu kommen. Ihre Jacke war dünn und das Kleid ein wenig zu kurz, sodass man entweder schnell laufen oder direkt in der Sonne bleiben musste.

Schließlich erreichte Yvette die letzten Bäume, und da war es. Wie im Märchen stand dort auf einer einsamen Lichtung das Blumenhaus zwischen einigen großen Bäumen, die es wie Brüder zu bewachen schienen. Die Äste reichten hoch hinauf und boten ihre zarten grünen Knospen dem Himmel dar. Vorsichtig schlich Yvette näher, Madame Antoinette fest an sich gedrückt.

Um das Haus war ein Zaun aus altem blauem Holz gezogen. Neugierig trat Yvette näher. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um hinübersehen zu können. Das Haus erschien von ihrem Beobachtungsposten aus riesig. Viel größer als das Rote Haus, und die Fensterläden waren offen – nicht wie im Roten Haus, wo sie immer geschlossen waren und jedes noch so kleine Fünkchen Licht ausgesperrt wurde. Neugierig ließ sie den Blick weiterschweifen, über das Dach rutschen, den Schornstein hinaufsteigen und auf der anderen Seite die Bäume hinunterklettern. Und da! Fast hätte sie sie nicht gesehen. Ihr Herz machte einen kleinen, aufgeregten Hüpfer.

Unter einem der Bäume saß eine Gestalt in einen langen schwarzen Mantel gehüllt und schien etwas zu schreiben. Neugierig zog Yvette sich noch weiter am Zaun hoch, um besser sehen zu können. Lediglich ihre Zehenspitzen berührten noch den feuchten Boden. Fast wie eine Ballerina, die auf einer Spitze tanzte. Das war schwierig mit nur einer Hand, da sie schließlich mit der anderen Madame Antoinette halten musste. Diese sollte ja schließlich auch etwas sehen.

»Glaubst du, das ist Monsieur Mounk?«